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Der erste Tag: Es war der 02.06.1941 in Ostpreussen/ Ebenrode/ Stallupönen/ Nesterow

In der Marienburg Foto: H.J.

16.04.2024 - von Hartmut Jeromin

Es war der 02.06.1941 in Ostpreussen/ Ebenrode/ Stallupönen/ Nesterow. Habe ich schriftlich im Geburtsschein! Die Urkunde wurde am 04.06. des Jahres 1941 ausgefertigt. Weitere Namen stehen nicht auf dem Blatt. Nur noch Gebührenmarken und zwei Stempel ... Das war`s, so kam ich in die Welt. Es war die Geburtsregisternummer 95 des Jahres 1941 in Ebenrode.

Ich kam ohne alles auf die Welt, ohne jeglichen Besitz. Und das ist bis heute so geblieben und wird auch so weiterhin sein. Weil: Wir hatten nichts und die nächsten Jahrzehnte kam nichts Wesentliches hinzu.
Obwohl, der Vater und sein Schwiegervater sollen sich um den Spross sehr gekümmert haben, sie schenkten Spielzeug und spielten dann selbst damit. Die Eltern und weitere Verwandte waren in ihre Zeit voll integriert. Also war der Großvater in der SA, so sagt es ein Foto vor dem Tannenbergdenkmal. Und der Vater in der NSDAP. Die Mutter kassierte „nur“ die Frauenschaftsbeiträge …

Vater Franz war uniformiert in RAD-Kluft, nur wenige Fotos gibt es da. Und es gab schon eine etwas ältere Schwester, Gudrun. Nun eben den Hartmut dazu. Im Jahr drauf noch die Ingrid. Schöne „deutsche“ Namen. Wir wohnten in etwas Provisorischem, Baracken-ähnlichem, wenn ich das Foto richtig deute, und ich vermute, das war eine „Dienstwohnung“. Irgendwie an einer Ausfallstrasse. Und Pflichtjahrmädels sollen da auch gewesen sein.

Die ersten Photos zeigen noch glückliche Kinder, gut versorgt und betreut. Erinnerungen setzen erst allmählich ein: Wir Kinder stehen am Zaun nach der Strasse und sehen marschierenden Soldaten zu, die winken uns. Und die Urkunde gibt noch her: „Wurde getauft am 12. Sept. 1943 in der evangelischen Kirche zu Ebenrode/Ostpr. Paten Else G., Anni H., Edith G. Kommt also noch religiöses hinzu. Das weitere dann wieder wie im Nebel.

Wir sind unterwegs, werden irgendwo versorgt, beherbergt. Ich spiele in leeren Betonsilos. Einmal dürfen wir einen „Fiseler-Storch“ besichtigen. Erst am Ende kommen wir irgendwo an, die Mutter will da nicht bleiben verfrachtet uns auf ein grünes Militärauto der Russen und wir fahren in die nächstgelegene Stadt Güstrow, dort erhalten wir gleich am Stadteingang eine Dachwohnung in einem Siedlungshaus, im Nachbarhaus lebt nun eine russische Familie, zu der wir aber keinen richtigen Kontakt herstellen. Dafür kommt plötzlich der Vater die Treppe hoch. Und Teile der Familie finden sich ebenfalls in dieser Kleinstadt ein.

Halt, Stopp, nicht zu eilig, es liegt ja noch so einiges im „Busche“! Bei F`s (Führer`s) wird so um den 20.05.1941 besprochen und im `Kriegstagebuch` des Generalstabs des Heeres festgehalten. Es wird da gesprochen und geschrieben über Kreta, Tobruk, Euphratfront, Paris …, ab dem 26.05. über Griechenland, Finnland, Norwegen, Schweden, USA.
Transporte, Verlegungen nach Osten wegen „Barbarossa“ … Probleme bei der Treibstofflage dafür u.a. im rumänischen Ölgebiet, und ab dem 31.05. Vorbereitungen für ein Treffen mit dem `F`. Der 02.06.41 wird ausgelassen, da werde ja ich in all diesem Wirrwarr geboren.

Aber sofort am 03.06.: Englische Einflüge bis Berlin mit Brand- und Sprengbomben, aber das ist ja noch weithin bis Ebenrode, also keine Gefahr? Eine Karte des Aufmarschgebietes zeigt die Heeresgruppe Mitte … direkt in meiner nächsten Umgebung sehr dicht beieinander aber nicht sichtbar, obwohl diese Karte in Russisch verfasst ist, also eine Aufklärungsarbeit. Die Russen wussten Bescheid darüber was kommt! Am 22.06.1941 der Beginn von „B“ (Barbarossa).

Da soll ich also nun rein wachsen? Ich habe keine Wahl! Mitmachen kann ich noch nicht! Also handeln auch für mich die beteiligten Erwachsenen.

Aber zunächst werden in Berlin 700 Personen verhaftet und im Reich nochmals 700 Personen, russische Staatsangehörige und deutsche Kommunisten. Dafür gab es also schon Listen …

Am 24.06. wird über Transporthöchstleistungen berichtet und über Treibstoffeinsparungen. Der Führer ordnet an: „Angebote fremder Staaten, an diesen Kreuzzügen teilzunehmen, sollen mit Begeisterung aufgenommen werden“. Kommt mir heute irgendwie … weiter will ich das nicht denken, Selbstzensur!

Also Transporthöchstleistungen: Siegfrieds Onkel erfährt die Führerbotschaft in der Kaserne übers Radio: Die 160. Russische Division stünde an der Grenze angriffsbereit deshalb ist die deutsche Wehrmacht zum Kampf um die Kultur der ganzen Welt angetreten. Mit 145 Divisionen und 20 Tagesrationen Verpflegung, danach sollte sich im Feindgebiet versorgt werden. Der Onkel also ½ 3 Uhr abmarschbereit, wohin? 18 Uhr 30 Abfahrt mit langem Güterzug über Köln (23.06.), Mülheim, Gelsenkirchen, Bochum, Dortmund, Bielefeld, Minden, Hannover, Lehrte, Gardelegen, Stendal, Rathenow, Berlin (nachts 12°° Uhr), Landsberg, (24.06.) Schneidemühl; Bromberg, Thorn, Kutnow. Ausladung am 25.06., 200 km hinter Warschau im Wald, Biwak, Baden im Bug … 19°° Uhr Vormarsch. Soweit Siegfrieds Onkel per Steno-Kurzschrift eigenhändig notiert und überliefert!

So also war die Umwelt in welcher ich aufwachsen sollte, etwas anderes gab es da gerade nicht für mich. Es kamen Jahre mit relativer Sicherheit. Aber ab 1944 im Sommer … gingen wir auf „Wanderschaft“. Und erst im Jahre 2023 konnte ich mich aufraffen, da wieder hin zu fahren. (s. Reise in die Vergangenheit der Gegenwart).

Ich bin immer noch nicht „begütert“, alles war für die Katz, kein „Lebensraum im Osten“, wie die Ahnen vielleicht hofften. Aber Krieg ist wieder und es geht immer noch um die Werte: Land, Boden Besitz, Rohstoff, Arbeitskraft, Gewinne und Macht! Kann ich daran irgendwie was ändern? Muss ich die Fragen, die gewählt wurden und nun alles wieder auf diese Schiene schoben … hätten sie anders gewollt oder gekonnt?
Darüber grübelt Hartmut Jeromin immer noch! Denn wir stehen eigentlich genau wieder da, wo wir schon einmal waren und ich darf zusehen. Spaß macht das aber nicht!
Hartmut Jeromin im April 2024

Quelle: Archiv Hartmut Jeromin