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+++ LSV Bremen: Vorschläge zur Gesundheitsreform

29.06.2013 - von Delegiertenversammlung LSV Bremen

Was Seniorenvertretungen leisten können! Auf einer gemeinsamen Sitzung der Arbeitskreise “Seniorenpolitik” und “Gesundheit”, die am 04.06.13 stattfand, hat die Landesseniorenvertretung Bremen nach drei Stunden der Beratung den nachfolgenden Antrag mehrheitlich beschlossen:

Antrag
Die Senioren-Vertretung in der Stadtgemeinde Bremen fordert, dass in der Bundesrepublik Deutschland umgehend eine nachhaltige
Gesundheitsreform eingeleitet wird. Unsere Gesellschaft benötigt ein neues gerechtes, transparentes, für alle Bürger/-innen verständliches, finanzierbares und langfristig greifendes System der Krankenversicherung.

1. Begründung:
1.1 Gesellschaftspolitisch ist es nicht mehr nachvollziehbar, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Zweiklassensystem, eigentlich schon ein Dreiklassensystem hat (Gesetzliche Krankenversicherung, Private Krankenversicherung und diese gegliedert in Prämien für gehobene Einkommen und den Prämien des Basistarifs in Angleichung der DKVLeistungen).

1.2 Die unterschiedlichen Krankenkassen (GKV, PKV) und deren Vielzahl, die in einem nicht mehr erforderlichen und
vertretbaren Maße Wettbewerb betreiben, führen zu hohen Ausgaben für Verwaltung und Marketing. Diese Ausgaben müssen von den Versicherten getragen werden, obgleich sie nicht dem ursprünglichen Zweck der Versicherung dienen, nämlich einen Beitrag zu leisten für die Wiederherstellung und Erhaltung der
Gesundheit.

1.3 Das System der Gesetzlichen Krankenversicherung enthält für die Versicherten Ungerechtigkeiten, z.B.:

  • 1.3.1 Einschränkungen bei der steuerlichen Absetzbarkeit für Zuzahlungen bei Therapien, Arzneimitteln und Rehabilitationsmaßnahmen.
  • 1.3.2 Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern müssen in Deutschland höhere Preise und volle Umsatzsteuer für Arzneimittel gezahlt werden.
  • 1.3.3 Bei Hilfsmitteln – mit Ausnahme der Sehhilfen – ohne nennenswerten Wettbewerb zwischen den Krankenkassen sind die Versicherten einer Hochpreissituation ausgeliefert.
  • 1.3.4 Es besteht hohe Eigenbeteiligung bei Zahnersatz wie Kronen, Zahnbrücken und Teil- oder Ganzprothesen, weil die Kassen höchstens 33% bis 40% der vom Zahnarzt in Rechnung gestellten Gesamtkosten übernehmen.
  • 1.3.5 Die „sprechende“ Medizin kommt für Kranke aus Gründen der Honorarbestimmungen der niedergelassenen Ärzte viel zu kurz.
  • 1.3.6 Der bürokratische Aufwand von Krankenhäusern, Krankenkassen (einschließlich des medizinischen Dienstes) ist viel zu hoch und personalintensiv und belastet die Beitragszahler.
  • 1.3.7 In vielen Landkreisen fehlen jedes Jahr mehr Hausärzte. Die mittlerweile gesetzlichen Regelungen sind Scheinregelungen, weil derzeit davon fast nichts umgesetzt ist.

  • 1.4 Die Diagnose bezogenen Fallpauschalen-Abrechnungen der Krankenhäuser führen zu häufig zu Falsch - und Mehrkostenabrechnungen.

    1.5 Die Anbieter-Monopole (Kassenärztärztliche Vereinigungen und Krankenhäuser) arbeiten jeweils für sich und versäumen, die im System enthaltenen Wirtschaftlichkeitsreserven zu berücksichtigen:

  • 1.5.1 Doppel- und Mehrfachuntersuchungen werden nicht vermieden. Schnittstellen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung werden nicht zielgerecht angenommen.
  • 1.5.2 Elektronische Versicherungskarten werden für Diagnostik und Therapie nicht allgemein genutzt.
  • 1.5.3 Die schnelle Operationsbereitschaft wird nicht kritisch genug gesehen und abgebaut. In Deutschland wird
    häufiger als in anderen Ländern operiert (ohne dass daraus der
    Schluss gezogen werden kann, die Deutschen seien besonders gesund).
  • 1.5.4 Die Angebote in ambulanten Fachzentren, mit denen die Zahl der Fehlbelegungen in Krankenhäusern um mindestens 10% gesenkt werden könnte, werden nicht ausgeschöpft.
  • 1.5.5 Die häufigen Verordnungen von Arzneimitteln (für ca. 5 Mrd. €), die ohne wissenschaftlich nachgewiesene Wirkung bleiben, wird nicht reduziert.
  • 1.5.6 Es wird nichts dagegen getan, dass jährlich Arzneimittel im Wert von ca. 2 Mrd. € vermüllt werden.

  • 1.6 Es herrscht im Gesundheitssystem ein hoher Einfluss von vielen unterschiedlichen Lobbyistengruppen. Dabei bleiben die Interessen der Versicherten auf der Strecke.

    2. Reform-Vorschläge
    Eine Gesundheitsreform lässt sich wegen der komplexen Sach- und Interessenlage nicht in kurzer Zeit realisieren. Deshalb beschränken sich die Vorschläge der Seniorenvertretung auf die
    Prioritäten, die für ein gerechtes und langfristig geltendes System gesetzt werden sollten.

    2.1 Keine Unterscheidungen zwischen privater und gesetzlicher Absicherung im Krankheitsfall, bei Vorsorgemaßnahmen und bei sinnvoller Prävention. Zukünftig muss das Ziel eine sozial gerechte Versicherung sein.

    2.2 Als qualitätsgesicherte Grundleistungen sollten zumindest gelten:

  • 2.2.1 die Behandlung bei den zugelassenen Haus-, Fach- und Zahnärzten und Institutionsambulanzen;
  • 2.2.2 ärztliche Psychotherapie;
  • 2.2.3 Notarztversorgung;
  • 2.2.4 Versorgung im Krankenhaus und die daraus resultierenden Rehabilitationsmaßnahmen;
  • 2.2.5 Versorgung durch Palliativ-Ambulanzen,
  • 2.2.6 Physiotherapie;
  • 2.2.7 Versorgung mit Arzneien, Heil- und Hilfsmitteln, Zahnersatz;
  • 2.2.8 Häusliche Krankenpflege, Krankengeld, Fahrtkosten für chronisch Kranke;
  • 2.2.9 gesetzlich festgelegte Präventionen

  • 2.3 Die Versicherungsbeiträge sollten entsprechend des individuellen Einkommens sozial abgestuft sein.

  • 2.3.1 ]Für Kinder werden die Beiträge aus dem Bundeshaushalt, wie bisher,finanziert.
  • 2.3.2 Der Arbeitgeber und die Rentenversicherungsträger sollten die Hälfte der Beitragshöhe des Mitgliedes bis zu einer Beitragsbemessungsgrenze der gegenwärtigen Höhe, die alle zwei Jahre angepasst wird, leisten.
  • 2.3.3 Die Leistungen sollten grundsätzlich von Ärzten und Krankenhäusern direkt mit der zuständigen Krankenkasse abgerechnet werden.
  • 2.3.4 Der Versicherte sollte ein Duplikat der Rechnung erhalten.
  • 2.3.5 Beanstandet er die Rechnung, muss er sich zunächst mit dem Leistungserbringer zur Klärung in Verbindung setzen. Erst danach erhält die Krankenkasse vom Versicherten die Begründung des Leistungserbringers.

  • 2.4 Für Ärzte, die in einer Praxis arbeiten,sollte eine einheitliche Gebührenordnung vom Gesetzgeber eingeführt werden. (Diese gilt heute bereits für Privatversicherte mit einem
    entsprechenden Multiplikationsfaktor.)

    2.5 Die Krankenhäuser sollten mit der/den Krankenkasse/-n einen jährlichen Vertrag über eine zu vereinbarende Vergütung abschließen. Diese sollte sich aus den wirtschaftlichen Anhaltszahlen, die zu den Kalkulationskosten
    führen, dividiert mit der kalkulierten Fallzahl aller Patienten des jeweiligen Krankenhauses ergeben. Den Preis nennt man „durchschnittliche Fallkosten“. Herausgehobene, sehr teure
    Leistungen müssen den Krankenhäusern als gesetzlich festgelegte
    Sonderentgelte vergütet werden.

    2.6 Für Behandlungskosten, die durch Extremsportarten anfallen und für die kein Dritter haftbar gemacht werden kann, sollten erhebliche Zuzahlungen je Unfall erhoben werden.

    2.7 Es sollten nur noch Medikamente verordnet werden,die in der empfohlenen Positivliste bei den Ärzten in den Praxen enthalten sind. Es erscheint als unsinnig, wenn der Arzt in der Praxis mit über 50.000 verschiedenen Medikamenten konfrontiert wird. Darüber hinaus wäre es sinnvoll, eine Einzelmengenverordnung gesetzlich zuzulassen (z.B. bis zu 20 Tabletten, im Regelfall 10 Stück je Beratung für Patienten, die nicht chronisch krank sind).

    2.8 Alle Grunddaten sowie medizinischärztliche Leistungen und Verordnungen sollten zur Reduzierung von Doppelbehandlungen und überflüssigen Medikamentationen auf elektronischen Versicherungskarten freiwillig vermerkt werden.

    2.9 Die Beiträge der Versicherten sollten ausschließlich für die Bewältigung der Grundleistungen zur Erhaltung und
    Wiederherstellung der Gesundheit, für eine qualitativ gute Diagnose und Therapie nach den neuesten medizinischen Erkenntnissen eingesetzt werden.

  • 2.9.1 Überflüssige, kostenaufwändige Strukturen
    (Kassenärztliche/Kassenzahnärztliche Vereinigungen, Krankenhausgesellschaften, Landesverbände der Krankenkassen etc.) sollten nicht mehr von den Versicherungsbeiträgen finanziert werden.
  • 2.9.2 Es sollte verboten werden, dass Werbemaßnahmen der Krankenkassen von den gesetzlichen Beiträgen der Versicherten, die zur Finanzierung von Grundleistungen gedacht sind, bezahlt werden.


  • Die Senioren-Vertretung in der Stadtgemeinde Bremen findet es an der Zeit und fordert, dass die unnötigen Strukturen im gegenwärtigen Gesundheitssystem beseitigt, fragwürdige und teils
    überflüssige medizinisch-ärztliche Maßnahmen unterlassen, die hohen Kosten gesenkt, Kostensteigerungen vermieden und bezahlbare Versicherungsbeiträge geschaffen werden.

    Wir erwarten von der Politik, dass sie diese Aufgabe schnell und zukunftsfähig, vielleicht mit einem „Gesundheitsplan 2020“,
    übernimmt und unabhängig von den Lobbyisten der Gesundheitswirtschaft und Pflegewirtschaft erledigt. Die Beteiligung der Länder und Kommunen für eine bessere Bedarfsplanung in der ärztlichen Versorgung ist zu stärken. Für die Zukunft ist die Versorgungsplanung an der Morbiditätsentwicklung und vor allem kleinräumigen
    Versorgungsplanung zu gestalten.

    Laut Beschluss der letzten Delegiertenversammlung werden die Delegierten im August dieses Jahres ohne weitere Diskussion entscheiden, ob dieser Antrag, der rechtzeitig zur Kenntnis kommt, sozusagen als Positionspapier der Bremer Seniorenvertretung gebilligt wird, damit beim Thema „Gesundheitsreform“ in wesentlichen Punkten mit einer Zunge gesprochen werden kann.

    (Quelle: G.Steffen, Referat, Tagung Bad Zwischenahn)

    Link: Phantompatienten, Gesundheitsfonds, Kopfpauschale: Her mit dem Geld…
    Quelle: Durchblick Nr. 162