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Bundestag genehmigt Forschung an Demenzkranken

Puimisson Foto: H.S:

10.11.2016

Im Bundestag fand nun schon am Mittwoch die Abstimmung über die umstrittene Neuregelung für klinische Studien in der Demenzforschung statt. 630 Abgeordnete stimmten ab. Die Mehrheit war dafür, die gruppennützige klinische Prüfung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen (§ 40b Abs. 4 AMG-E) zuzulassen.
Bisher war die Demenzforschung an Demnzkranken hierzulande dann verboten, wenn nicht der Kranke selbst, sondern nur andere erkrankte Menschen einen Nutzen davon haben.

Für die Entscheidung über diesen Tabubruch galt für die Abgeordneten keine Fraktionsdisziplin.

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Arzneimittelrechtliche Vorschriften (2. Lesung)
Die Möglichkeiten für Arzneimittelstudien an Demenzkranken sollen nach dem Willen des Bundestages erweitert werden. In zweiter Lesung nahmen die Abgeordneten am Mittwoch, 9. November 2016, in Berlin einen Änderungsantrag (18/10235) zu einer Arzneimittelreform an, demzufolge sogenannte gruppennützige Studien an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen (zum Beispiel Demenzkranken), die den Teilnehmern selbst keine Vorteile bringen, künftig unter bestimmten Bedingungen erlaubt sein sollen. Voraussetzung ist eine Vorabeinwilligung der Probanden und eine verpflichtende ärztliche Beratung dazu.
Zwei Änderungsanträge abgelehnt

Dem Abstimmungsverfahren in der zweiten Beratung lag eine Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschusses zugrunde (18/10056). Ein konkurrierender Änderungsantrag mit dem Ziel, das gesetzliche Verbot für solche Studien zu erhalten (18/10233), fand keine Mehrheit. Für die mit Spannung erwartete Abstimmung war der Fraktionsdisziplin aufgehoben worden. Der Gesetzentwurf (18/8034) insgesamt soll nun am Freitag, 11. November, in dritter Lesung endgültig beschlossen werden.

In der namentlichen Abstimmung am 9. November lehnten die Abgeordneten den ersten Änderungsantrag (18/10233) von 155 Abgeordneten aller vier Fraktionen um Uwe Schummer (CDU/CSU), Ulla Schmidt (SPD), Kathrin Vogler (Die Linke) und Kordula Schulz-Asche (Bündnis 90/Die Grünen) ab, demzufolge es bei der jetzigen restriktiven Regelung bleiben sollte, mit 321 Nein-Stimmen bei 254 Ja-Stimmen bei acht Enthaltungen ab.

Der zweite Änderungsantrag (18/10234) der Abgeordneten Hilde Mattheis und Sabine Dittmar (beide SPD), der die gruppennützige Forschung mit Probandenverfügung und optionaler ärztlicher Beratung vorsah, wurde im Anschluss mit 508 Nein-Stimmen, 69 Ja-Stimmen und vier Enthaltungen abgelehnt.
Mehrheit für zwei weitere Änderungsanträge

Der erfolgreiche dritte Änderungsantrag (18/10235) der Abgeordneten Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU), Prof. Dr. Dr. Karl Lauterbach (SPD) sowie der Unionsabgeordneten Maria Michalk, Hermann Gröhe, Ingrid Fischbach, Annette Widmann-Mauz und Rudolf Henke erhielt schließlich 330 Ja-Stimmen. 243 Abgeordnete votierten mit Nein, acht enthielten sich der Stimme.

Der CDU-Abgeordnete und frühere Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe, der sich dafür einsetzt, es bei dem Forschungsverbot zu belassen, brachte kurzfristig einen weiteren Änderungsantrag (18/10236) ein mit dem Ziel, das Schutzniveau für nicht einwilligungsfähige Minderjährige und Erwachsene bei klinischen Prüfungen zu erhöhen. So müsse rechtssicher festgestellt werden, dass auch nonverbal geäußerte Ablehnungen, etwa ablehnende Gesten, für die Studienteilnahme zu beachten seien. Dieser Änderungsantrag fand im Plenum eine breite Mehrheit.

Mehrheit erst nach "Hammelsprung"
Die Abstimmung über den gesamten fraglichen Passus in zweiter Lesung fiel zunächst nicht eindeutig aus, weshalb Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (SPD) einen "Hammelsprung" anordnete, um Klarheit zu schaffen. Im Ergebnis waren 327 Abgeordnete für den geänderten Passus, 251 dagegen, drei enthielten sich der Stimme. Schließlich stimmten die Abgeordneten auch dem gesamten Gesetzentwurf in zweiter Lesung mehrheitlich zu.

Vor der Abstimmung hatten zahlreiche Abgeordnete die Möglichkeit genutzt, in einer ausgesprochen lebhaften Debatte ihre Position nochmals deutlich zu machen und für den aus ihrer Sicht besten Änderungsantrag zu werben. Dabei stellten verschiedene Redner heraus, dass es gut sei, in dieser Offenheit und ohne parteitaktische Überlegungen über das komplexe ethische Thema zu sprechen. Im Mittelpunkt der Redebeiträge stand die Frage, ob die Ausweitung der Forschung überhaupt nötig ist und das jetzt hohe Schutzniveau der Patienten auch künftig garantiert werden kann.

"Wir vertrauen Ärzten"
Bundesgesundheitsmister Hermann Gröhe (CDU) betonte, es gehe im Kern um den Schutz der Patienten und den Zugang zum medizinischen Fortschritt, aber nicht um eine Abgrenzung zwischen Lebensschutz und Forschungsfortschritt. Eine Verzweckung von Menschen für die Forschung dürfe es nicht geben. Die Schutzvorschriften für klinische Prüfungen seien in Deutschland strenger als irgendwo sonst in der Europäischen Union, und daran werde sich auch nichts ändern. Daher empfinde er die forschungsfeindlichen Töne als bedrückend.

Gröhe betonte: "Wir vertrauen Ärzten und ihrem ethischen Kompass." Die Mediziner hätten es nicht verdient, unter Generalverdacht gestellt zu werden. Es gehe darum, das Leben von Menschen mit Demenz zu verbessern, die Krankheit besser zu verstehen und irgendwann heilen zu können. Dazu sei Forschung wichtig, aber auch der Schutz der Menschen.

"Es geht auch um das Selbstbestimmungsrecht"
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) sprach von einer ethischen Dimension des Themas, das sich aber nicht für eine Skandalisierung eigne. Es gehe darum, eine EU-Verordnung zu präzisieren. Niemand werde zur Teilnahme an solchen Studien gezwungen. Es bestehe auch jederzeit die Möglichkeit zum Ausstieg, auch dann, wenn jemand nur seinen Unwillen deutlich mache.

Viele Studienteilnehmer wollten etwas für andere Betroffene tun, aus rein altruistischen und auch christlichen Motiven heraus. Insofern gehe es hier auch um das Selbstbestimmungsrecht. Es sei der falsche Ansatz, wenn der Staat verbiete, Altruismus auszuüben.
,,Ein Gebot der Humanität"

Auch Dr. Petra Sitte (Die Linke) plädierte dafür, die Forschung nicht einzuschränken und verwies auf persönliche Erfahrungen mit ihrem Vater, der an der Alzheimer-Erkrankung gelitten habe. Er habe unbedingt an einer solchen Studie teilnehmen wollen, auch wenn sie ihm persönlich nichts genutzt habe.

Sitte betonte, weder der persönliche Nutzen noch der Fremdnutzen könne bei solchen Studien garantiert werden. Sie fügte hinzu, es könne nicht von einem möglichen systematischen Missbrauchspotenzial gesprochen werden. Es sei vielmehr ein Gebot der Humanität, aus der Perspektive der fortgeschritten Erkrankten zu handeln.

"Guter Standort für die Arzneimittelforschung"
Kathrin Vogler (Die Linke), die für die Beibehaltung der restriktiven Regelung warb, erinnerte hingegen an die "dunkle Seite der Forschung". Dazu müsse man nicht bis zu den Menschenversuchen der Nazis zurückgehen. Auch nach 1945 habe es in Deutschland ethisch bedenkliche Forschung gegeben. Im Übrigen habe der Bundestag erst 2013 einstimmig beschlossen, das Schutzniveau uneingeschränkt zu erhalten.

Der jetzige Gesetzentwurf widerspreche dem. Es gebe auch keinen vernünftigen Grund, den Schutz für diese Patientengruppe zu vermindern. So gebe es kein Forschungsvorhaben, das unter den jetzt geltenden Bedingungen nicht hätte umgesetzt werden können. Deutschland sei ein guter Standort für die Arzneimittelforschung, gerade wegen des hohen Schutzniveaus.

"Schutzstandards nicht aufweichen"
Auch Hubert Hüppe erinnerte an den Beschluss von 2013 und warnte nachdrücklich davor, die Schutzstandards aufzuweichen. Er räumte ein, damals für die gruppennützige Forschung an Kindern votiert zu haben, weil er gemeint habe, dies sei wissenschaftlich unabdingbar.

Heute sehe er dies vor dem Hintergrund einer womöglich ausgeweiteten Forschung kritisch. In manchen Studien sei auch nicht garantiert, dass die Patienten schonend behandelt würden. So wehrten sich etwa Alzheimer-Patienten oft gegen bestimmte Untersuchungen und wollten auch nicht aus ihrer gewohnten Umgebung heraus.

"Besonderes Schutzniveau unverzichtbar"
Ulla Schmidt (SPD) lobte wie andere Redner auch, dass so ausführlich im Bundestag über diese wichtige Fragestellung diskutiert werde. Jedoch habe es seit 2013 einen Konsens gegeben, dass Studien an nicht einwilligungsfähigen Patienten nur dann erlaubt seien, wenn sie einen persönlichen Nutzen davon hätten. Dieses besondere Schutzniveau sei unverzichtbar.

Sie gab außerdem zu bedenken, dass jeder Studienteilnehmer das Recht habe, jederzeit aus einer Studie wieder auszusteigen. Nicht Einwilligungsfähige könnten das aber nicht. Hier solle ohne fachlichen Grund eine Grenze überschritten werden.

"Maximaler Schutz für die Teilnehmer"
Auch Kordula Schulz-Asche von den Grünen sprach sich dafür aus, die jetzige restriktive Regelung beizubehalten. Demenzielle Erkrankungen breiteten sich zwar immer mehr aus, und viele Menschen hätten Angst davor. Auch sei Demenz bisher nicht heilbar. Ihre Eltern hätten auch beide an Demenz gelitten. Sie habe daher auch Interesse an mehr Wissen über diese Erkrankung. Es gehe zugleich aber auch um den maximalen Schutz der Teilnehmer. Die jetzige Gesetzeslage erlaube sowohl Forschung als auch Schutz. Es gebe keinen Grund, die bisherigen gesetzlichen Grundlagen ohne Not zu ändern.

Die Grünen-Politikerin betonte: "Man sollte keine bewährten Gesetze ändern, wenn es dafür keine triftigen Gründe gibt." Sie kritisierte überdies, dass in dem Gesetzentwurf vorgesehen sei, die Ethikkommissionen, die über jede Studie entscheiden müssen, zu entmachten. Dies sei "ethisch fragwürdig".

"Selbstverwirklichung, nicht Verzweckung"
Karl Lauterbach (SPD) warb für mehr Forschung und argumentierte, Demenz müsse auch im fortgeschrittenen Stadium erforscht werden. Es wäre sonst die einzige Krankheit, die nur im frühen Stadium untersucht werde. Es gehe nicht um Verzweckung, sondern um Selbstverwirklichung, wenn Menschen sich dafür entscheiden, an einer solchen Studie teilzunehmen.

Auch Hilde Mattheis (SPD) versicherte, die hohen Schutzstandards würden nicht gesenkt, sondern seien auch durch die Ethikkommissionen gewährleistet. Sie fügte hinzu, die Grenzen zwischen gruppennütziger und eigennütziger Forschung seien fließend. Wenn es erlaubt sei, mit Minderjährigen zu forschen, dann könne auch ein Erwachsener vorab verfügen, dass er später an einer solchen Studie teilnehmen wolle.

Heftige Kontroversen um den Gesetzentwurf
Seit Monaten sorgt der Gesetzentwurf der Bundesregierung für heftige Kontroversen im Bundestag und in der Öffentlichkeit. Die geplante erweiterte Möglichkeit für klinische Arzneimittelstudien an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen hatte heftigen Widerspruch bei Ethikern, Kirchen und Behindertenverbänden ausgelöst und war auch im Parlament so umstritten, dass die Vorlage vor der Sommerpause wegen weiteren Beratungsbedarfs mehrfach kurzfristig wieder von der Tagesordnung des Plenums genommen wurde. Kritiker der Gesetzgebung setzten eine zweite öffentliche Anhörung durch, die Mitte Oktober stattfand und in der die drei konkurrierenden Änderungsanträge beraten wurden.

Formal geht es bei dem "vierten Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften" um die Umsetzung einer EU-Verordnung (Nr. 536/2014). In der EU-Verordnung wird diese Form der gruppennützigen Forschung erlaubt. Allerdings bleibt es den EU-Staaten vorbehalten, auf nationaler Ebene strengere Regeln zu beschließen. Die Erlaubnis mit Vorabverfügung wäre ein Kompromiss zwischen dem bisher in Deutschland geltenden Verbot und der auf EU-Ebene angestrebten liberaleren Regelung.

An strenge Voraussetzungen geknüpft
Ohnehin sind solche klinischen Prüfungen in Deutschland an strenge Voraussetzungen geknüpft. So müssen Ethikkommissionen über jede Studie befinden. Jedoch ist in der Novelle auch vorgesehen, dass die Ethikkommissionen künftig nicht mehr das letzte Wort in dieser Sache haben, sondern von einer sogenannten Bundesoberbehörde überstimmt werden können. Auch dies ist umstritten.

In der zweistündigen Anhörung hatten Befürworter der weniger strikten EU-Regelung argumentiert, dass ohne diese Art der Forschung an Demenzpatienten auf wichtige Erkenntnisgewinne verzichtet würde. Außerdem sei die gruppennützige Forschung bei Minderjährigen seit der zwölften Novellierung des Arzneimittelgesetzes (AMG) im Jahre 2004 in Deutschland auch explizit zugelassen.

"Demenzkranke besonders schützenswert"
Gegner der Novelle geben zu bedenken, dass gerade die unter Demenz leidenden Menschen besonders geschützt werden müssten und aus medizinischer Sicht diese Grundlagenforschung an anderen Patientengruppen geleistet werden könne, die noch einwilligungsfähig seien. Strittig war auch die Frage, ob eine vorab geleistete allgemeine Einwilligung, zu einem späteren Zeitpunkt an einer solchen Studie teilzunehmen, rechtlich und ethisch vertretbar wäre, obwohl der Proband noch gar nicht weiß, um welche Studie es später genau gehen wird.

Der Gesundheitsausschuss des Bundestages hatte den Gesetzentwurf, der auf rund 60 Seiten diverse Arzneimittelregelungen beinhaltet, bereits Ende September in geänderter Fassung mehrheitlich gebilligt, zugleich aber eine getrennte parlamentarische Befassung zu dem Passus der geplanten Forschung an nicht einwilligungsfähigen Patienten auf den Weg gebracht. (pk/09.11.2016)

Link: Demenzkranke als Versuchskaninchen