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Stendal: Der Lebensraum des Großstadtkindes

Lüttich, 2012 Foto: H.S.

27.11.2015

Die Fachtagung an der Hochschule Magdeburg-Stendal, bei dem renommierte Vertreterinnen und Vertreter der Kindheitsforschung zusammenkommen, dient dazu, ausgehend der klassischen Studie "Der Lebensraum des Großstadtkindes" (Muchow & Muchow 1935) Perspektiven für heutige Forschungsarbeiten im Schnittbereich von Entwicklungspsychologie und Kindheitswissenschaften zu diskutieren.

Mitwirkende: Dr. Imbke Behnken, Prof. Dr. Elfriede Billmann-Mahecha, Prof. Hannelore Faulstich-Wieland, Prof. Dr. Peter Faulstich, Prof. Dr. Beatrice Hungerland, Prof. Dr. Günter Mey, Prof. Dr. Gerold Scholz, Prof. Dr. Kristin Westphal.

27.-28. November, Hochschule Magdeburg-Stendal

Organisation/Kontakt
Prof. Dr. Günter Mey
Hochschule Magdeburg-Stendal
Angewandte Humanwissenschaften
Osterburger Straße 25
39576 Hansestadt Stendal
E-Mail: guenter.mey(at)hs-magdeburg.de

Ausgangspunkt der Tagung bildet die Studie "Der Lebensraum des Großstadtkindes", die in den 1920ern Jahren begonnen und Mitte der 1930er Jahren als Forschungsbericht in Buchform veröffentlicht wurde (Muchow & Muchow 1935)[1]. Die Studie zeichnete sich für die damalige Forschungslandschaft durch gleich drei wesentliche Akzentuierungen aus (siehe dazu ausführlich: Mey 2001, 2012, 2013; für die Darstellung des Gesamtwerks von Martha Muchow siehe Faulstich-Wieland & Faulstich 2012):[2]

Kinder wurden als handelnde Akteure verstanden, wie in den heutigen sozialwissenschaftlichen Diskussion mit dem Leitbild des produktiv-realitätsverarbeitenden Subjekts gängig;
zweitens wurden Lebensbedingungen/Umwelten nicht als determinierend aufgefasst, sondern gefragt, wie Kinder sich ihre Lebenswelt aneignen (im Sprachgebrauch von Muchow diese "umschaffen") und damit Lebensraum als Handlungs- und Sozialraum, weitergehend als Sozialisationsraum konzipiert, der die Lebenslage und Weltzugänge von Kindern anerkennt. Schließlich wurde für ein innovatives methodisches Vorgehen plädiert, mittels derer die Akteure ihre Sichtweise darlegen können und der Alltags- und Lebensweltbezug berücksichtigt wird, wie dies heute dem Programm einer qualitativen Forschungsperspektive entspricht.

Die Studie "Der Lebensraum des Großstadtkindes" wurde von Martha Muchow in Hamburg-Barmbek durchgeführt; die Dokumentation als "Ergebnisbericht" der jahrelang erhobenen Forschungsbefunde wurden dann - nach ihrem Suizid angesichts der Repressalien durch das nationalsozialistische Regime - durch ihren Bruder Hans Heinrich Muchow vorgenommen; lange Zeit war die Veröffentlichung "verschwunden" und wurde erst Ende der 1970er Jahre wieder entdeckt und neu aufgelegt (hrsg. von und mit einem umfänglichen Einleitungskapitel von J. Zinnecker versehen); nachdem Ende der 1990er eine erweiterte Ausgabe (ebenfalls hrsg. von J. Zinnecker) vorgelegt wurde wird diese aktuell in einer Neuauflage (hrsg. von I. Behnken & M.-S. Honig) verfügbar gemacht (zur Geschichte der Studie im Überblick nochmals Mey 2001 und 2012; Zinnecker 1978; zur Frage von Wissenschaft im Nationalsozialismus Geuter 1988).[3]

Trotz aller Prominenz der Studie und dass diese zu einer Standardreferenz aktueller Arbeiten im Schnittbereich von Kindheitssoziologie, Entwicklungspsychologie, allgemeiner kindheitswissenschaft¬licher Forschungsbemühungen geworden ist, ist eine eingehendere Auseinandersetzung unter einer interdisziplinären Perspektive mit dieser Studie interessant und mit Blick auf künftige Forschungs¬arbeiten in den jeweiligen Themenfeldern, die sich im Forschungsfeld "Neue Kindheitsforschung" unerlässlich.

Die Notwendigkeit einer weitergehenden Diskussion um diese Forschungsarbeiten ergibt sich aus mehreren Gründen:

Hans Heinrich Muchow schreibt selbst, dass er aufgrund der Umstände der Publikation eben nur ein "Fragment" der Fachöffentlichkeit überliefern konnte; die für die Studie wesentlichen theoretischen Ansätze (Phänomenologie/Lebensraumkonzeptionen/Umwelttheorien aus Psychologie und Raumsoziologie sowie kindheitswissenschaftliche Konzepte) wurden nur erwähnt (bzw. lassen sich aufgrund anderer Arbeiten von Muchow vermuten), ohne deren Relevanz für die Forschungsergebnisse systematisch zu reflektieren.

Darüber hinaus finden die mit der Studie verbundenen Akzentuierungen und vorgeschlagenen (z.T. impliziten) Perspektivenwechsel bislang ebenfalls immer wieder Erwähnung, ohne aber dass eine systematische Erörterung stattgefunden hat, die diese in ihren damaligen Entstehungs- und Begründungszusammenhang stellt noch systematisch danach fragt, welche Perspektiven für künftige Forschungsarbeiten angesichts sozialen Wandels von Kindheit daraus erwachsen könnten - und wie die innovativen Vorgehensweisen für heutige Fragestellungen "transformiert" werden können/müssen.

Ferner finden sich mit wenigen Ausnahmen (so ein APA-Symposium zu "In honour to Martha Muchow" Mitte der 1980er Jahre) kaum Bezugnahmen in der internationalen Forschung, auch weil die Studie bislang nicht in Englisch verfügbar ist.

Ziel der Tagung ist es, eben diese Desiderate aufzugreifen und die Studie aus verschiedenen theoretischen und methodologischen Blickwinkeln einzuordnen sowie nach deren Relevanz für aktuelle und zukünftige Perspektiven zur Forschung zu Kindheit im Schnittbereich von Kindheitswissenschaften und Soziologie der Kindheit zu fragen, mit der im heutigen Verständnis Kindheit immer mit Blick auf die generationale Ordnung zu thematisieren und zu reflektieren ist, wie dies in Theorien und methodischen Umsetzungen angemessen konzeptualisiert werden kann.

Abschließender Hinweis: Eingebettet ist die Veranstaltung in dem Vorhaben, die klassische "Lebensraum"-Studie erstmals in englischer Übersetzung - 2013 bei Transaction Publisher - vorzulegen. In dem Band werden neben der Studie aktuelle Beiträge versammelt, die diese Arbeit in ihren (psychologie-) historischen Bezügen und ihre Relevanz für die aktuelle (entwicklungs-) psychologische und kindheitswissenschaftliche und -soziologische Diskussion einordnen helfen sollen. Zudem wird die Veranstaltung per Video aufgezeichnet.

[1] Muchow M. & Muchow, H. H. (1935): Der Lebensraum des Großstadtkindes (Reprint 1978). Bensheim: päd extra.

[2] Mey, G. (2001): Auf den Spuren von Martha Muchow. Psychologie und Geschichte 9, 107-122. / Mey, G. (2012): Auf den Pfaden von Martha Muchow. In: M. Muchow & H. H. Muchow, Der Lebensraum des Großstadtkindes (Neuauflage, hrsg. Von I. Behnken & M.-S. Honig, S.179-192). Weinheim: Juventa. / Mey, G. (2013/im Druck). "Der Lebensraum des GRoßstadtkindes" - Eine Pionierarbeit zu Forschung von kindlichen Lebenswelten. In K. Westphal & B. Jörissen (Hrsg.), Vom Strassenkind zum Medienkind. Raum- und Medienforschung im 21. Jahrhundert. Weinheim: Juventa. / Faulstich-Wieland, H. & Faulstich, P. (2012): Lebenswege und Lernräume. Martha Muchow: Leben, Werk und Weiterwirken. Weinheim: Juventa.

[3] Zinnecker, J. (1978): Recherchen zum Lebensraum des Großstadtkindes. Eine Reise in verschüttete Landschaften und Wissenschaftstraditionen. In: M. Muchow & H. H. Muchow, Der Lebensraum des Großstadtkindes (S. 10-41). Bensheim: päd extra. / Geuter, U. (1988): Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp.