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Mißstände in Pflegeheim dürfen öffentlich werden

21.07.2011 - von Der Kanzler

Die Kündigung einer Altenpflegerin nach ihrer Strafanzeige gegen Arbeitgeber wegen Mängeln in der Pflege war ungerechtfertigt. In seinem heute verkündeten Kammerurteil im Verfahren Heinisch gegen Deutschland (Beschwerdenummer 28274/08), das noch nicht rechtskräftig ist*, stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einstimmig fest, dass eine Verletzung von Artikel 10 (Freiheit der Meinungsäußerung) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vorlag.

Der Fall betraf die fristlose Kündigung einer Altenpflegerin, nachdem sie Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber erstattet hatte, mit der Begründung, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen erhielten wegen Personalmangels keine angemessene Gegenleistung für die von ihnen getragenen Kosten.

Zusammenfassung des Sachverhalts
Die Beschwerdeführerin, Brigitte Heinisch, ist deutsche Staatsangehörige, 1961 geboren, und lebt in Berlin. Sie war als Altenpflegerin bei der Vivantes Netzwerk für Gesundheit
GmbH beschäftigt, die auf Gesundheits- und Altenpflege spezialisiert und deren Mehrheitseigner das Land Berlin ist.Ab Januar 2002 arbeitete Frau Heinisch in einem Altenpflegeheim, in dem viele der Patienten auf spezielle Hilfe angewiesen waren.

Frau Heinisch und ihre Kollegen wiesen die Geschäftsleitung der GmbH im Zeitraum zwischen Januar 2003 und Oktober 2004 mehrfach darauf hin, dass das Personal überlastet sei und seinen Pflichten nicht nachkommen könne; darüber hinaus würden Pflegeleistungen nicht korrekt dokumentiert.

Von Mai 2003 an erkrankte Frau Heinisch mehrfach und war teilweise arbeitsunfähig; laut einer ärztlichen Bescheinigung war dies die Folge von Arbeitsüberlastung. Nach einem Kontrollbesuch in dem Altenpflegeheim stellte der Medizinische Dienst der Krankenkassen im November 2003 wesentliche Mängel bei der geleisteten Pflege fest, unter anderem unzureichende Personalausstattung sowie unzureichende Pflegestandards und mangelhafte Gestaltung der Dokumentation. Frau Heinischs Rechtsanwalt wies in einem Brief an die Geschäftsleitung der GmbH im November 2004 darauf hin, dass wegen Personalmangels die hygienische Versorgung der Patienten nicht mehr gewährleistet werden könne, und verlangte von der Geschäftsleitung, schriftlich zu erklären, wie sie die ausreichende Versorgung der Patienten sicherzustellen beabsichtigte.

Nachdem die Geschäftsleitung diese Vorwürfe zurückgewiesen hatte, erstattete Frau Heinisch im Dezember 2004 durch ihren Anwalt Strafanzeige wegen besonders schweren Betruges gegen die GmbH, mit der Begründung, sie leiste wissentlich nicht die in ihrer Werbung versprochene hochwertige Pflege, erbringe also nicht die bezahlten Dienstleistungen und gefährde die Patienten. Frau Heinisch machte außerdem geltend, die GmbH habe systematisch versucht, diese Probleme zu verschleiern, indem Pflegekräfte angehalten worden seien, Leistungen zu dokumentieren, die so nicht erbracht worden seien. Im Januar 2005 stellte die Staatsanwaltschaft Berlin die Ermittlungen gegen die GmbH ein.

Frau Heinisch wurde im Januar 2005 aufgrund ihrer wiederholten Erkrankungen mit Wirkung zum 31. März gekündigt. Gemeinsam mit Freunden und mit der Unterstützung der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di verteilte sie ein Flugblatt, das die Kündigung als „politische Disziplinierung, um den berechtigten Widerstand vieler Beschäftigter im Gesundheitswesen für eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung mundtot zu machen“ verurteilte und auch die von ihr erstattete Strafanzeige gegen den Arbeitgeber erwähnte. Die GmbH erfuhr erst auf diesem Weg von der Strafanzeige und kündigte Frau Heinisch daraufhin fristlos, weil sie verdächtigt wurde, die Herstellung und Verteilung des Flugblatts initiiert zu haben. Die Ermittlungen gegen die GmbH wurden auf Frau Heinischs Ersuchen im Februar 2005 wieder aufgenommen, im Mai aber wieder eingestellt.

Frau Heinisch klagte vor dem Arbeitsgericht Berlin gegen ihre fristlose Kündigung. In einem Urteil vom August 2005 erklärte das Gericht die Kündigung für unrechtmäßig. Es befand, das Flugblatt sei durch ihr Recht auf Meinungsfreiheit geschützt und kein pflichtwidriges Verhalten im Sinne ihres Arbeitsvertrags gewesen. Das Landesarbeitsgericht hob das Urteil jedoch im März 2006 auf. Es befand, die Kündigung sei rechtmäßig gewesen, da die von Frau Heinisch erstattete Strafanzeige einen „wichtigen Grund“ für die fristlose Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) dargestellt habe.

Das Bundesarbeitsgericht bestätigte die Entscheidung und am 6. Dezember 2007 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab,
die Verfassungsbeschwerde dagegen zur Entscheidung anzunehmen.

Beschwerde, Verfahren und Zusammensetzung des Gerichtshofs
Unter Berufung auf Artikel 10 rügte Frau Heinisch ihre Kündigung und die Weigerung der deutschen Gerichte, ihre Wiedereinstellung anzuordnen. Die Beschwerde wurde am 9. Juni 2008 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di erhielt die Erlaubnis, als Drittpartei eine Stellungnahme abzugeben.
Das Urteil wurde von einer Kammer mit sieben Richtern gefällt, die sich wie folgt zusammensetzte:

Dean Spielmann (Luxemburg), Präsident,
Karel Jungwiert (Tschechien),
Boštjan M. Zupančič (Slowenien),
Mark Villiger (Liechtenstein),
Isabelle Berro-Lefèvre (Monaco),
Ann Power (Irland),
Angelika Nußberger (Deutschland), Richter,
und Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin.

Entscheidung des Gerichtshofs Artikel 10
Es bestand zwischen den Parteien Einigkeit darüber, dass die von Frau Heinisch erstattete Strafanzeige als sogenanntes whistleblowing zu bewerten ist – also die Offenlegung von Missständen in Unternehmen oder Institutionen durch einen Arbeitnehmer – das in den Geltungsbereich von Artikel 10 fällt. Es war weiterhin unbestritten, dass ihre Kündigung und die Entscheidungen der deutschen Gerichte einen Eingriff in ihr Recht gemäß Artikel 10 darstellten.

* Gemäß Artikel 43 und 44 der Konvention sind Kammerurteile nicht rechtskräftig. Innerhalb von drei Monaten nach der Urteilsverkündung kann jede Partei die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer beantragen. Liegt ein solcher Antrag vor, berät ein Ausschuss von fünf Richtern, ob die Rechtssache eine weitere Untersuchung verdient. Ist das der Fall, verhandelt die Große Kammer die Rechtssache und entscheidet durch ein endgültiges Urteil. Lehnt der Ausschuss den Antrag ab, wird das Kammerurteil rechtskräftig. Sobald ein Urteil rechtskräftig ist, wird es dem Ministerkomitee des Europarats übermittelt, das die Umsetzung der Urteile überwacht. Weitere Informationen zum Verfahren der Umsetzung finden sich hier:
Link

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Arbeitgeberpräsident will Rechtsmittel gegen Heinisch-Urteil
„“Sorgfältig prüfen” sollte die Bundesregierung laut BdA-Präsident Dieter Hundt, ob Sie nicht Rechtsmittel gegen die Entscheidung des EGMR im Fall Heinisch einlegt. Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände scheint demnach auch nach dem Urteil an ihrer bisherigen Linie festhalten zu
wollen, wonach gesetzlicher Whistleblowerschutz überflüssig sei. «Probleme im Betrieb müssen zunächst intern geregelt werden. Dazu muss jedes Unternehmen seinen eigenen Weg gestalten können» so zitiert die NOZ Hundts Reaktion auf das Urteil weiter. Bei so wenig Einsicht, kann man sich bestenfalls noch freuen, dass anderes als noch vor kurzem im Bundestag seitens CDU/CSU, Worte wie “Blockwarte” und “Denunzianten” diesmal nicht fielen…“
Meldung im Blog des Whistleblower-Netzwerks
http://www.whistleblower-net.de/blog/2011/07/23/arbeitgeberpraesident-will-rechtsmittel-gegen-heinisch-urteil/

Link: Zwei Kräfte versorgen 20 Bewohnerinnen
Quelle: Europäischer Gerichtshof f. Menschenrechte, PM 21.7.2011