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Altersgrenze für Schöffen: Gerichtsverfassungsgesetz ändern!

07.06.2013 - von Prof. Dr. Heinz-Günther Borck

Wegen der hierzulande praktizierten Altersdiskriminierung im Ehrenamt der Schöffen, hat der Direktor a.D. des Landeshauptarchivs Koblenz, Professor Dr. Heinz-Günther Borck, Mitglied des Seniorenbeirats der Stadt Koblenz, einen Brief an die Bundesministerin Kristina Schröder geschrieben.

Sehr geehrte Frau Ministerin,
kürzlich hat die Stadt Koblenz ihre Bürgerinnen und Bürger dazu aufgerufen, sich freiwillig als Schöffen zu melden, und dabei auf die Altersgrenze von 69 Jahren nach § 33 GVG (1) hingewiesen; vorgestern wurde in den Fernsehnachrichten verbreitet, dass wegen ausbleibender freiwilliger Meldungen an die Zwangsverpflichtung von Schöffen gedacht wird. Lassen Sie mich als Mitglied des Seniorenbeirats der Stadt Koblenz dazu einige Anmerkungen machen.

1. Die Altersgrenze widerspricht dem europäischen Recht.
Art. 19 AEUV (2), der - mit seinen Vorläufern - bereits zu mehreren Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes geführt hat, verpflichtet die Regierungen zur Beseitigung diskriminierender Maßnahmen und ist auf Grund der Richtlinie 2000/78/EG, die eine Umsetzung desAltersdiskriminierungsverbotes in nationales Recht vorschrieb, 2006 auch deutsches Recht geworden.

2. Die Altersgrenze verstößt gegen gültiges deutsches Recht
Das die europäische Antidiskriminierungsrichtlinie umsetzende Allgemeine Gleichstellungsgesetz (3) schließt in § 1 Benachteiligungen wegen des Alters aus und lässt unterschiedliche Behandlungen grundsätzlich nach § 8 (1) nur bei bestimmten beruflichen Anforderungen, die bei Ehrenämtern nicht vorliegen, zu. Was damit gemeint ist, erhellt weiterhin aus § 10 (4): Es handelt sich ausschließlich um Fragen konkreter gewerblicher Beschäftigungsverhältnisse. Die Bestimmungen sind für Ehrenämter ohne nennenswerten Belang.
Dass es ein im Sinne des allgemeinen Gleichstellungsgesetzes legitimes, objektives und angemessenes Ziel wäre, den Ausschluss über 69jähriger Staatsbürger(innen) allein wegen ihres Alters aus dem Ehrenamtsbereich zu betreiben, kann ich nicht erkennen.

3. Die Regelungen in § 33(2)GVG widersprechen m.E. sowohl den
Grundsätzen von Menschenwürde und Selbstverwirklichung der
Persönlichkeit als auch dem Gleichheitsgrundsatz.

In der ursprünglichen, im deutschen Reichstag des Kaiserreiches beratenen Fassung des Gerichtsverfassungsgesetzes gab es keine altersdiskriminierenden Regelungen (!). Der Gesetzentwurf von 1874 (6) sah im Dritten Titel (Schöffengerichte) in § 23 Zf.5 lediglich vor, dass Personen nach Vollendung des 65 Lebensjahres nicht mehr zur Annahme dieses Ehrenamtes verpflichtet seien; diese Fassung fand in der 12. Sitzung vom 20. 11. 1876 (7) die einmütige Billigung aller Reichstagsparteien und wurde in der Endfassung des Gesetzes vom 27.1.1877 (8) als § 35 geltendes Recht. Daran änderte sich auch nichts in der Bekanntmachung des
Gerichtsverfassungsgesetzes vom 20. 5. 1898 (9), die am 1. 1. 1900 Gültigkeit erlangte.

Ausgerechnet unter der Herrschaft des Menschenwürde, Persönlichkeitsentfaltung und allgemeine Menschenrechte gewährleistenden Grundgesetzes wurde, wie es scheint, 1974 (10) die von mir beanstandete altersdiskriminierende Neuregelung eingeführt, die noch außerdem im Widerspruch zu § 36 (2) GVG steht, wonach - was unter Berücksichtigung der Grundsätze von demokratischer Transparenz und Gleichheit nur zu berechtigt wäre - alle Gruppen der Gesellschaft nach Alter, Beruf und sozialer Stellung angemessen zu berücksichtigen sind.

4. Das Ehrenamtsverbot steht im Widerspruch zur demographischen
Entwicklung

Angesichts der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland und insbesondere der gegenwärtigen und absehbaren künftigen Altersstruktur der deutschen Bevölkerung muss man dem allerdings verbreiteten Phänomen der Wirklichkeitsverweigerung erliegen, wenn man sich Maßnahmen zur Abschaffung der Altersdiskriminierung widersetzen will.

Nach den vom Statistischen Bundesamt für 2011 (11) ermittelten Daten11 sind im Jahre 2011 bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 82 Mio Menschen etwa 16,9 Mio (= knapp 21 %) über 65 Jahre alt gewesen. Davon waren rund 5 Mio =rd. 6,1 % über 69 und weitere 7,8 Mio. (= 9,5 %) über 74 Jahre alt. Aus diesen Zahlen ergibt sich, dass fast 16 % der Bevölkerung (mit steigender Tendenz) durch Altersdiskriminierung von der Wahrnehmung der Ehrenämter ausgeschlossen werden, obgleich freiwillige Meldungen ganz im Gegenteil dringend benötigt werden und die Förderung ehrenamtlicher Tätigkeit ohnehin fester Bestandteil aller politischen Sonntagsreden ist. Im übrigen verlangen zweifellos rein praktische Gründe, nämlich die größere Bereitschaft zur Übernahme von Ehrenämtern nach dem Ende des Erwerbslebens, die Aufhebung der Altersdiskriminierung.

Ich möchte aus den oa. Gründen Sie, sehr verehrte Frau Ministerin, bitten, darauf hinzuwirken, dass die altersdiskriminierenden Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes mit sofortiger Wirkung außer Vollzug gesetzt werden. Eine Altersgrenze, von der ab die Übernahme von Ehrenämtern abgelehnt werden darf, trägt den Grundsätzen der Würde des Menschen und der Selbstverwirklichung der Persönlichkeit Rechnung und ist verfassungsgemäß; ein ausschließlich auf das Alter gestütztes Verbot, Ehrenämter zu übernehmen, ist verfassungs-und rechtswidrig, noch schlimmer: es ist töricht.

Mit freundlichen Grüßen bin ich Ihr
Heinz-Günther Borck
Direktor des Landeshauptarchivs Koblenz - Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz - a. D.
56075 Koblenz
Koblenz, den 24.4.2013
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Am 30.4.2013 gab es einen einstimmigen Beschluss des Seniorenbeirats der Stadt Koblenz, in dem der Oberbürgermeister gebeten wird, auf eine Außervollzugsetzung der altersdikriminierenden Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes in seiner Fassung von 1974 hinzuwirken.
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Am 07.06.2013 hat das Familienministerium es nach fast sieben Wochen in Beantwortung meines Schreibens vom 24.4.2013 immerhin zu der Mitteilung gebracht, die Bundesregierung habe auf die Große Anfrage der FDP (vom 20.2.2008 (!), Drucksache 16/8301) geantwortet (Drucks. 16/1015 v. 21.8.2008, wo auf Seite 52 unzutreffend vom 75. (!) Lebensjahr die Rede ist), dass mit älteren Schöffen zu große Prozesssrisiken verbunden seien und deshalb die Regelung des § 33(2)GVG, wonach Schöffen das 70. (!) Lebensjahr nicht überschreiten dürfen, begründet sei.
Bestritten wird die Anwendbarkeit des AGG, weil dieses nur auf Erwerbsverhätnisse Bezug nehme - zu dieser Interpretation habe ich bereits - ablehnend - in einem Schreiben in einer vergleichbaren Angelegenheit an den Präses der rheinischen Landeskirche Stellung genommen. Die Regelungen des Artikels 19 AEUV sind allgemeiner Natur und durch das AGG nur für das Erwerbsleben konkretisiert, aber nicht notwendigerweise darauf beschränkt.

Die im Schlussabsatz des Schreibens des Familienministerium enthaltene Empfehlung, mich an das Justizministerium zu wenden, habe ich mit Belustigung gelesen und so verstanden, wie sie gemeint ist: Dass man nämlich das Ministerium für Familie und Senioren in Ruhe lassen möge.
Vielleicht kann die Fortsetzung deer Diskussion im Internet zur Unterbrechung des höchstamtlichen Tiefschlafs beitragen...

Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Heinz-Günther Borck
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(1)
§ 33
Zu dem Amt eines Schöffen sollen nicht berufen werden:
2. Personen, die das siebzigste Lebensjahr vollendet haben oder es bis zum Beginn der Amtsperiode vollenden würden;
(2)
Art. 19 (1) Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge kann der Rat im Rahmen der durch die Verträge auf die Union übertragenen Zuständigkeiten gemäß einem besonderen
Gesetzgebungsverfahren und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.
(3)
AGG vom 14. 8. 2006 i.d.F.v.3.4.2013)
(4)
§ 10 Zulässige unterschiedliche Behandlung wegen des Alters
Ungeachtet des § 8 ist eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters auch zulässig, wenn sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels müssen angemessen und erforderlich sein. Derartige unterschiedliche Behandlungen können insbesondere Folgendes
einschließen:
1.
die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besonderer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Bedingungen für Entlohnung und Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Beschäftigten und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen,
2.
die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur
Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile,
3.
die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung auf Grund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes oder auf Grund der Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand,
4.
die Festsetzung von Altersgrenzen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit als Voraussetzung für die Mitgliedschaft oder den Bezug von Altersrente oder von Leistungen bei Invalidität einschließlich der Festsetzung unterschiedlicher Altersgrenzen im Rahmen dieser Systeme für bestimmte Beschäftigte oder Gruppen von Beschäftigten und die Verwendung von Alterskriterien im Rahmen dieser Systeme für versicherungsmathematische Berechnungen,
5.
eine Vereinbarung, die die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt
vorsieht, zu dem der oder die Beschäftigte eine Rente wegen Alters beantragen kann; § 41 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch bleibt unberührt,
6.
Differenzierungen von Leistungen in Sozialplänen im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes, wenn die Parteien eine nach Alter oder Betriebszugehörigkeit gestaffelte Abfindungsregelung geschaffen haben, in der die wesentlich vom Alter abhängenden Chancen auf dem Arbeitsmarkt durch eine verhältnismäßig starke Betonung des Lebensalters erkennbar berücksichtigt worden sind, oder Beschäftigte von den Leistungen des Sozialplans
ausgeschlossen haben, die wirtschaftlich abgesichert sind, weil sie, gegebenenfalls nach Bezug von Arbeitslosengeld, rentenberechtigt sind.
(5)
Artikel 1,2 und 3 GG
(6)
Reichstagsprotokolle 1874, Anlagen Aktenstück Nr. 4,S. 2 ff.
(7)
Reichstagsprotokolle 1876 S. 229
(8)
RGBl 1877, S. 41-76
(9)
RGBl 1898, S. 371-409
(10)
Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Januar 1877 (RGBl. I S. 41) in der Fassung des Gesetzes vom 12. September 1950 (BGBl. S. 455), geändert durch Artikel 2 Nr. 5 lit. b und c des Gesetzes vom 9. Dezember 1974 (BGBl. I S. 3393) , der Nr. 2 und 3 in Nr. 3 und 4 umnummeriert und Nr. 2 (= die Altersdiskriminierung) eingefügt hat.
(11)
Im Internet am leichtesten aufzufinden unter https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/Tab
ellen/AltersgruppenFamilienstand.html

Link: Altersdiskriminierung von Schöffen + Alterspreis der Bosch-Stiftung
Quelle: Mail an die Redaktion