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Bezirk Neukölln: Hilfe zur Pflege als Sparpotential???

Berlin, 2010 Foto: H.S.

12.03.2013 - von E.P.

Das Sozialamt des Bezirks Berlin-Neukölln ist auf der Suche nach Sparpotenzial. Jetzt hat es die Hilfe zur Pflege entdeckt.
Es werden Regeln für einen anderen Zweck so umgedeutet, missbraucht, dass eine Demenz für Bewohner einer WG automatisch zur Kürzung von Leistungen führt. Der ausschließliche Grund für die Leistungskürzungen ist das Merkmal "eingeschränkte Alltagskompetenz". Liegt dies vor, so erhält der Pflegebedürftige in einer WG, unabhängig von weiteren Umständen, weniger Leistungen. Das Bedarfsdeckungsprinzip, ein Grundpfeiler der Sozialhilfe, wird gezielt unterlaufen.

Im Kern geht es darum, dass in Neukölln schwerbehinderte Patienten die in einer Wohngemeinschaft leben Sozialleistungen missbräuchlich als Pauschale unterhalb des anerkannten Bedarfs erhalten. Diskriminierend ist der Missbrauch der Pauschale, weil dies ohne sachlichen Grund und ausschließlich aufgrund eines Krankheitsmerkmals geschieht.

Missbraucht wird eine Regelung zu Tagespauschalen, die für einen anderen Personenkreis eingeführt wurde, um deren Bedarf decken zu können. Die Pauschale war für spezielle DemenzWGs gedacht. Sie ist nicht gedacht für Patienten die in einer WG leben und neben ihrer Grunderkrankung auch eine demenzielle Symptomatik haben.

In Berlin entwickelte sich seit 1996 das Konzept der ambulant betreuten Wohngemeinschaften mit an Demenz erkrankten Menschen. Für diese Wohngemeinschaften wurde ein besonderer Bedarf erkannt, dem die Pflegeversicherung nicht ausreichend Rechnung trug. Der Bedarf von dementiell erkrankten Menschen entspricht nicht den Maßstäben der Pflegeversicherung. Dort stehen die Leistungen der Grundpflege (Waschen, Ankleiden, Toilettengang, Nahrungsaufnahme) im Vordergrund.

Vor diesem Hintergrund vereinbarten die Pflegekassen und Pflegekassenverbände in Berlin, der Träger der Sozialhilfe und die Vereinigungen der Träger der ambulanten Pflegeeinrichtungen, die Umstellung der Versorgung und Betreuung von an Demenz erkrankten Menschen in Wohngemeinschaften von einer Finanzierung über Einzelleistungskomplexe auf Tagespauschalen vorzunehmen.

Dabei ging man von folgender Zielsetzung aus: Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz sind ein Ort der Gemeinschaft, in dem nicht die pflegerische Versorgung, sondern die Gestaltung des Alltags im Vordergrund steht. Ziel ist es, im partnerschaftlichen Zusammenwirken aller Beteiligten eine umfassende Versorgung zu sichern, die den individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten der betreuten Personen entspricht. Pflege und Versorgung werden hierfür auf der Basis biografieorientierter Konzepte organisiert. Das Zusammenleben von an Demenz Erkrankten in einer Wohngemeinschaft dient der Schaffung einer sinnvollen Tagesstrukturierung und damit der Normalisierung des Tag-Nacht-Rhythmuses. Das Konzept der Tagesstrukturierung gibt einen Rahmen vor, mit dem individuell die erforderliche Anleitung, Begleitung und Beaufsichtigung bei den Verrichtungen des täglichen Lebens sowie Hilfestellung bei der Bewältigung des Alltags und die Anleitung zur sinnvollen Tagesgestaltung sichergestellt und die Selbstständigkeit erhalten und gestärkt sowie Eigen- und Fremdgefährdung ausgeschlossen werden können. Anleitung und Begleitung kommen hierbei erheblich größere Bedeutung zu als die Unterstützung bei der Durchführung oder die Übernahme von bestimmten pflegerischen Verrichtungen. In der Praxis wird der Tagesablauf nicht durch die Organisation der Pflege dominiert, sondern durch das Alltagsgeschehen, das dem Leben in einem Privathaushalt entspricht.

Durch die gezielte Einbindung in die alltäglichen Abläufe – wie Mitarbeit bei anfallenden Arbeiten wie Einkaufen, Essen zubereiten, Reinigung, Wäscheversorgung, Blumenpflege, Bügeln, Haustiere versorgen, Feiern von Geburtstagen und anderen Festen – sollen motorische, soziale und kognitive Fähigkeiten gefördert und erhalten und, soweit dies möglich ist, verlorene Fähigkeiten zurück gewonnen sowie Tendenzen zu Rückzug, Apathie und Depression entgegengewirkt werden.So wie eben beschrieben ist eine Wohngemeinschaft mit an Demenz erkrankten Menschen gedacht. In einer solchen Wohngemeinschaft steht nicht die pflegerische Versorgung der Patienten im Vordergrund, sondern der besondere Bedarf demenziell erkrankter Menschen.

In einer WG für schwerpflegebedürftige Patienten, wie bei Frau P., sind für demente Patienten so wichtigen Bereiche wie:
Tagesstrukturierung, Normalisierung des Tag-Nacht-Rhythmuses,
individuell die erforderliche Anleitung, Begleitung und Beaufsichtigung bei den Verrichtungen des täglichen Lebens,
Anleitung zur sinnvollen Tagesgestaltung, das Alltagsgeschehen, das dem Leben in einem Privathaushalt entspricht, Mitarbeit bei anfallenden Arbeiten wie Einkaufen, Essen zubereiten, Reinigung, Wäscheversorgung, Blumenpflege, Bügeln, ohne Bedeutung.

Bei Frau P. ist der Schwerpunkt des Bedarfs die Grundpflege im Sinne der Pflegeversicherung. Frau P. hat die Fähigkeit den eigenen Körper zu kontrollieren verloren. Erst konnte sie nicht mehr laufen, dann die Arme und Hände nicht mehr kontrollieren. Später verlor sie die Fähigkeit ihre Blase und den Stuhlgang zu kontrollieren. Sie verlor die Kontrolle über Mimik und Gestik, über die Zunge und den Mund. Sie kann nicht selbst essen, weil sie die Zunge nicht kontrollieren kann.
Sie weis nicht wo sich die Nahrung im Mund gerade befindet.
Sie kann ohne die Kontrolle über die Zunge auch nicht sprechen.
Zeitgleich mit den körperlichen Einschränkungen haben auch ihre geistigen Fähigkeiten nachgelassen. Das ist aber noch keine Demenz.

Für Frau P. bedeutet die Zuweisung in die Gruppe der in Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz Lebenden eine klare Rückstufung unter ihren Bedarf. Dies ist auch sachlich nicht begründbar, weil in der Wohngemeinschaft ganz überwiegend Patienten mit Multipler Sklerose leben, nicht aber demenziell erkrankte Menschen. Ein typischer Demenzpatient mit Alzheimer lebt dort nicht.

In der Wohngemeinschaft leben bestenfalls auch einige erkrankte Menschen die neben ihrer Grunderkrankung auch demenzielle Einschränkungen haben. Auch für sie müssen die Grundregeln der Sozialhilfe gelten:

  • Sozialhilfe bemisst sich nach der Besonderheit des Einzelfalles.

  • In der Sozialhilfe gilt das sogenannte Bedarfsprinzip.
    Es gibt hierbei weder eine Untergrenze, noch eine Obergrenze der zu erbringenden Leistungen.

  • Eine Budgetierung der Leistungen wie in der Pflegeversicherung erfolgt nicht.

  • Diese Leitsätze sind auch nicht durch Vereinbarungen zwischen Dritten zu Lasten der pflegebedürftigen Menschen abdingbar. Sie sind auch vom Bezirksamt Neukölln so formuliert.

    Folgte das Bezirksamt diesem Leitsatz, wären vom Bezirksamt höhere Kosten zu tragen. Deshalb und nur deshalb, werden in Neukölln Menschen denen eine Demenz unterstellt wird, weil sie Leistungen nach §45 SGB XI erhalten (eingeschränkte Alltagskompetenz), nicht nach ihrem Bedarf versorgt, sondern nach der Pauschale „Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz“. Die Pauschale wird aber nur angesetzt, wenn sie niedriger ist als der individuelle Leistungsbedarf. Damit wird auch das Ziel von Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz eine umfassende Versorgung zu sichern, die den individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten der betreuten Personen entspricht, völlig in sein Gegenteil verkehrt.

    Das Bezirksamt diskriminiert schwerpflegebedürftige Menschen, indem gezielt und ohne sachlichen Grund Menschen aufgrund einer Demenz von Pflegeleistungen ausgeschlossen werden. Bei Ihnen wird nicht der Mensch in seinem Leid und seinen Bedürfnissen gesehen. Nur die Kosten seiner Versorgung sollen minimiert werden sollen.
    Die Behauptung, dass das Gesetz dies vorschreibe, ist nicht nachvollziehbar. Ich sehe hier eine klare Diskriminierung der Betroffenen.
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    Elke P. (60) ist krank, sie ist schwerstbehindert, sie ist pflegebedürftig. Elke P. ist arm. Sie hat über 20 Jahre als Krankenschwester gearbeitet, aber für die Pflegekosten reicht es nicht. Elke P. lebt in einer Behinderten-WG, dort wird sie versorgt. Elke P. ist allein, sie hat keine Kinder, die nächste Verwandte lebt 500 km entfernt, sie ist Kinderkrankenschwester.

    Nun hat das Sozialamt nach Aktenlage diagnostiziert: Elke P. hat eine Demenz nach den Maßstäben der WHO. So die Diagnose der Verwaltung. Dann stellt die Verwaltung fest: Elke P. lebt in einer WG, sie ist dement, also ist es eine Demenz-WG. Dafür gibt es Pauschalen, für Menschen in einer Demenz-WG, weil sie andere Leistungen brauchen, weniger die klassische Pflege. Das würde sonst nicht bezahlt.

    Also darf Elke P. nicht bekommen was sie braucht, nämlich die nötige Pflege, sondern nur die Pauschale der Demenz-WG. In der Demenz-WG steht Beschäftigung, nicht Pflege, im Vordergrund. Das gefährdet die Gesundheit von Elke P., es ist ungerecht, es widerspricht dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes, es widerspricht den Grundgesetz der Sozialhilfe: Bedarfsdeckung. Nicht mehr und nicht weniger.

    Ein netter Nebeneffekt der Argumentation des Behördenleiters, Bezirksstadtrat Bernd Szczepanski (Bündnis 90/Die Grünen), und seiner Feststellung einer Demenz-WG: Würde Elke P. mit Jürgen Trittin, Renate Künast, Cem Ozdemir, Claudia Roth, Katrin Göring-Eckardt, Markus Kurth und Wolfgang Wieland in einer WG leben, so lebte sie nach Auffasung von Stadtrat Szczepanski (Bündnis 90/Die Grünen) in einer Demenz-WG.

    Alle Infos, alle Schreiben finden Sie hier:
    Link
    Herzlichen Dank für Ihr Interesse
    Christian Schulz
    für Elke P.
    elkep(at)hilfe-zur-pflege.org

    Link: Pflegereform im Medienrauschen
    Quelle: Mail an die Redaktion

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