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Pflegegeld + Pflegesachleistung dürfen unterschiedlich hoch sein

Cascais, 2013 Foto:H.S.

23.04.2014 - von Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -

Das Bundesverfasungsgericht hat entschieden: Die geringe Entlohnung, die Familienangehörige für die häusliche Pflege erhalten, verstößt nicht gegen das
Grundgesetz. Die Geldleistungen an komerzielle Kräfte dürfen höher sein. Das verstößt weder gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) entschieden die Richter der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, noch verstößt es gegen den Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG). Das Urteil ist eine gute Gelegenheit, auf die Resolution aufmerksam zu machen, die im März 2014 von ca. 500 TeilnehmerInnen auf dem care-revolution-Kongress in Berlin verabschiedet wurde. Darin heißt es u.a.:
Wer für wen sorgt, wie gut jemand für sich und andere sorgen kann, und wer wie viel Lohn und Anerkennung für geleistete Sorgearbeit erhält – all das ist entlang von Herrschaftsverhältnissen organisiert: Beispielsweise wird auf Grund patriarchaler Verhältnisse bezahlte wie unbezahlte Sorgearbeit noch immer eher Frauen zugewiesen, geht sie ihnen doch angeblich quasi ‚natürlich’ von der Hand.


siehe Care-Resolution unter: http://emanzipatorischelinke.wordpress.com/2014/03/20/keine-care-revolution-ohne-resolution/

Das Bundesverfassungsgericht sieht die Sache naturgemäß anders, nämlich so:

Sachverhalt und Verfahrensgang beim Bundesverfassungsgericht:
Die Beschwerdeführerinnen pflegten zuhause ihren Ehemann und Vater, der von seiner privaten Pflegeversicherung zuletzt Pflegegeld der Pflegestufe III bezog. Entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen sah der private Versicherungsvertrag vor, dass bei gleicher Pflegestufe das Pflegegeld in geringerer Höhe als der Wert der entsprechenden Sachleistung gewährt wird. In der maßgeblichen, bis zum 30. Juni 2008 geltenden Fassung betrug das Pflegegeld der Pflegestufe III 665 Euro,
Pflegesachleistungen waren bis zu einem Gesamtwert von 1.432 Euro erstattungsfähig.

Im sozialgerichtlichen Verfahren begehrten die
Beschwerdeführerinnen u. a. den Differenzbetrag zwischen dem Pflegegeld und der höheren Pflegesachleistung und machten die Verfassungswidrigkeit der unter¬schiedlichen Höhe beider Leistungen geltend. Die Klage blieb in allen Instanzen erfolglos.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:
1. Es liegt kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG vor.
a)
Als Vergleichsgruppen sind die Pflegebedürftigen zu betrachten, die sich für die Pflege im häuslichen Bereich bei gleicher Pflegestufe entweder für die Pflegesachleistung durch externe Pflegekräfte oder für das demgegenüber reduzierte Pflegegeld entscheiden. Diese Entscheidung beruht einerseits auf dem freien Willensentschluss der Pflegebedürftigen, berührt aber auch deren in Art. 6 Abs. 1 GG geschütztes Recht, die eigenen familiären Verhältnisse selbst zu gestalten. Die Ungleichbehandlung in der Höhe der gewährten Leistungen
muss daher durch hinreichende Sachgründe zu rechtfertigen sein. Diese liegen hier vor.
b)
Sich für ein System zu entscheiden, das den Pflegebedürftigen die Wahl lässt zwischen der Pflege in häuslicher Umgebung durch externe Pflegehilfen oder durch selbst ausgewählte Pflegepersonen, liegt in der
sozialpolitischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber verfolgt das Ziel, bei Sicherstellung einer sachgerechten Pflege die Möglichkeit der häuslichen Pflege zu fördern und ihr Vorrang vor stationärer Unterbringung zu geben. Dafür stellt er zwei unterschiedliche Leistungsmodelle zur Verfügung: Die häusliche Pflegehilfe ist eine Sachleistung, bei der die Pflegebedürftigen die Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch personelle Hilfe Dritter erhalten. Die Pflegekräfte müssen bei der Pflegekasse selbst oder bei einer zugelassenen ambulanten Pflegeeinrichtung angestellt sein oder als Einzelpersonen mit der Pflegekasse einen Vertrag geschlossen haben. Im Falle des Pflegegeldes hingegen erhalten die Pflegebedürftigen eine laufende Geldleistung, für die sie die erforderliche Grundpflege
und hauswirtschaftliche Versorgung in geeigneter Weise selbst sicherstellen müssen. Die Pflegepersonen sind dann je nach Wahl Angehörige des Pflegebedürftigen, ehrenamtliche Pflegepersonen oder mit dem Pflegegeld „eingekaufte“ professionelle Pflegekräfte, die aber in
keinem Vertragsverhältnis zur Pflegekasse stehen.
c)
Das Pflegegeld ist nicht als Entgelt ausgestaltet. Es soll vielmehr im Sinne einer materiellen Anerkennung einen Anreiz darstellen und zugleich die Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen stärken, indem diese das Pflegegeld zur freien Gestaltung ihrer Pflege einsetzen können. Während der Zweck der sachgerechten Pflege im Fall der Pflege-sachleistung nur bei ausreichender Vergütung der Pflegekräfte durch die Pflegekasse sichergestellt ist, liegt der Konzeption des Pflegegeldes der Gedanke zugrunde, dass familiäre, nachbarschaftliche oder ehrenamtliche Pflege unentgeltlich erbracht wird. Der Gesetzgeber darf davon ausgehen, dass
die Entscheidung zur familiären Pflege nicht abhängig ist von der Höhe der Vergütung, die eine professionelle Pflegekraft für diese Leistung erhält. Die gegenseitige Beistandspflicht von Familienangehörigen rechtfertigt es, das Pflegegeld in vergleichsweise niedrigerer Höhe zu
gewähren.
d)
Der Gesetzgeber hat mit der unterschiedlichen finanziellen
Ausgestaltung entgegen dem Vortrag der Beschwerdeführerinnen weder einen Anreiz für Familienangehörige geschaffen, sich der familiären Pflege zu entledigen, noch bestraft er willkürlich den Wunsch Angehöriger zur familiären Pflege. Zwar ist der Anreiz zur Pflegebereitschaft umso größer, je mehr der Staat an finanzieller Unterstützung bereitstellt.
Daraus erwächst aber kein Anspruch auf finanzielle Förderung oder auf Anhebung des Pflegegeldes auf den Wert der Sachleistung. Der Gesetzgeber darf die Förderung des familiären Zusammenhalts vielmehr auch dadurch
verwirklichen, dass er den Pflegebedürftigen die Wahl zwischen den verschiedenen Formen der Pflege lässt, und wegen der besonderen Pflichtenbindung von Familienangehörigen das Pflegegeld lediglich als materielle Anerkennung vorsieht.

2. Aus Art. 6 Abs. 1 GG ergibt sich nichts anderes. Der Schutz von Ehe und Familie umschließt zwar auch im Bereich der Sozialversicherung die Aufgabe, den wirtschaftlichen Zusammenhalt der Familie zu fördern. Anders als die Beschwerdeführerinnen meinen, geht die Förderungspflicht des Staates aber nicht so weit, dass es dem Gesetzgeber verwehrt wäre, für die nichtfamiliäre professionelle Pflege höhere Sachleistungen
bereitzustellen. Ein derartiges Begünstigungsverbot ergibt sich schon deshalb nicht aus Art. 6 Abs. 1 GG, weil das niedrigere Pflegegeld nicht nur die Pflege durch Familienangehörige betrifft. Vielmehr kann die Pflege auch durch nichtfamiliäre ehrenamtliche oder erwerbsmäßige
Pflegekräfte erbracht werden. Aber auch insoweit die Pflege in erster Linie durch Angehörige erfolgt, lassen sich aus der Förderungspflicht der Familie keine konkreten Ansprüche auf bestimmte staatliche Leistungen herleiten.

Beschluss vom 26. März 2014
1 BvR 1133/12

Link: Pflege der Eltern: Unterschiedliche Reaktionen der Geschwister
Quelle: Pressemitteilung Nr. 36/2014 vom 17. April 2014