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Rente mit 69: Bertelsmann agitiert mit falschen Zahlen

21.03.2013 - von H.S. + Bosbach + Korff

Wir sollen alle noch länger arbeiten. Die EU will, dass wir es bis 70 tun, die bundesdeutschen Großkopferten wollen zur Zeit 69 durchsetzen. Deshalb hat die Bertelsmann-Stiftung im März 2013 eine Studie vorgelegt, die am Lehrstuhl für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen der Uni Bochum erarbeitet wurde. Professor Werding ist der Autor. Er propagiert: Länger arbeiten, Teilkapitalisierung der Rentenversicherung und Koppelung künftiger Rentenzahlungen an die Kinderzahl.

Der Sozialwissenschaftler belegt das mit einer eigens dafür von ihm erfundenen Methode des Zahlenzaubers. Nun wissen wir aber, dass man mit Zahlen und Statistiken lügen kann. Gerd Bosbach, übrigens Preisträger der Goldenen Falte des Büros gegen Altersdiskriminierung im Jahr 2006, ebenfalls Professor, aber einer für Statistik, erklärt zusammen mit seinem Coautor Jens Jürgen Korff am Beispiel der Bertelsmannstudie, wie man das macht. Lügen mit Zahlen, um eine Stimmung zu erzeugen. Angst. Angst vor der Instabilität des gesetzlichen Rentensystems, um die Geschäfte der Privatversicherungen zu fördern.

"Eine Pressemitteilung der Bertelsmann-Stiftung vom 11. März 2013 titelte: „Der Renteneintritt der Babyboomer setzt die Rentenversicherung schon bald unter Druck.“ Darin fand sich die absurde Behauptung, 2060 sei damit zu rechnen, dass 63 % der deutschen Bevölkerung 65 Jahre alt oder älter sein werde. In Wirklichkeit sind aber selbst bei der von Bertelsmann ausgewählten Prognose für 2060 nur knapp 33 % „Ältere“ zu erwarten. Die Bertelsmann-„Experten“ hatten Altenquotient und Bevölkerungsanteil verwechselt, und die Deutsche Presse-Agentur dpa hatte den Fehler gehorsam weiterverbreitet.

In der Originalversion der Bertelsmann-Pressemitteilung hieß es: „Der zusätzliche Druck auf das Rentensystem ergibt sich nach den Berechnungen aus dem anhaltenden demographischen Wandel in der deutschen Bevölkerung. Während heute der Anteil der über 65-Jährigen bei 30 Prozent liegt, sieht die
Prognose für 2030 einen Anteil von 49 Prozent und für 2060 von 63 Prozent.“

Nachdem dpa und Weser-Kurier diese Behauptung verbreitet hatten, schaltete sich das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) ein und stellte die gravierenden Fehler der Bertelsmann-Stiftung richtig: Ende 2011 waren nicht 30, sondern nur 20,6 % der Bevölkerung 65 Jahre und älter.

Sichere Bevölkerungsprognosen für das Jahr 2060 gibt es nicht, da wir nun einmal nicht wissen, wann die heute lebenden Menschen sterben werden, wie viele Kinder in sechs Jahren geboren werden oder wie viele Menschen in elf Jahren zu- oder abwandern werden. Sogar die heutige Zahl der Menschen
in Deutschland ist unsicher. Deshalb hat das Statistische Bundesamt 2011 ja den Zensus durchgeführt.

Bertelsmann bezieht sich auf die „12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung der statistischen Ämter
der Länder und des Bundes“ von 2009. Und in einer ihrer Varianten „Obergrenze der ‚mittleren Bevölkerung’“ ist für 2060 tatsächlich die Zahl 63 zu finden. Doch nicht als Bevölkerungsanteil, sondern als Altenquotient! Der Bevölkerungsanteil wurde dort mit 32,6 % ausgewiesen. Also eine ganz andere Nummer als die 63 % der Panikmacher von Bertelsmann.

Eine ganz ähnliche Episode haben wir in unserem Buch „Lügen mit Zahlen“. Im Juli 2009 beschworen FAZ und andere die Seniorenrepublik Brandenburg: 90 Prozent der Bevölkerung dieses Bundeslandes, so hieß es allen Ernstes, würden 2050 im Rentenalter sein. Auch damals hatten die Demographie-„Experten“ mehrerer seriöser Redaktionen Altenquotient und Bevölkerungsanteil verwechselt, weil es ihnen gerade so schön in den Kram passte.

Die Bertelsmänner haben ihren Fehlerauf der Zahlenebene inzwischen korrigiert. Sie schreiben: „In einer früheren Version dieser Pressemitteilung ist uns ein Fehler unterlaufen. Unsere Formulierung ließ den Schluss zu, dass derzeit ein Drittel und im Jahr 2060 63 Prozent der Bevölkerung älter als 65 Jahre sind. Unsere Studie… weist auf Seite 16 ff jedoch aus, dass es sich hierbei um den Altenquotienten handelt, also das Verhältnis der über 65-Jährigen zum Erwerbspersonenpotenzial.“ Doch auf der Kopfebene halten sie an ihrer alten Sichtweise fest: „An unserer Einschätzung zur Zukunft des Rentensystems in Deutschland ergeben sich dadurch keine Änderungen.“

Dazu fällt mir ein leicht ordinärer rheinischer Karnevalsschlager ein: „Scheiß-ejal! Scheiß-ejal! / Ob du
Huhn bist oder Hahn…“ 34 Prozent, 63 Prozent, ein Drittel oder zwei Drittel, so what? Die gesetzliche Rentenversicherung muss gefährdet sein, das ist alles, worauf es den „Experten“
anzukommen scheint.
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Brief vom Bündnis für Rentenbeitragszahler und Rentner an den Bertelsmann Autor
Um ihn daran zu erinnern, dass in all seinem Zahlenzauber die Versicherungsfremden Leistungen, die aus der Rentenkasse gezahlt werden, nicht mitbedacht worden sind, schickte das BRR einen Brief an den Autor der Studie. Denn Milliarden fehlen dadurch in den Zahlenzauber-Berechnungen. Link
Auch sehr lesenswert zum Thema: Wie die Finanzdaten der Euroländer manipuliert werden
Link

Die Bertelmannstudie jenseits von Zahlen und Auslassungen
Weiterer Nachhaltigkeitsplan
Die Studie, die im März 2013 von der Bertelsmann-Stiftung vorgelegt wurde, trägt den Titel:"Alterssicherung, Arbeitsmarktdynamik und neue Reformen: Wie das Rentensystem stabilisiert werden kann". Der Autor der Studie, Professor Dr. Martin Werding vom Lehrstuhl für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der Ruhr Universität in Bochum, schlägt eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit vor, außerdem: Die Einbeziehung von neu eingestellten Beamten oder neu angemeldeten Selbstständigen in die gesetzlichen Sozialsysteme. Die Beiträge der "Neuen" sollen für den Aufbau einer Teilkapitaldeckung des Rentensystems genutzt werden. Daraus soll eine Kinderrente im Umlageverfahren (?) gezahlt werden, die aber von allen Erwerbstätigen finanziert wird. Eltern im Rentenalter sollen daraus später Leistungen erhalten, diese sollen aber von der Zahl der Kinder abhängen! Für Eltern von drei (und mehr) Kindern gewährleiste die Kinderrente, so der Bertelsmann-Auftrags-Autor, zusammen mit der Basisrente das derzeitige (!) Rentenniveau!

Kinderlose + Eltern mit weniger als drei Kindern sollen dagegen gesetzlich verpflichtet werden, die Basisrente durch private Vorsorge aufzustocken. Für die zunächst kinderlosen Erwerbstätigen soll der Umfang der Vorsorgepflicht dann mit der Geburt eines jeden Kindes sinken.

Die Grundaussage der Bertelsmann-Studie, dass die Renten mit dem heutigen System, in spätestens in ca. 15-20 Jahren kollabieren werden, halte ich für realistisch, schreibt H.W. Aber Frage dazu: Ist diese Grundannahme nicht unabdingbare Voraussetzung für die Studie und die darin enthaltenen "Rettungsvorschläge"? Könnte es sein, dass die Grundaussage eine Behauptung ist, die zwar durch zahllose Zahlenkolonnen belegt wird, aber ganz und gar falsch ist? Die erfunden wurde, um die Aktionäre der Versicherungsindustrie auch in Zukunft zu mästen, und endlich so richtig mit Rentengeldern auf dem Kapitalmarkt zocken zu können? Und um einen Einstieg in die Agenda 2020 zu kriegen?

Brief an den Autor der Bertelsmann Studie, Prof. Dr. M. Werding
Quelle: Mail an die Redaktion