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Zur Situation von hochaltrigen und pflegebedürftigen Menschen

Foto: H.S.

04.05.2020 - von Jan Steinhaußen

Brief der Landeseniorenvertretung Thüringen an das Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, Ministerin Frau Heike Werner und Staatssekretärin Ines Feierabend
Montag, 4. Mai 2020

Sehr geehrte Frau Ministerin Werner, sehr geehrte Frau Staatssekretärin Feierabend,
wir erleben in dieser für ältere Menschen schwierigen und irritierenden Zeit auch viele ermutigende Beispiele von Engagement und Initiative, die uns positiv in die Zukunft sehen lassen, auch wenn wir, gerade was die virale Gefährdung von Hochaltrigen betrifft, noch lange Zeit mit Unsicherheiten leben werden müssen.

Das Sozialministerium und Sie als seine Ministerin und Staatssekretärin haben hier ganz gewiss eine besondere Bedeutung für die Krisenbewältigung. Der Pandemie-, Infektions- und Katastrophenschutz, der gesamte Gesundheitsbereich, die Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, die Gesundheitsämter, besonders belastete soziale Gruppen und vieles andere mehr fallen in Ihren Verantwortungsbereich.
Wir sehen, mit welch hohem persönlichem Einsatz Sie in diesen Tagen und Wochen für
Handlungssicherheit sorgen und Orientierung geben. Insofern möchten wir uns bei Ihnen und Ihren MitarbeiterInnen im Ministerium bedanken, dass ein hohes Maß an Versorgungs- und
Handlungssicherheit für ältere Menschen besteht. Wir bekommen diese Wertschätzung von unseren Mitgliedern gespiegelt und übermitteln sie Ihnen in diesem Sinne.

Wir hatten unsere Mitglieder, d. h. die Seniorenbeauftragten und die kommunalen Seniorenbeiräte, kürzlich auf die besondere Situation von hochaltrigen Menschen, insbesondere von einsam lebenden und pflegebedürftigen Menschen hingewiesen, und sie aufgefordert, sich für sie in den Kommunen in besonderen Maße zu engagieren.

Es besteht die paradoxe Situation, dass die Virenschutzmaßnahmen einerseits besonders auf vulnerable soziale Gruppen abzielen, dass andererseits aber gerade sie, d. h. isoliert lebende Hochaltrige wie kaum eine andere Bevölkerungsgruppe unter diesen leiden. Isolation, Kontaktsperren, die eingeschränkte Kommunikation innerhalb von Pflegeeinrichtungen, die Schließung von Tagespflegeeinrichtungen und Begegnungsstätten sind für sie ein eklatantes Exklusions-, Krankheits- und Mortalitätsrisiko, das die
Lebensqualität im elementar Menschlichen beeinflusst.

Seitdem gibt es verschiedene Aktionen von sozialen Dienstleistern und Pflegekräften, die auch von pflegenden Angehörigen sowie von Seniorenbeiräte und Seniorenbeauftragte begleitet und unterstützt wurden. In Suhl und Hildburghausen gibt es mit Unterstützung der Seniorenbeauftragten eine öffentliche Telefonsprechstunde für SeniorInnen, im Landkreis Hildburghausen musizieren Jugendliche für Menschen in Pflegeeinrichtungen, in Jena bemüht sich die Altenhilfeplanerin undSeniorenbeauftragte um individuelle Konzepte für die Öffnung von Begegnungsstätten. Uns sind gute weitere Beispiele und das hohe Engagement aus Pflegeeinrichtungen bekannt.

Wir möchten Sie dennoch um Folgendes bitten:
1. Wir hatten als Landesseniorenrat im letzten Jahr Thesen für die Formulierung einer modernen Landespflegepolitik verfasst, die u. a. auch auf die Isolierung und die Exklusionsrisken von Pflegebedürftigen hinwiesen. Diese Risiken und Gefährdungen sind durch die Coronakrise noch viel deutlicher hervorgetreten.
Durch verschiedene politische Konstellationen hat diese Diskussion um eine moderne Pflegepolitik keine Fortsetzung gefunden, jedenfalls waren wir in keine weitere Diskussion involviert.
Unseres Erachtens sollte sie unbedingt auch in der verkürzten Amtszeit der jetzigen Regierung und unter den schwierigen krisenbedingten Arbeitsbedingungen fortgesetzt werden, d. h., wir sahen und sehen nach wie vor einen dringenden Handlungsbedarf, sich mit diesen Thesen und generellen Exklusionsrisiken von Pflegebedürftigen auseinanderzusetzen.

2. Alle Thüringer Verordnungen über erforderliche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 sowie alle Pressemitteilungen zu diesen Maßnahmen sollten die besondere Lebenslage von Hochaltrigen und Pflegebedürftigen sowie deren Angehörigen berücksichtigen. Es geht auch um politische Ansprachen gegenüber einer Bevölkerungsgruppe, die keine „Systemrelevanz“ besitzt und wenig Ermutigung erfährt. Insofern birgt das Sprechen über „Systemrelevanz“ immer auch Gefahren von Stigmatisierung und Ausgrenzung mit sich.

3. Pflegepersonal berichtete uns in diesen Tagen von auffälligen Verhaltensänderungen von Pflegebedürftigen. Die mobilen und sprachlichen Fähigkeiten nehmen ab, während aggressives Verhalten zunimmt. Alltagskompetenzen nehmen dramatisch in dem Maße ab, wie Hochaltrige isoliert sind, keine adäquate betreuerische, soziale, kommunikative und therapeutische Zuwendung erfahren.
Vor diesem Hintergrund müssen u. E. Entscheidungen für isolierende Schutzmaßnahmen in Pflegeeinrichtungen sowie das Schließen von Tagespflegeeinrichtungen abgewogen werden, was angesichts der begrenzten Lebensperspektive von Hochaltrigen als menschenwürdig zumutbar ist. Die humanitären Perspektiven für die Gemeinschaft können inhumane Folgen für den Einzelnen haben. Dieses Dilemma ist schwer erträglich und kann nicht ausschließlich zugunsten der Gemeinschaft entschieden werden.
Hochaltrige und pflegebedürftige Menschen leben im Hier und Jetzt. Aus einer begrenzten Lebensperspektive kann es für Hochaltrige sinnvoller und humaner erscheinen, Kontakte zu Verwandten zu erleben, als sich restriktiven Isolierungsmaßnahmen zu unterwerfen, die Leid und Depressionen induzieren, wobei selbstverständlich bei allen Kontakten die Risiken für die Gemeinschaft und das Pflegepersonal zu bewerten sind.

Die Berücksichtigung individueller Wünsche am Lebensende, einrichtungsbezogene Öffnungsmaßnahmen, die die örtlichen Gegebenheiten berücksichtigen und die mit der Einhaltung von Hygienevorschriften kompatibel sind, digitale und über Bild übertragene und analoge Kontakte müssen möglich sein.Dafür müssten positive Beispiele dringend publiziert und entsprechende Aktivitäten von Dienstleistern, Angehörigen, Kommunen und zivilgesellschaftlichen Akteuren unterstützt werden.

In den Öffnungsabwägungen sind auch für Hochaltrige und ältere Menschen wichtige Behandlungs-, Begegnungsorte- und -zentren, Tagespflegeeinrichtungen sowie Hospize zu berücksichtigen. Für sie müssen besondere Hygienekonzepte und Schutzregeln entwickelt werden. Eine Begegnung am Lebensende, im Sterbensfall muss unter allen Umständen immer möglich sein. Einschränkungen bei Trauerfeiern sind schwer hinnehmbar.

4. Die Arbeit des Landespflegeausschusses oder eines alternativen Gremiums kann in dieser Zeit nicht ruhen. Wir sind als Landesseniorenrat in dieser Zeit von nahezu allen Informations-, Beratungs- und Entscheidungssettings ausgeschlossen.
Soziale Dienstleister berichteten uns zwar, dass es telefonische oder digitale Clustertelefonkonferenzen zwischen Verwaltung, Kassen und Dienstleistern gibt. Angehörige, Interessenvertreter von Älteren haben an diesen aber keinen Anteil. Es müssten aber u. E., woran freie Träger seit Beginn der Coronakrise arbeiten, digitale Foren geschaffen und angeboten werden, wo reguläre Gremienarbeit stattfinden kann, an denen auch Betroffene und ihre Organisationen beteiligt sind. In jedem Falle sollte es auch für Interessenvertreter eine adäquate Information über derzeitige Probleme und Herausforderungen in der Pflege geben.

Unseres Erachtens sollte es gerade bei der Einschränkung von Grund- und Menschenrechten im sozialen Bereich auch in schwersten Krisenzeiten – eine Pandemie in den bestehenden Ausmaßen ist kein Kriegszustand und keine Verfassungskrise – ein arbeitsfähiges Gremium geben, in dem per Verordnung erlassene Maßnahmen ethisch bewertet werden. Diesem Gremium sollten Landtagsabgeordnete, Minister, Kassen, Dienstleister und Betroffene sowie deren Angehörige angehören. Eine ethische Bewertung von Menschen- und Grundrechtstatbeständen erscheint uns auch in dieser Zeit unumgänglich. Es ist aus unserer Sicht schwer hinnehmbar, dass auf dem Verordnungsweg elementare Menschenrechte, zumal in einer späten Lebensphase, eingeschränkt werden. Es gilt des Weiteren Folgewirkungen für den Pflegebereich in den Blick nehmen, die individuelle, wirtschaftliche und (haftungs)rechtliche Belange von Pflegebedürftigen und sozialen Dienstleistern adäquat bewerten.

5. Es gibt u. E. Konsequenzen aus dieser Krise, die auf Handlungsempfehlungen verweisen, die uns künftig als wichtig erscheinen. Die Coronakrise verweist u. E. auf sehr Grundsätzliches, das über das operative Beschaffungs- und Schutzmanagement weit hinausgeht.
Natürlich wird es in der unmittelbar nächsten Zeit ganz selbstverständlich um Hygienekonzepte auch für den zivilen und offenen Bereich, um die Ausstattung mit Hygienematerialien, um Unterstützungsmaßnahmen für hochaltrige Menschen, wie sie im Landesprogramm für Familie vorgesehen sind u. ä. m., des Weiteren um die Material- und Personalausstattung von Pflegedienstleistern, um Pflegeleistungen u. a. m. gehen. Eine solche Situation der Unterausstattung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, von fehlenden Konzepten im Umgang mit viralen Gefährdungen darf sich u. E. nicht wiederholen. Andererseits plädieren wir unbedingt für die Stärkung von Patientenrechten und Rechten von pflegebedürftigen Menschen. Wir denken insbesondere an den Krankenhaus- und Pflegebereich, in dem die Interessenvertretung von Patienten und Pflegebedürftigen eher gering ist.
Des Weiteren plädieren wir aber für ein nachhaltigeren Politikansatz, der sich an den tatsächlichen Lebensgrundlagen der Menschen orientiert.
Senioren und ihre Organisationen fühlen sich hochaltrigen und pflegebedürftigen Menschen in dieser Zeit in besonderem Maße verbunden. Wir unterstützen die Regierungspolitik mit ihren gegenwärtigen Maßnahmen. In diesem Sinne sind wir und unsere Mitglieder auch bereit, Verantwortung zu übernehmen.

Wir wünschen Ihnen gutes Gelingen und Ermutigung für Ihre Arbeit.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Jan Steinhaußen
Geschäftsführer

Quelle: Landesseniorenvertetung Thüringen