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Osteuropa: private Rentenversicherung verstaatlicht

Bulgarien - 06.12.2010 - von EUROACTIV

Da Ungarn und Bulgarien zu Hause auf Grund des Budgets unter Druck stehen, haben sie ihre vor-finanzierten Rentenversicherungen verstaatlicht, um die Kosten der Rentenreform aus den Staatsschulden auszuschließen. Dies hat zu einem Streit mit der Europäischen Kommission geführt. Das EurActiv-Netzwerk berichtet:

Polen, Bulgarien, die tschechische Republik, Ungarn, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Schweden haben darum gebeten, dass die Kosten der Rentenreformprogramme aus den Zahlen der Staatsverschuldung und des Defizits ausgeschlossen werden. Ihnen ist es jedoch nicht gelungen, eine Mehrheit für eine längere Anpassungsphase zu finden.

Der rumänische Präsident, Traian Basescu, sagte, dass vor dem Gipfel am 16.-17. Dezember „mehr Argumente“ geliefert werden würden. Während des Gipfels soll der überarbeiteten Wirtschaftsregierung der EU, die Sanktionen für Länder, die die Haushaltsbestimmungen nicht einhalten, beinhaltet, zugestimmt werden. Der polnische Premierminister, Donald Tusk, sagte auch, dass sie davon ausgingen, es würde „viele Debatten und Herausforderungen“ geben. Er empfahl aber, dass sich die Debatte fortsetzen solle.

Im November beschlossen Ungarn und Bulgarien sehr ähnliche Politiken, die die Kommission überraschten. Diese versucht eine EU-weite Lösung für die Rentenreformen nach den neuen Budgetregeln der EU zu finden. Beide Länder entschieden, ihre vorfinanzierten Rentenversicherungen zu verstaatlichen. Damit reduzierten sie auf künstliche Weise das Defizit und die Staatsschulden den Maastrichtkriterien zufolge. Sie seien besorgt über die jüngsten Ankündigungen der ungarischen Behörden bezüglich des Rentensystems, sagte Amadeu Altafaj Tardio, Sprecher des Wirtschafts- und Währungskommissars, Olli Rehn.

Tardio sagte EurActiv, die Kommission sei besorgt, dass der Reichtum, der in den Rentenfonds angesammelt wurde, genutzt werde, um laufende Ausgaben zu finanzieren und künstlich die Staatsschulden und das Defizit kurzfristig zu reduzieren. Damit brächten sie jedoch die langfristige Tragbarkeit der Staatsfinanzen in Gefahr (siehe Positionen unten).

Bei einem Treffen im Oktober beschlossen die EU-Spitzenpolitiker, die Kosten der Rentenreformprogramme aus den öffentlichen Schulden und Defiziten auszuklammern. Bei dem zweitägigen Treffen forderte eine Gruppe von neun EU-Mitgliedsstaaten aus dem ehemaligen kommunistischen Block, die Kosten der Reform ihrer teuren Rentensysteme aus den EU-Haushaltsbestimmungen auszuklammern. Die Beschlüsse des Treffens aber baten den EU-Ministerrat lediglich, die Arbeit darüber zu beschleunigen, wie die Rentenreformen in den überarbeiteten Stabilitäts- und Wachstumspakt integriert werden können.

Neuer Schwung in der Debatte
Die überraschende Entscheidung Ungarns und Polens – sowie der Antrag des polnischen Premierministers, Donald Tusk, dass die Polen ihre Beiträge von privaten Fonds auf das nationale Sozialversicherungsinstitut übertragen dürfen – wird die europäische Rentendebatte in neuen Schwung versetzen. Der europäische Wirtschafts- und Währungskommissar, Olli Rehn, habe bereits eine sehr „unangenehme“ Unterhaltung mit seinem ungarischen Amtskollegen gehabt, wie EurActiv in Erfahrung brachte.

Was Bulgarien betrifft, untersucht die Kommission bereits getroffene Entscheidungen, die auf den ersten Blick weniger radikal erscheinen als die in Ungarn.

Die Frage, ob man die Kosten der Rentenreform aus den Haushaltsdefizitregeln ausschließen soll, wird wahrscheinlich auch von den Staats- und Regierungschefs diskutiert werden, wenn sie sich am 16. und 17. Dezember im 50. Stock des „Justus Lipsius“-Gebäudes in Brüssel für den Europäischen Rat treffen.

Budapest und Sofia erfolgreich, wo Bratislava scheiterte
In der Tat haben Budapest und Sofia Erfolg gehabt, wo Bratislava zuvor gescheitert war. Die ehemalige slowakische Regierung unter Robert Fico begann, die Bürger zurück in ein auf dem Umlageverfahren („Pay as you go“-System) basierendes staatliches Rentensystem zu locken, unter der Bedingung, dass sie ihre persönlichen privaten Ersparnisse aufgeben. Doch nachdem das Angebot zweimal erhöht wurde, lehnte es die Mehrheit der slowakischen Arbeitnehmer ab, der Regierung ihr persönliches Sparschwein zu überreichen.

In Bulgarien, wo die dringlichste demographische Situation der EU herrscht, da eine Mehrheit der Wähler nun in Rente gegangen ist, erfand die Regierung Politiken, die die Rentenversicherungsindustrie dazu zwangen, eine Verstaatlichung zu fordern, da sie unter den Bedingungen der Regierung nicht ihre fälligen Zahlungen leisten konnten.

Zusätzlich hat den Presseberichten zufolge die bulgarische Öffentlichkeit nie die Tragweite einer Entscheidung erkannt, die das Parlament des Landes am 19. November mit den Stimmen der regierenden „GERB“-Partei (Bürger für die europäische Entwicklung Bulgariens) und der nationalistischen Ataka-Partei traf. Der Großteil der Debatte konzentrierte sich auf das Rentenalter, während die Privatisierung der Rentenfonds der zweiten Ebene nicht bemerkt wurde.

Die ungarische Regierung, die über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügt, gab den Bürgern die Wahl. Alle müssen entscheiden, auf welchen Teil der Rente sie verzichten wollen: Diejenigen, die ihre vorfinanzierten Konten behalten wollen, wären in der Zukunft nicht mehr zu partiellen „Pay as you go“-Systemen berechtigt. Diejenigen, die ihr Anrecht auf eine Rente der ersten Ebene behalten wollen, müssen „freiwillig“ ihre Ersparnisse der Regierung übertragen, um ihren Anteil im „Pay as you go“-System zu behalten.

In der Tat, obwohl Rentenfondsersparnisse Privateigentum sind, hat die ungarische Regierung jeglichen verfassungsrechtlichen Mitteln vorgegriffen, indem sie die Verfassung nur wenige Tage vor Ankündigung des Plans abänderte. Damit wurde die Möglichkeit jeder gerichtlichen Prüfung solcher „Budgetfragen“ vermieden.

Als die osteuropäischen Länder der EU 2004 und 2007 beitraten, wurde ein vorläufiger Kompromiss unter den Mitgliedsstaaten erreicht. Es wurde ein Auge zugedrückt bei den voraussehbaren Defiziten in den staatlichen Renten und dieselben Defizitkriterien wurden mit einer „Anpassung“ für Mitgliedsstaaten angewandt, die bereits bedeutsame vorfinanzierte Ersparnisse hatten, um mit dem demographischen Problem umzugehen.

Die unantastbaren Maastrichtkriterien wurden aufrechterhalten, mit einer anderen Rechnungsart für fünf Jahre. Das Ablaufdatum verstrich zum schlechtestmöglichen Zeitpunkt, als 2009-2010 alle Mitgliedsstaaten zu hohe Defizite anhäuften und es niemand wagte, die Frage der Rentendefizite anzurühren oder die Kriterien zu ändern, die die psychologische Grundlage der Eurowährung darstellen.

Positions
Sie seien über die jüngste Ankündigung der ungarischen Behörden bezüglich des Rentensystems besorgt, sagte Amadeu Altafaj Tardio, Sprecher des Wirtschafts- und Währungskommissars,Olli Rehn. Bulgarien betreffend fügte er hinzu, der Kommission fehlten noch Elemente, um zu einer Stellungnahme zu kommen. In Ungarn scheine man die Absicht zu haben, die zwingende Säule der privaten Rente komplett abzuschaffen. Obwohl Rentensysteme in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten seien, habe man eine Reihe an besonderen Sorgen, so Altafaj Tardio.

Eine wichtige Frage sei die der langfristigen Tragbarkeit. In dieser Hinsicht seien sie besorgt, wenn der Reichtum, der in den Rentenfonds angesammelt worden sei, genutzt werde, um laufende Ausgaben zu finanzieren, wie es die dem vorläufigen Budget für 2011 zu Grunde liegende Annahme zu sein scheine.

Eine weitere Sorge sei die Art, wie diese Wende durchgeführt werde. Insbesondere scheine es, die Wahl, entweder in der zweiten Säule zu verbleiben, oder in die erste zurückzukehren, sei nicht so frei, wie es anfänglich zu sein schien. Erstens würden die Empfänger automatisch an den Staat zurückverwiesen werden, wenn sie nicht bis Januar anders entscheiden. Zweitens würden die, die in der zweiten Säule blieben, ihr Anrecht auf eine staatliche Rente verlieren, obwohl die Beiträge der Arbeitgeber weiterhin an das Budget gehen würden.

Private Rentenfonds spielten auch eine wichtige Rolle dabei, die heimischen Märkte zu vertiefen. Diese Rolle könnten sie nicht länger erfüllen, wenn ihre Rentabilität untergraben werde.

Derzeit erwäge die tschechische Regierung die Reform des Rentensystems des Landes, berichtet EurActiv Tschechische Republik. Am 30. November legte der Minister für Beschäftigung und Soziales, Jaromír Drábek, einen Entwurf vor, der innerhalb der Regierung sowie mit den Oppositionsparteien und anderen Beteiligten in den kommenden Wochen und Monaten besprochen werden wird.

Der Minister sagte, dass die derzeitige Säule des Umlageverfahrens durch eine private Säule mit höchstens fünf staatlich zugelassenen Rentenfonds von 2013 an ergänzt werden solle. Im Augenblick trügen tschechische Arbeitnehmer 28 Prozent ihrer Gehälter zum System bei. Von 2013 an werde der Beitrag zur „Pay as you go“-Säule auf 25 Prozent fallen, während die bleibenden drei Prozent an private Fonds transferiert werden würden. Dieses Verhältnis sollte in den nächsten sechs Jahren auf fünf Prozent steigen.

Drábek schlug vor, dass der Verlust, der der Öffentlichkeit daraus entstehe, gedeckt werden könnte, indem die reduzierte Mehrwertsteuer von zehn auf 19 Prozent oder auf den Standardsatz erhöht werde. Durch letzteres werde der reduzierte Satz quasi abgeschafft. Doch er äußerte Zweifel an dieser Maßnahme und merkte an, dass die Auswirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt sowie die Inflation gründlich bewertet werden müssten.

Eine andere Option kam früher in der Diskussion auf und beinhaltet die Deckung der Kosten der Reform durch Dividenden aus dem Anteil der Regierung am Energieriesen ČEZ. Auf diese Art ersucht die tschechische Regierung eine Reform, die es vermeidet, das nationale Budgetdefizit zu erhöhen.

Deutschlands Rentensystem ändere sich seit zehn Jahren von einem vorwiegend staatlichen System auf eines mit mehreren Säulen zu, wie EurActiv Deutschland berichtet. In der Tat war es der Bundeskanzler Gerhard Schröder, der 2001 eine umfassende Rentenreform erzwang. Seine Regierung senkte das Niveau der staatlichen Rente und förderte private Rentensysteme. Die so genannte „Riester-Rente“ ermutigt Menschen, eine subventionierte private Rentenversicherung zu behalten. Bislang haben 14 Millionen Deutsche eine private „Riester-Rentenversicherung“.

Die derzeitige Regierung beschloss darüber hinaus im November, dass das Rentenalter von derzeit 65 Jahren schrittweise auf 67 Jahre im Jahr 2029 angehoben werden solle.

Zusätzlich hat Deutschland ein traditionell entwickltes System der betrieblichen Altersversorgung. Viele Firmen bieten ihren Angestellten solche Programme an, da sie steuerliche Vorteile sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer anbieten. Dort liegt Deutschlands Hauptsorge über das Grünbuch „Pensionen und Renten“ der Kommission. Deutschland hat mehr als einhundert Firmen mit Rentenprogrammen und etwa 12,3 Millionen Versicherten im Privatsektor und etwa 5,2 Millionen Versicherten im öffentlichen Sektor.Deutsche Europaabgeordnete wie Jürgen Creutzmann und Nadja Hirsch (ALDE) stellen sich dem Vorschlag der Kommission entgegen, ähnliche Eigenkapitalbedingungen für Versicherungsunternehmen und betriebliche Altersversorgungen anzunehmen.

Die Europaabgeordneten beschuldigen die Kommission, die betrieblichen Altersversorgungen in Deutschland zu gefährden. Sie sagen, der Vorschlag könnte die einzigartige und vielseitige Landschaft der betrieblichen Altersversorgung in Deutschland hemmen.

Der Europaabgeordnete Creutzmann kommentierte Ende November, die EU wolle Angelegenheiten regulieren, die auf EU-Ebene weder reguliert werden könnten noch sollten. Die Beweglichkeits- und Eigenkapitalbedingungen würden die betriebliche Altersversorgung in Deutschland beeinträchtigen und damit auch die Arbeitnehmer. Versicherungsunternehmen wären die einzigen Gewinner einer solchen Regulierung, die angeblich die Rechte der Arbeitnehmer verteidigen sollte.

Quelle: EUROACTIV, 6.12.2010