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05.10.2020 - von Fratelli Tutti, 3. Enzyklika von Papst Franziskus
"Eine Sache ist wahr, solange es einem Mächtigen passt; sie ist es dann nicht mehr, wenn sie ihren Nutzen für ihn verliert. Solche Gewaltsituationen haben »sich in zahlreichen Regionen der Welt so vervielfältigt, dass sie die Züge dessen angenommen haben, was man einen „dritten Weltkrieg in Abschnitten“ nennen könnte«.
So Papst Franziskus in seiner dritten Enzyklika "Fratelli Tutti - über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft". Sie wurde am Sonntag, dem 4.10.2020 veröffentlicht, nachdem der Papst zu ihrer Unterzeichnung am Samstag ans Grab seines Namensgebers Franziskus in Assisi gereist war. "Der Titel der neuen Enzyklika des Papstes ist so zu verstehen, dass er sowohl Männer als auch Frauen einschließt, erklärte der Vatikan bereits am 16.9.2020 in einem Leitartikel auf der Titelseite seiner Tageszeitung L`Osservatore Romano, der die Überschrift hatte: "Eine Enzyklika für alle Brüder und Schwestern". Der Leitartikel stellt klar, dass sich die Enzyklika "an alle seine Schwestern und Brüder wendet, an alle Männer und Frauen guten Willens, die die Erde bevölkern: an alle, inklusiv und keineswegs exklusiv". Gerald 0`Conell in "America The Jesuit Review" unter: Link
Der Papst, der auch auf die zunehmenden Rechtsverletzungen und Rechstbeugungen hinweist, schreibt u.a.: "Ohne den Anspruch zu erheben, eine erschöpfende Analyse zu leisten oder alle Aspekte der Wirklichkeit, in der wir leben, zu berücksichtigen, möchte ich nur die Aufmerksamkeit auf einige Tendenzen der heutigen Welt lenken, welche die Entwicklung einer Geschwisterlichkeit aller Menschen behindern."
Er stellt fest, dass "die Menschenrechte nicht für alle gleich gelten," und weist darauf hin, "dass die Gesellschaften auf der ganzen Erde noch lange nicht so organisiert (sind), dass die Frauen genau die gleiche Würde und die gleichen Rechte haben wie die Männer", und "dass mittlerweile ein richtiggehendes „Schisma” zwischen dem Einzelnen und der menschlichen Gemeinschaft im Gange ist."
In Absatz 19 der Enzyklika weist er ausdrücklich auf die Situation der älteren Menschen "und ihrer schmerzlichen Einsamkeit" hin. Der Papst benennt auch Folgen der Digitalisierung: "Man darf nicht übersehen, dass in der digitalen Welt gigantische wirtschaftliche Interessen am Werke sind, die ebenso subtil wie invasiv Kontrolle ausüben und Mechanismen schaffen, mit denen das Gewissen und demokratische Prozesse manipuliert werden." Und: "Als Gefangene der Virtualität ist uns der Geschmack und das Aroma der Realität abhandengekommen«. Und: "Die Weisheit wird nicht durch ungeduldige Nachforschungen im Internet hergestellt, noch ist sie eine Summierung von Information, deren Wahrheitsgehalt nicht erwiesen ist. Auf diese Weise reift man nicht in der Begegnung mit der Wahrheit. Die Gespräche kreisen am Ende nur um die neuesten Daten und sind schlicht horizontal und kumulativ."
Der Papst behandelt "wütende und aggressive Nationalismen", und die "Besessenheit, die Kosten der Arbeit zu reduzieren, ohne sich der schwerwiegenden Konsequenzen bewusst zu werden". Er erklärt: "Die beste Methode, zu herrschen und uneingeschränkt voranzuschreiten, besteht darin, Hoffnungslosigkeit auszusäen und ständiges Misstrauen zu wecken, selbst wenn sie sich mit der Verteidigung einiger Werte tarnt." Und er weist auf das Folgende hin: "Teile der Menschheit scheinen geopfert werden zu können zugunsten einer bevorzugten Bevölkerungsgruppe, die für würdig gehalten wird, ein Leben ohne Einschränkungen zu führen."
Auszüge aus der Enzyklika Fratelli Tutti* - über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft"
1. »Fratelli tutti« schrieb der heilige Franz von Assisi und wandte sich damit an alle Brüder und Schwestern, um ihnen eine dem Evangelium gemäße Lebensweise darzulegen. Von seinen Ratschlägen möchte ich den einen herausgreifen, mit dem er zu einer Liebe einlädt, die alle politischen und räumlichen Grenzen übersteigt. Er nennt hier den Menschen selig, der den anderen, »auch wenn er weit von ihm entfernt ist, genauso liebt und achtet, wie wenn er mit ihm zusammen wäre«. Mit diesen wenigen und einfachen Worten erklärte er das Wesentliche einer freundschaftlichen Offenheit, die es erlaubt, jeden Menschen jenseits des eigenen Umfeldes und jenseits des Ortes in der Welt, wo er geboren ist und wo er wohnt, anzuerkennen, wertzuschätzen und zu lieben.
(...)
10.
Jahrzehntelang schien es, dass die Welt aus so vielen Kriegen und Katastrophen gelernt hätte und sich langsam auf verschiedene Formen der Integration hinbewegen würde. (...)
11.
Doch die Geschichte liefert Indizien für einen Rückschritt. Unzeitgemäße Konflikte brechen aus, die man überwunden glaubte. Verbohrte, übertriebene, wütende und aggressive Nationalismen leben wieder auf. In verschiedenen Ländern geht eine von gewissen Ideologien durchdrungene Idee des Volkes und der Nation mit neuen Formen des Egoismus und des Verlusts des Sozialempfindens einher, die hinter einer vermeintlichen Verteidigung der nationalen Interessen versteckt werden. Das erinnert uns daran, dass »jede Generation sich die Kämpfe und die Errungenschaften der früheren Generationen zu eigen machen und sie zu noch höheren Zielen führen muss. Das ist der Weg. Das Gute, ebenso wie die Liebe, die Gerechtigkeit und die Solidarität erlangt man nicht ein für alle Male; sie müssen jeden Tag neu errungen werden. Unmöglich kann man sich mit dem zufriedengeben, was man in der Vergangenheit erreicht hat, und dabei verweilen, es zu genießen, als würden wir nicht merken, dass viele unserer Brüder und Schwestern unter Situationen der Ungerechtigkeit leiden, die uns alle angehen«.
12.
„Offen sein zur Welt“ ist ein Ausdruck, den sich die Wirtschaft und die Finanzwelt zu eigen gemacht haben. Er bezieht sich ausschließlich auf die Öffnung gegenüber den ausländischen Interessen oder auf die Freiheit der Wirtschaftsmächte, ohne Hindernisse und Schwierigkeiten in allen Ländern zu investieren. Die örtlichen Konflikte und das Desinteresse für das Allgemeinwohl werden von der globalen Wirtschaft instrumentalisiert, um ein einziges kulturelles Modell durchzusetzen. Eine solche Kultur eint die Welt, trennt aber die Menschen und die Nationen, denn »die zunehmend globalisierte Gesellschaft macht uns zu Nachbarn, aber nicht zu Geschwistern«.9 Wir sind einsamer denn je in dieser durch Vermassung gekennzeichneten Welt, welche die Einzelinteressen bevorzugt und die gemeinschaftliche Dimension der Existenz schwächt. Es gibt vor allem mehr Märkte, wo den Menschen die Rolle von Verbrauchern oder Zuschauern zukommt. Das Fortschreiten dieses Globalismus begünstigt normalerweise die stärkeren Gebiete, die sich selbst behaupten, sucht aber die schwächsten und ärmsten Regionen zu beeinträchtigen, indem er sie verwundbarer und abhängiger macht. Auf diese Weise wird die Politik gegenüber den multinationalen wirtschaftlichen Mächten, die das „Teile und herrsche“ anwenden, immer zerbrechlicher.
13. Aus dem gleichen Grund wird ein Verlust des Geschichtsbewusstseins gefördert, das eine weitere Auflösung hervorruft. Man nimmt das Vordringen einer Art von „Dekonstruktivismus“ in der Kultur wahr, bei dem die menschliche Freiheit vorgibt, alles von Neuem aufzubauen. Aufrecht bleibt nur das Bedürfnis, grenzenlos zu konsumieren, und das Hervorkehren vieler Formen eines inhaltslosen Individualismus. In diesem Zusammenhang ist ein Rat angebracht, den ich einmal Jugendlichen gegeben habe: »Wenn jemand euch ein Angebot macht und euch sagt, ihr braucht die Geschichte nicht zu beachten, den Erfahrungsschatz der Alten nicht zu beherzigen und ihr könnt all das missachten, was Vergangenheit ist, und sollt nur auf die Zukunft schauen, die er euch bietet, wäre dies nicht eine einfache Art, euch mit seinem Angebot anzuziehen, um euch nur das tun zu lassen, was er euch sagt? Dieser Jemand benötigt euch leer, entwurzelt, gegenüber allem misstrauisch, damit ihr nur seinen Versprechen vertraut und euch seinen Plänen unterwerft. So funktionieren die Ideologien verschiedener Couleur, die all das zerstören – oder abbauen –, was anders ist; auf diese Weise können sie ohne Widerstände herrschen. Zu diesem Zweck brauchen sie junge Menschen, die die Geschichte verachten, die den geistlichen und menschlichen Reichtum ablehnen, der über die Generationen weitergegeben wurde, und die all das nicht kennen, was ihnen vorausgegangen ist«.10
14.
Das sind die neuen Formen einer kulturellen Kolonisation. Wir wollen nicht vergessen, dass »die Völker, die ihre eigene Tradition veräußern und aus einem Nachahmungswahn, einer aufgezwungenen Gewalt, einer unverzeihlichen Nachlässigkeit oder einer Apathie dulden, dass ihnen die Seele entrissen wird, neben ihrer geistlichen Physiognomie auch ihre moralische Festigkeit und schließlich ihre weltanschauliche, wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit verlieren«.11 Eine wirksame Weise, das geschichtliche Bewusstsein, das kritische Denken, den Einsatz für die Gerechtigkeit und die Kurse zur Integration aufzulösen, sind die Sinnentleerung oder die Änderung großer Wörter. Was bedeuten heute einige dieser Begriffe wie Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Einheit? Sie sind manipuliert und verzerrt worden, um sie als Herrschaftsinstrumente zu benutzen, als sinnentleerte Aufschriften, die zur Rechtfertigung jedweden Tuns dienen können.
15.
Die beste Methode, zu herrschen und uneingeschränkt voranzuschreiten, besteht darin, Hoffnungslosigkeit auszusäen und ständiges Misstrauen zu wecken, selbst wenn sie sich mit der Verteidigung einiger Werte tarnt. Heute verwendet man in vielen Ländern den politischen Mechanismus des Aufstachelns, Verhärtens und Polarisierens. Auf verschiedene Art und Weise spricht man anderen das Recht auf Existenz und eigenes Denken ab. Zu diesem Zweck bedient man sich der Strategie des Lächerlich-Machens, des Schürens von Verdächtigungen ihnen gegenüber, des Einkreisens. Man nimmt ihre Sicht der Wahrheit und ihre Werte nicht an. Auf diese Weise verarmt die Gesellschaft und reduziert sich auf die Selbstherrlichkeit des Stärksten. Die Politik ist daher nicht mehr eine gesunde Diskussion über langfristige Vorhaben für die Entwicklung aller und zum Gemeinwohl, sondern bietet nur noch flüchtige Rezepte der Vermarktung, die in der Zerstörung des anderen ihr wirkungsvollstes Mittel finden. In diesem primitiven Spiel der Abqualifizierungen wird die Debatte manipuliert, um die Menschen ständig infrage zu stellen und auf Konfrontation mit ihnen zu gehen.
16.
Wie ist es bei einem solchen Zusammenstoß der Interessen, der alle gegen alle aufbringt und wo siegen zu einem Synonym für zerstören wird, noch möglich, das Haupt zu erheben, um den Nachbarn wahrzunehmen oder jemandem beizustehen, der auf der Straße hingefallen ist? Ein Plan mit großen Zielen für die Entwicklung der Menschheit klingt heute wie eine Verrücktheit. Es vergrößern sich die Abstände zwischen uns, und der harte und schleppende Weg zu einer geeinten und gerechteren Welt erleidet einen neuen und drastischen Rückschlag.
17.
Sorge tragen um die Welt, die uns umgibt und uns erhält, bedeutet Sorge tragen um uns selbst. Wir müssen uns aber zusammenschließen in einem „Wir“, welches das gemeinsame Haus bewohnt. Dieses Bemühen interessiert die wirtschaftlichen Mächte nicht, die schnelle Erträge brauchen. Oft werden die Stimmen, die sich zur Verteidigung der Umwelt erheben, zum Schweigen gebracht oder der Lächerlichkeit preisgegeben und andererseits Partikularinteressen mit dem Mantel der Vernünftigkeit umhüllt. In dieser Kultur, die wir gerade aufbauen – leer, auf das Unmittelbare gerichtet und ohne einen gemeinsamen Plan –, ist es »vorhersehbar, dass angesichts der Erschöpfung einiger Ressourcen eine Situation entsteht, die neue Kriege begünstigt, die als eine Geltendmachung edler Ansprüche getarnt werden«.12
18.
Teile der Menschheit scheinen geopfert werden zu können zugunsten einer bevorzugten Bevölkerungsgruppe, die für würdig gehalten wird, ein Leben ohne Einschränkungen zu führen. Im Grunde werden die Menschen »nicht mehr als ein vorrangiger zu respektierender und zu schützender Wert empfunden, besonders, wenn sie arm sind oder eine Behinderung haben, wenn sie – wie die Ungeborenen – „noch nicht nützlich sind“ oder – wie die Alten – „nicht mehr nützlich sind“. Wir sind unsensibel geworden gegenüber jeder Form von Verschwendung, angefangen bei jener der Nahrungsmittel, die zu den verwerflichsten gehört«.
19.
Der Geburtenrückgang, der zu einer Alterung der Bevölkerung führt, und die Tatsache, dass die älteren Menschen einer schmerzlichen Einsamkeit überlassen werden, bringen implizit zum Ausdruck, dass alles mit uns vorbei sein wird, wo nur unsere individuellen Interessen zählen. So »werden heute nicht nur Nahrung und überflüssige Güter zu Abfall, sondern oft werden sogar die Menschen „weggeworfen“«.14 Wir haben gesehen, was mit den älteren Menschen an einigen Orten der Welt aufgrund des Corona-Virus geschehen ist. Sie sollten nicht auf diese Weise sterben. Tatsächlich aber war etwas Ähnliches schon bei mancher Hitzewelle und unter anderen Umständen vorgefallen: Sie wurden brutal weggeworfen. Es wird uns bewusst, dass eine Isolierung der älteren Menschen und ihre Übergabe in die Obhut anderer ohne eine angemessene und gefühlvolle familiäre Begleitung die Familie selbst verstümmelt und ärmer macht. Im Übrigen führt es dazu, dass den jungen Menschen der nötige Kontakt mit ihren Wurzeln und mit einer Weisheit, welche die Jugend von sich aus nicht erreichen kann, vorenthalten wird.
20.
Diese Aussonderung zeigt sich auf vielfältige Weise, wie etwa in der Besessenheit, die Kosten der Arbeit zu reduzieren, ohne sich der schwerwiegenden Konsequenzen bewusst zu werden, die eine solche Maßnahme auslöst; denn die entstandene Arbeitslosigkeit führt direkt zu einer zunehmenden Verbreitung der Armut.15 Die Aussonderung nimmt zudem abscheuliche Formen an, die wir als überwunden glaubten, wie etwa der Rassismus, der verborgen ist und immer wieder neu zum Vorschein kommt. Die verschiedenen Ausprägungen des Rassismus erfüllen uns erneut mit Scham, denn sie zeigen, dass die vermeintlichen Fortschritte der Gesellschaft nicht so real und ein für alle Mal abgesichert sind.
21.
Es gibt wirtschaftliche Regeln, die sich als wirksam für das Wachstum, aber nicht gleicherweise für die Gesamtentwicklung des Menschen erweisen. Der Reichtum wächst, aber auf ungleiche Weise, und so »entstehen neue Formen der Armut«. Wenn man sagt, dass die moderne Welt die Armut verringert habe, so misst man hier mit Maßstäben anderer Epochen, die nicht mit der aktuellen Wirklichkeit vergleichbar sind. In anderen Zeiten wurde zum Beispiel die Tatsache, dass man keinen Zugang zur elektrischen Energie hatte, nicht als Zeichen der Armut betrachtet und gab keinen Anlass zu Sorge. Man untersucht und man versteht die Armut immer nur im Zusammenhang mit den wirklichen Gegebenheiten eines bestimmten historischen Moments.
22.
Oft stellt man fest, dass tatsächlich die Menschenrechte nicht für alle gleich gelten. Die Achtung dieser Rechte »ist ja die Vorbedingung für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. Wenn die Würde des Menschen geachtet wird und seine Rechte anerkannt und gewährleistet werden, erblühen auch Kreativität und Unternehmungsgeist, und die menschliche Persönlichkeit kann ihre vielfältigen Initiativen zugunsten des Gemeinwohls entfalten«.18 Doch »wenn man unsere gegenwärtigen Gesellschaften aufmerksam beobachtet, entdeckt man in der Tat zahlreiche Widersprüche, aufgrund derer wir uns fragen, ob die Gleichheit an Würde aller Menschen, die vor nunmehr 70 Jahren feierlich verkündet wurde, wirklich unter allen Umständen anerkannt, geachtet, geschützt und gefördert wird. Es gibt heute in der Welt weiterhin zahlreiche Formen der Ungerechtigkeit, genährt von verkürzten anthropologischen Sichtweisen sowie von einem Wirtschaftsmodell, das auf dem Profit gründet und nicht davor zurückscheut, den Menschen auszubeuten, wegzuwerfen und sogar zu töten. Während ein Teil der Menschheit im Überfluss lebt, sieht der andere Teil die eigene Würde aberkannt, verachtet, mit Füßen getreten und seine Grundrechte ignoriert oder verletzt«.19 Was sagt das über die Gleichheit der Rechte aus, die auf derselben Menschenwürde gegründet sind?
23.
Entsprechend sind die Gesellschaften auf der ganzen Erde noch lange nicht so organisiert, dass sie klar widerspiegeln, dass die Frauen genau die gleiche Würde und die gleichen Rechte haben wie die Männer. Mit Worten behauptet man bestimmte Dinge, aber die Entscheidungen und die Wirklichkeit schreien eine andere Botschaft heraus. In der Tat, »doppelt arm sind die Frauen, die Situationen der Ausschließung, der Misshandlung und der Gewalt erleiden, denn oft haben sie geringere Möglichkeiten, ihre Rechte zu verteidigen«.
24.
Seien wir uns ebenso folgender Tatsache bewusst: »Obwohl die internationale Gesellschaft zahlreiche Abkommen getroffen hat mit dem Ziel, der Sklaverei in all ihren Formen ein Ende zu setzen, und verschiedene Strategien eingeleitet hat, um dieses Phänomen zu bekämpfen, […] werden noch heute Millionen Menschen – Kinder, Männer und Frauen jeden Alters – ihrer Freiheit beraubt und gezwungen, unter Bedingungen zu leben, die denen der Sklaverei vergleichbar sind. […] Heute wie gestern liegt an der Wurzel der Sklaverei ein Verständnis vom Menschen, das die Möglichkeit zulässt, ihn wie einen Gegenstand zu behandeln. […] Der Mensch, der als Abbild Gottes und ihm ähnlich erschaffen ist, wird mit Gewalt, mit List oder durch physischen bzw. psychologischen Zwang seiner Freiheit beraubt, kommerzialisiert und zum Eigentum eines anderen herabgemindert; er wird als Mittel und nicht als Zweck behandelt«. Die kriminellen Netze »bedienen sich geschickt der modernen Informationstechnologien, um junge und sehr junge Menschen aus aller Welt anzulocken«. Die Verirrung kennt keine Grenzen, wenn man Frauen versklavt, die dann zur Abtreibung gezwungen werden. Es kommt sogar zu abscheulichen Taten wie die Entführung von Menschen, um ihre Organe zu verkaufen. All das macht den Menschenhandel und andere aktuelle Formen der Sklaverei zu einem weltweiten Problem, das von der gesamten Menschheit ernstgenommen werden muss, denn »wie die kriminellen Organisationen sich globaler Netze bedienen, um ihre Ziele zu erreichen, so erfordert die Aktion zur Überwindung dieses Phänomens außerdem eine gemeinsame und ebenso globale Anstrengung seitens der verschiedenen Akteure, welche die Gesellschaft bilden«.
25.
Kriege, Attentate, Verfolgungen aus rassistischen oder religiösen Motiven und so viele Gewalttaten gegen die Menschenwürde werden auf verschiedene Weise geahndet, je nachdem, ob sie für bestimmte, im Wesentlichen wirtschaftliche Interessen mehr oder weniger günstig sind. Eine Sache ist wahr, solange es einem Mächtigen passt; sie ist es dann nicht mehr, wenn sie ihren Nutzen für ihn verliert. Solche Gewaltsituationen haben »sich in zahlreichen Regionen der Welt so vervielfältigt, dass sie die Züge dessen angenommen haben, was man einen „dritten Weltkrieg in Abschnitten“ nennen könnte«.
26.
Das verwundert nicht, wenn wir das Fehlen von Horizonten feststellen, die uns zur Einheit zusammenführen, weil in jedem Krieg letztlich »das Projekt der Brüderlichkeit selbst […], das der Berufung der Menschheitsfamilie eingeschrieben ist«, zerstört wird, denn »jede Bedrohung nährt das Misstrauen und fördert den Rückzug auf die eigene Position«. So schreitet unsere Welt in einer sinnlosen Dichotomie fort, mit dem Anspruch, »Stabilität und Frieden auf der Basis einer falschen, von einer Logik der Angst und des Misstrauens gestützten Sicherheit verteidigen und sichern zu wollen«.
27.
Paradoxerweise gibt es angestammte Ängste, die nicht vom technologischen Fortschritt überwunden worden sind. Sie haben sich vielmehr zu verbergen gewusst und vermochten sich hinter neuen Technologien zu potenzieren. Auch heute gibt es hinter den Mauern der alten Stadt den Abgrund, das Land des Unbekannten, die Wüste. Was von dort kommt, ist nicht vertrauenswürdig, weil man es nicht kennt, man nicht vertraut mit ihm ist, weil es nicht zum Dorf gehört. Es ist das Gebiet des „Barbarischen“, vor dem man sich verteidigen muss, koste es was es wolle. Folglich werden neue Schranken zum Selbstschutz aufgerichtet, sodass nicht mehr die eine Welt existiert, sondern nur noch die „meine“, bis zu dem Punkt, dass viele nicht mehr als Menschen mit einer unveräußerlichen Würde angesehen werden, sondern einfach zu „denen da“ werden. Von Neuem erscheint »die Versuchung, eine Kultur der Mauern zu errichten, Mauern hochzuziehen, Mauern im Herzen, Mauern auf der Erde, um diese Begegnung mit anderen Kulturen, mit anderen Menschen zu verhindern. Und wer eine Mauer errichtet, wer eine Mauer baut, wird am Ende zum Sklaven innerhalb der Mauern, die er errichtet hat, ohne Horizonte. Weil ihm dieses Anderssein fehlt«.
28.
Die Einsamkeit, die Angst und die Unsicherheit vieler Menschen, die sich vom System im Stich gelassen fühlen, lassen einen fruchtbaren Boden für die Mafia entstehen. Diese kann sich durchsetzen, weil sie sich als „Beschützerin“ der Vergessenen ausgibt, oft mittels verschiedener Arten von Hilfe, während sie ihre eigenen kriminellen Interessen verfolgt. Es gibt eine typisch mafiöse Pädagogik, die in einem falschen Gemeinschaftsgeist Bindungen der Abhängigkeit und der Unterordnung schafft, von denen man sich nur sehr schwer befreien kann.
29.
Mit dem Großimam Ahmad Al-Tayyeb verkennen wir nicht die positiven Fortschritte in der Wissenschaft, der Technologie, der Medizin, der Industrie und in der Wohlfahrt, besonders in den entwickelten Ländern. Nichtsdestoweniger »betonen wir, dass mit diesen großen und geschätzten historischen Fortschritten auch ein Verfall der Ethik im internationalen Handeln sowie eine Schwächung der geistlichen Werte und des Verantwortungsbewusstseins einhergehen. All dies trägt dazu bei, dass sich ein allgemeines Gefühl von Frustration, Einsamkeit und Verzweiflung ausbreitet. […] In Spannungsherden werden Waffen und Munition angehäuft, und dies geschieht in einer global von Unsicherheit, Enttäuschung, Zukunftsangst und von kurzsichtigen wirtschaftlichen Interessen geprägten Weltlage. Wir bekräftigen weiter, dass die heftigen politischen Krisen, die Ungerechtigkeit und das Fehlen einer gerechten Verteilung der natürlichen Ressourcen […] weitere Opfer hervorrufen und tödliche Krisen verursachen, denen mehrere Länder ausgesetzt sind, obwohl sie auf natürlichen Reichtum und die Ressourcen der jungen Generationen zählen können. Das internationale Schweigen angesichts dieser Krisen, die dazu führen, dass Millionen von Kindern aufgrund von Armut und Unterernährung bis auf die Knochen abmagern und an Hunger sterben, ist inakzeptabel«. Vor diesem Panorama finden wir, auch wenn uns viele Fortschritte anlocken, keinen wirklich menschlichen Kurs.
30.
In der gegenwärtigen Welt nimmt das Zugehörigkeitsgefühl zu der einen Menschheit ab, während der Traum, gemeinsam Gerechtigkeit und Frieden aufzubauen, wie eine Utopie anderer Zeiten erscheint. Wir erleben, wie eine bequeme, kalte und weit verbreitete Gleichgültigkeit vorherrscht, Tochter einer tiefen Ernüchterung, die sich hinter einer trügerischen Illusion verbirgt, nämlich zu glauben, dass wir allmächtig sind, und zu vergessen, dass wir alle im gleichen Boot sitzen. Diese Enttäuschung, welche die großen geschwisterlichen Tugenden hinter sich lässt, führt »zu einer Art Zynismus. Das ist die Versuchung, der wir ausgesetzt sind, wenn wir diesen Weg der Ernüchterung oder Enttäuschung einschlagen. […] Die Isolierung und das Verschlossensein in sich selbst oder die eigenen Interessen sind nie der Weg, um wieder Hoffnung zu geben und Erneuerung zu bewirken, wohl aber die Nähe, die Kultur der Begegnung. Isolierung: nein; Nähe: ja. Kultur der Konfrontation: nein; Kultur der Begegnung: ja«.
31.
In dieser Welt, die ohne einen gemeinsamen Kurs läuft, atmet man eine Luft, in der »die Distanz zwischen der Obsession für das eigene Wohlergehen und dem geteilten Glück der Menschheit zuzunehmen scheint, so sehr, dass man vermuten könnte, dass mittlerweile ein richtiggehendes „Schisma” zwischen dem Einzelnen und der menschlichen Gemeinschaft im Gange ist. […] Denn es ist eine Sache, sich zum Zusammenleben gezwungen zu fühlen, und eine andere Sache, den Reichtum und die Schönheit der Samen des gemeinsamen Lebens wertzuschätzen, die gemeinsam gesucht und gepflegt werden müssen«. Die Technologie macht ständige Fortschritte, doch »wie schön wäre es, wenn die Zunahme der Innovationen in Wissenschaft und Technik auch mit einer immer größeren Gleichheit und sozialen Inklusion einhergehen würde! Wie schön wäre es, wenn wir, so wie wir die Entdeckung neuer entfernter Planeten gemacht haben, die Bedürfnisse unseres Bruders und unserer Schwester wiederentdecken würden, die um uns kreisen«.
32.
Eine globale Tragödie wie die COVID-19-Pandemie hat für eine gewisse Zeit wirklich das Bewusstsein geweckt, eine weltweite Gemeinschaft in einem Boot zu sein, wo das Übel eines Insassen allen zum Schaden gereicht. Wir haben uns daran erinnert, dass keiner sich allein retten kann, dass man nur Hilfe erfährt, wo andere zugegen sind. Daher sagte ich: »Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben. […] Mit dem Sturm sind auch die stereotypen Masken gefallen, mit denen wir unser „Ego“ in ständiger Sorge um unser eigenes Image verkleidet haben; und es wurde wieder einmal jene segensreiche gemeinsame Zugehörigkeit offenbar, der wir uns nicht entziehen können, dass wir nämlich alle Brüder und Schwestern sind«.
33.
Die Welt bewegte sich unerbittlich auf eine Wirtschaft zu, welche mit Hilfe des technologischen Fortschritts die „menschlichen Kosten“ zu verringern suchte, und mancher maßte sich an, uns glauben zu machen, die Freiheit des Marktes würde ausreichen, um alles zu gewährleisten. Doch der harte und unerwartete Schlag dieser außer Kontrolle geratenen Pandemie hat uns notgedrungen dazu gezwungen, wieder an die Menschen, an alle zu denken anstatt an den Nutzen einiger. Heute sehen wir ein, dass »wir uns mit Träumen von Pracht und Größe ernährt und letztlich doch nur Ablenkung, Verschlossenheit und Einsamkeit gegessen haben; wir haben uns mit Connections vollgestopft und darüber den Geschmack an der Geschwisterlichkeit verloren. Wir haben schnelle und sichere Ergebnisse gesucht und fühlen uns beklommen vor Ungeduld und Unruhe. Als Gefangene der Virtualität ist uns der Geschmack und das Aroma der Realität abhandengekommen«. Der Schmerz, die Unsicherheit, die Furcht und das Bewusstsein der eigenen Grenzen, welche die Pandemie hervorgerufen haben, appellieren an uns, unsere Lebensstile, unsere Beziehungen, die Organisation unserer Gesellschaft und vor allem den Sinn unserer Existenz zu überdenken.
34.
Wenn alles miteinander verbunden ist, fällt es uns schwer zu glauben, dass diese weltweite Katastrophe nicht in Beziehung dazu steht, wie wir der Wirklichkeit gegenübertreten, wenn wir uns anmaßen, die absoluten Herren des eigenen Lebens und von allem, was existiert, zu sein. Ich möchte hiermit nicht sagen, dass es sich um eine Art göttlicher Strafe handelt. Ebenso wenig kann man behaupten, dass der Schaden an der Natur am Ende die Rechnung für unsere Übergriffe fordert. Es ist die Wirklichkeit selbst, die seufzt und sich auflehnt. Es kommen uns da die berühmten Verse von Vergil in Erinnerung, wo die Tränen der Dinge oder der Geschichte heraufbeschworen werden.
35.
Wir vergessen aber schnell die Lektionen der Geschichte, der »Lehrerin des Lebens«.34 Ist die Gesundheitskrise einmal überstanden, wäre es die schlimmste Reaktion, noch mehr in einen fieberhaften Konsumismus und in neue Formen der egoistischen Selbsterhaltung zu verfallen. Gott gebe es, dass es am Ende nicht mehr „die Anderen“, sondern nur ein „Wir“ gibt. Dass es nicht das x-te schwerwiegende Ereignis der Geschichte gewesen ist, aus dem wir nicht zu lernen vermocht haben. Dass wir nicht die älteren Menschen vergessen, die gestorben sind, weil es keine Beatmungsgeräte gab, teilweise als Folge der von Jahr zu Jahr abgebauten Gesundheitssysteme. Dass ein so großer Schmerz nicht umsonst war, dass wir einen Sprung hin zu einer neuen Lebensweise machen und wir ein für alle Mal entdecken, dass wir einander brauchen und die einen der anderen Schuldner sind. So wird die Menschheit mit all ihren Gesichtern, all ihren Händen und all ihren Stimmen wiedererstehen, über die von uns geschaffenen Grenzen hinaus.
36.
Wenn es uns nicht gelingt, diese gemeinsame Leidenschaft für eine zusammenstehende und solidarische Gemeinschaft wiederzuerlangen, der man Zeit, Einsatz und Güter widmet, wird die weltweite Illusion, die uns täuscht, verheerend zusammenbrechen und viele dem Überdruss und der Leere überlassen. Im Übrigen sollte man nicht naiv übersehen, dass »die Versessenheit auf einen konsumorientierten Lebensstil – vor allem, wenn nur einige wenige ihn pflegen können – nur Gewalt und gegenseitige Zerstörung auslösen kann«.35 Das „Rette sich wer kann“ wird schnell zu einem „Alle gegen alle“, und das wird schlimmer als eine Pandemie sein.
37.
Sowohl von einigen populistischen politischen Regimen als auch von liberalen wirtschaftlichen Standpunkten vertritt man die Ansicht, dass man die Ankunft von Migranten um jeden Preis vermeiden müsse. Gleichzeitig wird argumentiert, dass man die Hilfen für arme Länder beschränken soll, damit diese den Tiefstand erreichen und sich entschließen, Maßnahmen für effektive Einsparungen zu ergreifen. Man merkt aber nicht, dass solchen abstrakten, schwer aufrechtzuerhaltenden Behauptungen so viele zerrissene Leben gegenüberstehen. Viele flüchten vor Krieg, vor Verfolgungen und Naturkatastrophen. Andere sind mit vollem Recht auf der Suche »nach Chancen für sich und ihre Familien. Sie träumen von einer besseren Zukunft und wollen die Voraussetzungen dafür schaffen, damit diese wahr wird«.
38.
Leider werden manche »von der Kultur des Westens angezogen und brechen mit teils unrealistischen Erwartungen auf, die schwer enttäuscht werden können. Skrupellose Menschenhändler, die oft mit Drogen- und Waffenkartellen in Verbindung stehen, nutzen die Schwäche von Migranten aus, die auf ihrem Weg immer wieder mit Gewalt, Menschenhandel, psychischem und physischem Missbrauch und unsagbarem Leid konfrontiert werden«.37 Diejenigen, die emigrieren, »erleben die Trennung von ihrem ursprünglichen Umfeld und oft auch eine kulturelle und religiöse Entwurzelung. Der Bruch betrifft auch die Gemeinschaften am Herkunftsort, die ihre stärksten Mitglieder mit der größten Eigeninitiative verlieren, sowie die Familien, insbesondere wenn ein oder beide Elternteile emigrieren und ihre Kinder in ihrem Herkunftsland zurücklassen«. Folglich muss auch »das Recht nicht auszuwandern – das heißt, in der Lage zu sein, im eigenen Land zu bleiben – bekräftigt werden«.
39.
Obendrein »lösen in einigen Ankunftsländern Migrationsphänomene Alarm und Ängste aus, die oft für politische Zwecke angeheizt und missbraucht werden. Auf diese Weise verbreitet sich eine fremdenfeindliche Mentalität, man verschließt sich und zieht sich in sich selbst zurück«. Die Migranten werden als nicht würdig genug angesehen, um wie jeder andere am sozialen Leben teilzunehmen, und man vergisst, dass sie die gleiche innewohnende Würde besitzen wie alle Menschen. Daher müssen sie ihre eigene Rettung selbst in die Hand nehmen. Man wird nie sagen, dass sie keine Menschen sind, in der Praxis jedoch bringt man mit den Entscheidungen und der Art und Weise, wie man sie behandelt, zum Ausdruck, dass man sie von geringerem Wert, als weniger wichtig und weniger human betrachtet. Es ist nicht hinnehmbar, dass Christen diese Mentalität und diese Haltungen teilen, indem sie zuweilen bestimmte politische Präferenzen über ihre tiefen Glaubensüberzeugungen stellen. Die unveräußerliche Würde jedes Menschen unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religion ist das höchste Gesetz der geschwisterlichen Liebe.
40.
»Die Migrationen werden ein grundlegendes Element der Zukunft der Welt darstellen«. Heute werden sie jedoch »mit dem Verlust jenes Sinns für brüderliche Verantwortung, auf dem sich jede Zivilgesellschaft gründet« konfrontiert. Europa beispielsweise läuft ernsthaft Gefahr, diesen Weg zu beschreiten. Immerhin besitzt es, »unterstützt durch sein großes kulturelles und religiöses Erbe, die Mittel […], um die Zentralität der Person zu verteidigen und um das rechte Gleichgewicht zu finden in seiner zweifachen moralischen Pflicht, einerseits die Rechte der eigenen Bürger zu schützen und andererseits die Betreuung und die Aufnahme der Migranten zu garantieren«.
41.
Ich kann nachvollziehen, dass manche gegenüber der Migranten Zweifel hegen oder Furcht verspüren. Ich verstehe das als Teil des natürlichen Instinkts der Selbstverteidigung. Es ist jedoch auch wahr, dass eine Person und ein Volk nur dann fruchtbar sind, wenn sie es verstehen, die Öffnung gegenüber den anderen in sich selbst schöpferisch zu integrieren. Ich lade dazu ein, über diese primären Reaktionen hinauszugehen, denn »das Problem ist, dass diese unsere Denk- und Handlungsweise so weit konditionieren, dass sie uns intolerant, verschlossen und vielleicht sogar – ohne dass wir es merken – rassistisch machen. Und so beraubt uns die Angst des Wunsches und der Fähigkeit, dem anderen […] zu begegnen«.
42.
Während verschlossene und intolerante Haltungen, die uns vor den anderen abschotten, zunehmen, verringert sich oder verschwindet paradoxerweise die Distanz bis hin zur Aufgabe des Rechts auf Privatsphäre. Alles wird zu einer Art Schauspiel, das belauscht und überwacht werden kann. Das Leben wird einer ständigen Kontrolle ausgesetzt. In der digitalen Kommunikation will man alles zeigen, und jeder Einzelne wird zum Objekt von Blicken, die nachspüren, entblößen und öffentlich weitergeben, oftmals auf anonyme Weise. Die Achtung vor dem anderen bröckelt, und auf diese Weise – gerade wenn ich ihn verdränge, ihn nicht beachte und ihn auf Distanz halte – kann ich ohne irgendeine Scham bis zum Äußersten in sein Leben eindringen.
43.
Auf der anderen Seite bilden die zerstörerischen Hassgruppen im Netz – wie manche uns glauben machen möchten – nicht eine geeignete Plattform gegenseitiger Hilfe, sondern sind reine Vereinigungen gegen einen Feind. Ja, »durch digitale Medien besteht die Gefahr, dass Nutzer abhängig werden, sich isolieren und immer stärker den Kontakt zur konkreten Wirklichkeit verlieren, wodurch die Entwicklung echter zwischenmenschlicher Beziehungen behindert wird«. Es bedarf der körperlichen Gesten, des Mienenspiels, der Momente des Schweigens, der Körpersprache und sogar des Geruchs, der zitternden Hände, des Errötens und des Schwitzens, denn all dies spricht und gehört zur menschlichen Kommunikation. Die digitalen Beziehungen, die von der Mühe entbinden, eine Freundschaft, eine stabile Gegenseitigkeit und auch ein mit der Zeit reifendes Einvernehmen zu pflegen, haben den Anschein einer Geselligkeit. Sie bilden nicht wirklich ein „Wir“, sondern verbergen und verstärken gewöhnlich denselben Individualismus, der sich in der Fremdenfeindlichkeit und in der Geringschätzung der Schwachen ausdrückt. Die digitale Vernetzung genügt nicht, um Brücken zu bauen; sie ist nicht in der Lage, die Menschheit zu vereinen.
44.
Während die Menschen in ihrer bequemen konsumistischen Abschottung verharren, gehen sie gleichzeitig ständige, vereinnahmende Bindungen ein. Dies fördert das Aufwallen ungewöhnlicher Formen von Aggressivität, von Beschimpfungen, Misshandlungen, Beleidigungen, verbalen Ohrfeigen bis hin zur Ruinierung der Person des anderen. Dies geschieht mit einer Hemmungslosigkeit, die bei einem Zusammentreffen von Angesicht zu Angesicht nicht vorkommen könnte, weil wir uns sonst am Ende gegenseitig zerfleischen würden. Die soziale Aggressivität findet auf Mobilgeräten und Computern einen Raum von beispielloser Verbreitung.
45.
Dies machte es möglich, dass die Ideologien jede Scham fallenließen. Was bis vor wenigen Jahren von niemandem gesagt werden konnte, ohne den Respekt der gesamten Welt ihm gegenüber aufs Spiel zu setzen, das kann heute in aller Grobheit auch von Politikern geäußert werden, ohne dafür belangt zu werden. Man darf nicht übersehen, »dass in der digitalen Welt gigantische wirtschaftliche Interessen am Werke sind, die ebenso subtil wie invasiv Kontrolle ausüben und Mechanismen schaffen, mit denen das Gewissen und demokratische Prozesse manipuliert werden. Viele Plattformen funktionieren so, dass sich im Endeffekt häufig nur Gleichgesinnte begegnen und eine Auseinandersetzung mit Andersartigem erschwert wird. Diese geschlossenen Kreise erleichtern die Verbreitung von falschen Informationen und Nachrichten und schüren Vorurteile und Hass«.
46.
Wir müssen zugeben, dass der Fanatismus, der zur Zerstörung anderer führen kann, auch von religiösen Menschen – Christen nicht ausgeschlossen – verübt wird, die »über das Internet und die verschiedenen Foren und Räume des digitalen Austausches Teil von Netzwerken verbaler Gewalt werden [können]. Sogar in katholischen Medien können die Grenzen überschritten werden; oft bürgern sich Verleumdung und üble Nachrede ein, und jegliche Ethik und jeglicher Respekt vor dem Ansehen anderer scheinen außen vor zu bleiben«. Was aber tragen sie so zu der Geschwisterlichkeit bei, die unser gemeinsamer Vater uns anbietet?
47.
Die wahre Weisheit beinhaltet die Begegnung mit der Wirklichkeit. Heute jedoch kann man alles herstellen, verbergen und verändern. Das führt dazu, dass man die direkte Begegnung mit den Grenzen der Wirklichkeit nicht erträgt. Folglich führt man einen „Auswahl“-Mechanismus durch und macht es sich zur Gewohnheit, das, was mir gefällt, sofort von dem, was mir nicht gefällt, zu trennen, also die anziehenden von den unliebsamen Dingen. Nach der gleichen Logik wählt man die Menschen aus, mit denen man die Welt teilen will. So werden Menschen oder Situationen, die unsere Empfindsamkeit verletzt haben oder uns unangenehm waren, heute einfach in den virtuellen Netzen eliminiert. Auf diese Weise bilden wir einen virtuellen Kreis, der uns von der Umgebung, in der wir leben, isoliert.
48.
Sich hinsetzen, um einem anderen zuzuhören, ist charakteristisch für eine menschliche Begegnung und stellt ein Paradigma einer aufnehmenden Haltung dar. Damit überwindet ein Mensch den Narzissmus; er heißt den anderen willkommen, schenkt ihm Aufmerksamkeit und nimmt ihn in der eigenen Gruppe auf. Dennoch »ist die Welt von heute mehrheitlich eine taube Welt […]. Manchmal hindert uns die Geschwindigkeit der modernen Welt, die Hektik daran, einem anderen Menschen gut zuzuhören. Wenn er in der Mitte seines Vortrags ist, unterbrechen wir ihn schon und wollen ihm antworten, wenn er noch nicht mit dem Sprechen zu Ende ist. Man darf die Fähigkeit zuzuhören nicht verlieren. [Der heilige Franziskus] hat der Stimme Gottes zugehört, er hat der Stimme des Armen zugehört, er hat der Stimme des Kranken zugehört, er hat die Stimme der Natur vernommen. All das verwandelt er in einen Lebensstil. Ich hoffe, dass der Samen des heiligen Franziskus in allem Herzen heranwachse«.
49.
Wenn das Schweigen und Zuhören verschwinden und alles in ein schnelles und ungeduldiges Tippen und Senden von Botschaften verwandelt wird, setzt man diese Grundstruktur einer weisen menschlichen Kommunikation aufs Spiel. Man schafft einen neuen Lebensstil, bei dem man das herstellt, was man vor sich haben will. Dabei schließt man alles aus, was man nicht flüchtig und augenblicklich kontrollieren oder erkennen kann. Diese Dynamik verhindert aufgrund ihrer inneren Logik ein ruhiges Nachdenken, das uns zu einer allgemeinen Weisheit führen könnte.
50.
Wir können gemeinsam die Wahrheit im Dialog suchen, im ruhigen Gespräch oder in der leidenschaftlichen Diskussion. Es ist ein Weg, der Ausdauer braucht und auch vom Schweigen und Leiden geprägt ist. Er ist in der Lage, mit Geduld die umfangreiche Erfahrung der Menschen und Völker zu sammeln. Die erdrückende Fülle von Information, die uns überschwemmt, ist nicht gleichbedeutend mit mehr Weisheit. Die Weisheit wird nicht durch ungeduldige Nachforschungen im Internet hergestellt, noch ist sie eine Summierung von Information, deren Wahrheitsgehalt nicht erwiesen ist. Auf diese Weise reift man nicht in der Begegnung mit der Wahrheit. Die Gespräche kreisen am Ende nur um die neuesten Daten und sind schlicht horizontal und kumulativ. Man schenkt aber dem Herz des Lebens keine eingehende Aufmerksamkeit und dringt nicht zu ihm vor, man erkennt nicht, was das Wesentliche ist, um der Existenz Sinn zu verleihen. So wird die Freiheit eine Illusion, die uns verkauft wird und die mit der Freiheit, vor einem Bildschirm zu surfen, verwechselt wird. Das Problem besteht darin, dass ein Weg der Geschwisterlichkeit, im Kleinen wie im Großen, nur von freien Geistern beschritten werden kann, die zu wirklichen Begegnungen bereit sind.
51.
Einige wirtschaftlich gesehen erfolgreiche Länder werden als kulturelle Vorbilder für die weniger entwickelten Länder präsentiert, anstatt zu versuchen, dass jedes Land in dem ihm eigenen Stil wachse und seine Fähigkeiten zu einer Erneuerung nach den eigenen kulturellen Werten entwickle. Diese oberflächliche betrübliche Nostalgie führt dazu, eher zu kopieren und zu kaufen, als vielmehr selbst schöpferisch tätig zu sein, und gibt Anlass für ein sehr niedriges nationales Selbstwertgefühl. In den wohlhabenderen Schichten vieler armer Länder und manchmal bei denen, die es geschafft haben, aus der Armut herauszukommen, stellt man eine Unfähigkeit fest, ihre eigenen Gegebenheiten und Fortschritte zu akzeptieren. So verfallen sie einer Verachtung der eigenen kulturellen Identität, als ob sie die Ursache aller Übel sei.
52.
Das Selbstwertgefühl einer Person zu zerstören ist ein einfacher Weg, um sie zu beherrschen. Hinter diesen Tendenzen, die auf eine Homogenisierung der Welt abzielen, treten Machtinteressen hervor, die von der geringen Selbstachtung profitieren, während gleichzeitig über Medien und Netzwerke versucht wird, eine neue Kultur im Dienst der Mächtigeren zu schaffen. Dies wird vom Opportunismus der Finanzspekulation und von der Ausbeutung ausgenutzt, wo die Armen immer die Verlierer sind. Andererseits bedeutet das Ignorieren der Kultur eines Volkes, dass viele politische Verantwortungsträger nicht mehr in der Lage sind, ein leistungsfähiges Projekt durchzuführen, das frei übernommen und über die Zeit hinweg aufrechterhalten werden kann.
53. Man vergisst, dass »es keine schlimmere Entfremdung gibt als erfahren zu müssen, keine Wurzeln zu haben und zu niemanden zu gehören. Ein Land wird nur in dem Maß fruchtbar sein, ein Volk wird nur in dem Maß Früchte tragen und Zukunft schaffen können, wie es Beziehungen der Zusammengehörigkeit unter seinen Mitgliedern hervorbringt und Bindungen zur Integration unter den Generationen und seinen verschiedenen Gemeinschaften schafft; und wie es die Spiralen durchbricht, welche die Sinne trüben und so uns immer mehr voneinander entfernen«.
54.
Trotz dieser dunklen Schatten, die nicht ignoriert werden dürfen, möchte ich auf den folgenden Seiten den vielen Wegen der Hoffnung eine Stimme geben. Gott fährt nämlich fort, unter die Menschheit Samen des Guten zu säen. Die jüngste Pandemie hat uns erlaubt, viele Weggefährten und -gefährtinnen wiederzufinden und wertzuschätzen, die in Situationen der Angst mit der Hingabe ihres Lebens reagiert haben. Wir können erkennen, dass unsere Leben miteinander verwoben sind und durch einfache Menschen gestützt wurden, die aber zweifellos eine bedeutende Seite unserer Geschichte geschrieben haben: Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, Supermarktangestellte, Reinigungspersonal, Betreuungskräfte, Transporteure, Ordnungskräfte, ehrenamtliche Helfer, Priester, Ordensleute und viele, ja viele andere, die verstanden haben, dass niemand sich allein rettet.
55.
Ich lade zur Hoffnung ein. »Sie spricht uns von einem Durst, einem Streben, einer Sehnsucht nach Fülle, nach gelungenem Leben; davon, nach Großem greifen zu wollen, nach dem, was das Herz weitet und den Geist zu erhabenen Dingen wie Wahrheit, Güte und Schönheit, Gerechtigkeit und Liebe erhebt. […] Die Hoffnung ist kühn. Sie weiß über die persönliche Bequemlichkeit, über die kleinen Sicherheiten und Kompensationen, die den Horizont verengen, hinauszuschauen, um sich großen Idealen zu öffnen, die das Leben schöner und würdiger machen«. Schreiten wir voran in der Hoffnung!
(...)
74.
(...) "Ehre den Herrn nicht im Haus der Kirche mit seidenen Gewändern, während du ihn draußen übersiehst, wo er unter Kälte und Blöße leidet.58 Paradoxerweise können manchmal diejenigen, die sich für ungläubig halten, den Willen Gottes besser erfüllen als die Glaubenden. Paradoxerweise können manchmal diejenigen, die sich für ungläubig halten, den Willen Gottes besser erfüllen als die Glaubenden."
77.
(...) Wir dürfen nicht alles von denen erwarten, die uns regieren; das wäre infantil. Wir genießen einen Raum der Mitverantwortung, der es uns ermöglicht, neue Prozesse und Veränderungen einzuleiten und zu bewirken. Wir müssen aktiv Anteil haben beim Wiederaufbau und bei der Unterstützung der verwundeten Gesellschaft. (...)
(...)
78.
(...) Übergroß erscheinende Schwierigkeiten sind Gelegenheiten zum Wachstum, und nicht Entschuldigung für eine lähmende Traurigkeit, welche zum Aufgeben verlockt. Aber arbeiten wir nicht allein und individuell. (...) Verzichten wir auf Engstirnigkeit, auf den Groll unfruchtbarer Partikularismen und auf endlose Konfrontationen. Hören wir auf, den Schmerz der Verluste zu verstecken und nehmen wir unsere Vergehen auf uns, unsere Feigheit und unsere Lügen.
(...)
105.
Der Individualismus macht uns nicht freier, gleicher oder brüderlicher. Die bloße Summe von Einzelinteressen ist nicht in der Lage, eine bessere Welt für die gesamte Menschheit zu schaffen. Sie kann uns auch nicht vor so vielen immer globaler auftretenden Übeln bewahren. Aber radikaler Individualismus ist das am schwersten zu besiegende Virus. Er ist hinterhältig. Er lässt uns glauben, dass alles darauf ankommt, unseren eigenen Ambitionen freien Lauf zu lassen, als ob wir durch Akkumulation individueller Ambitionen und Sicherheiten das Gemeinwohl aufbauen könnten.
(...)
107.
Jeder Mensch hat das Recht, in Würde zu leben und sich voll zu entwickeln, und kein Land kann dieses Grundrecht verweigern. Jeder Mensch besitzt diese Würde, auch wenn er wenig leistet, auch wenn er mit Einschränkungen geboren oder aufgewachsen ist; denn dies schmälert nicht seine immense Würde als Mensch, die nicht auf den Umständen, sondern auf dem Wert seines Seins beruht. Wenn dieses elementare Prinzip nicht gewahrt wird, gibt es keine Zukunft, weder für die Geschwisterlichkeit noch für das Überleben der Menschheit.
(...)
113.
(...) Jede Gesellschaft muss für die Weitergabe von Werten sorgen, denn wenn dies ausbleibt, werden Egoismus, Gewalt und Korruption in ihren verschiedenen Formen sowie Gleichgültigkeit verbreitet, ein Leben letztlich, das jeder Transzendenz verschlossen ist und sich in individuellen Interessen verschanzt.
(...)
115.
In dieser Zeit, in der sich alles zu verwässern und aufzulösen scheint, ist es gut, an die Solidität88zu appellieren, die sich daraus ergibt, dass wir uns für die Schwäche anderer verantwortlich fühlen und versuchen eine gemeinsame Perspektive zu entwickeln. Die Solidarität drückt sich konkret im Dienst aus, der in der Art und Weise, wie wir uns um andere kümmern, sehr unterschiedliche Formen annehmen kann. Dienst bedeutet »zum großen Teil, Schwäche und Gebrechlichkeit zu beschützen. Dienen bedeutet, für die Schwachen in unseren Familien, in unserer Gesellschaft, in unserem Volk zu sorgen.« Bei dieser Aufgabe ist jeder in der Lage, »im konkreten Blick auf die Schwächsten sein Suchen, sein Streben und seine Sehnsucht nach Allmacht auszublenden.[...] Der Dienst schaut immer auf das Gesicht des Mitmenschen, berührt seinen Leib, spürt seine Nähe und in manchen Fällen sogar das „Kranke“ und sucht, ihn zu fördern. Darum ist der Dienst niemals ideologisch, denn man dient nicht Ideen, sondern man dient Menschen«.89
116.
Die Geringsten praktizieren im Allgemeinen »jene so besondere Solidarität, die leidende Menschenzusammenschweißt –arme Menschen –, und die unsere Zivilisation zu vergessen haben scheint, bzw. nur allzu gern vergessen möchte. Solidarität ist ein Wort, das nicht immer gefällt; ja, ich würde sagen, wir haben es manchmal sogar zu einer Art Schimpfwort gemacht, das man besser nicht in den Mund nimmt. Aber es ist ein Wort, das sehr viel mehr bedeutet als einige sporadische Gesten der Großzügigkeit. Es bedeutet, dass man im Sinne der Gemeinschaft denkt und handelt, dass man dem Leben aller Vorrang einräumt–und nicht der Aneignung der Güter durch einige wenige. Es bedeutet auch, dass man gegen die strukturellen Ursachen der Armut kämpft: Ungleichheit, das Fehlen von Arbeit, Boden und Wohnung, die Verweigerung der sozialen Rechte und der Arbeitsrechte. Es bedeutet, dass man gegen die zerstörerischen Auswirkungen der Herrschaft des Geldes kämpft [...]. Die Solidarität, verstanden in ihrem tiefsten Sinne, ist eine Art und Weise, Geschichte zu machen, und genau das ist es, was die Volksbewegungen tun«.90117. Wenn wir von der Sorge um das gemeinsame Haus unseres Planeten sprechen, dann berufen wir uns auf dieses Minimum an universalem Bewusstsein und an gegenseitiger Fürsorge, die in den Menschen noch verblieben ist. Wenn jemand Wasser im Überfluss besitzt und trotzdem sorgsam damit umgeht, weil er an die anderen denkt, tut er das, weil er ein moralisches Niveau erreicht hat, das es ihm erlaubt, über sich und die Seinen hinauszublicken. Das ist wunderbar human! Ebendiese Haltung braucht es auch, um die Rechte eines jeden Menschen anzuerkennen, auch wenn er auf der anderen Seite der jeweiligen Grenzen geboren wurde
(...)
120. (...) Das Recht auf Privateigentum kann nur als ein sekundäres Naturrecht betrachtet werden, das sich aus dem Prinzip der universalen Bestimmung der geschaffenen Güter ableitet, und dies hat sehr konkrete Konsequenzen, die sich im Funktionieren der Gesellschaft widerspiegeln müssen. Häufig kommt es jedoch vor, dass sekundäre Rechte über die vorrangigen und ursprünglichen Rechte gestellt werden (...)
121.
Niemand darf aufgrund seiner Herkunft ausgeschlossen werden und schon gar nicht aufgrund der Privilegien anderer, die unter günstigeren Umständen aufgewachsen sind. Auch die Grenzen und Grenzverläufe von Staaten können das nicht verhindern. So wie es inakzeptabel ist, dass eine Person weniger Rechte hat, weil sie eine Frau ist, so ist es auch nicht hinnehmbar, dass der Geburts- oder Wohnort schon von sich aus mindere Voraussetzungen für ein würdiges Leben und eine menschenwürdige Entwicklung liefert.
(...)
124.
(...) Wenn wir es nicht nur von der Legitimität des Privateigentums und den Rechten der Bürger einer bestimmten Nation aus betrachten, sondern auch von dem ersten Grundsatz der gemeinsamen Bestimmung der Güter, dann können wir sagen, dass jedes Land auch ein Land des Ausländers ist, denn die Güter eines Territoriums dürfen einer bedürftigen Person, die von einem anderen Ort kommt, nicht vorenthalten werden. (...)
(...)
127.
(...) Es ist möglich, einen Planeten zu wünschen, der allen Menschen Land, Heimat und Arbeit bietet. Dies ist der wahre Weg zum Frieden und nicht die sinnlose und kurzsichtige Strategie, Angst und Misstrauen gegenüber äußeren Bedrohungen zu säen. (...)
128.
Wenn die Überzeugung, dass wir als Menschen Brüder und Schwestern sind, keine abstrakte Idee bleiben, sondern konkret Wirklichkeit werden soll, dann stehen wir vor einer Reihe von Herausforderungen, die uns aufrütteln und uns zwingen, neue Perspektiven einzunehmen und neue Antworten zu entwickeln.
129.
(...) Ideal wäre es, wenn unnötige Migration vermieden werden könnte, und das kann erreicht werden, indem man in den Herkunftsländern die Bedingungen für ein Leben in Würde und Wachstum schafft, so dass jeder die Chance auf eine ganzheitliche Entwicklung hat. Solange es jedoch keine wirklichen Fortschritte in dieser Richtung gibt, ist es unsere Pflicht, das Recht eines jeden Menschen zu respektieren, einen Ort zu finden, an dem er nicht nur seinen Grundbedürfnissen und denen seiner Familie nachkommen, sondern sich auch als Person voll verwirklichen kann. (...)
(...)
137.
Gegenseitige Hilfe zwischen Ländern kommt letztlich allen zugute. Ein Land, das sich auf der Grundlage seiner ursprünglichen Kultur weiterentwickelt, ist wertvoll für die gesamte Menschheit. Wir müssen das Bewusstsein dafür schärfen, dass wir die Probleme unserer Zeit nur gemeinsam oder gar nicht bewältigen werden. Armut, Verfall und die Leiden eines Teils der Erde sind ein stillschweigender Nährboden für Probleme, die letztlich den ganzen Planeten betreffen.
(...)
159.
Es gibt volksnahe Anführer, die fähig sind, das Volksempfinden zu interpretieren wie auch seine kulturelle Dynamik und die großen Tendenzen einer Gesellschaft. Der Dienst, den sie ausüben, indem sie zusammenführen und leiten, kann die Grundlage für ein dauerhaftes Projekt der Umwandlung und des Wachstums sein. Das schließt die Bereitschaft mit ein, auf der Suche nach dem Gemeinwohl zugunsten anderer auf seinen Posten zu verzichten. Aber dieser Dienst verkommt zu einem ungesunden Populismus, wenn er sich in die Fähigkeit verwandelt, Konsens zu erzielen mit dem Zweck, unter verschiedenen ideologischen Vorzeichen die Kultur des Volkes politisch zu instrumentalisieren, damit sie dem je persönlichen Projekt und dem Festhalten an der Macht dient. Andere Male wird auf Popularitätsgewinn gezielt, indem die niedrigsten und egoistischen Neigungen einiger Gruppierungen der Gesellschaft geschürt werden. Dies ist noch schwerwiegender, wenn es in groben oder subtilen Formen zu einer Unterhöhlung der Institutionen und der Legalität führt
160.
Die geschlossenen populistischen Gruppen verzerren das Wort "Volk". Wovon sie reden, ist nämlich in Wirklichkeit kein echtes Volk. In der Tat ist die Kategorie "Volk" offen. Ein lebendiges, dynamisches Volk mit Zukunft ist jenes, das beständig offen für neue Synthesen bleibt, indem es in sich das aufnimmt, was verschieden ist. Dazu muss es sich nicht selbst verleugnen, sondern bereit sein, in Bewegung gesetzt zu werden und sich der Diskussion zu stellen, erweitert zu werden, von anderen bereichert. Auf diese Weise kann es sich weiterentwickeln.
161.
Eine weitere entartete Form der Führungsrolle im Volk ist die Suche nach dem unmittelbaren Interesse. Man antwortet auf Bedürfnisse des Volkes, um sich Stimmen oder Unterstützung zu sichern, aber ohne in einem mühsamen, kontinuierlichen Einsatz voranzuschreiten, der den Personen die Ressourcen für ihre Entwicklung bietet, um ihr Leben mit ihren Initiativen und ihrer Kreativität zu gestalten. In diesem Sinn habe ich klar zum Ausdruck gebracht, dass »mir völlig fern liegt, einen unverantwortlichen Populismus vorzuschlagen«.133 Einerseits verlangt die Überwindung der sozialen Ungerechtigkeit, die Wirtschaft zu fördern und die Potentialitäten jeder Region Frucht bringen zu lassen und so eine nachhaltige soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten.134Andererseits »sollten die Hilfsprojekte, die einigen dringlichen Erfordernissen begegnen, nur als provisorische Maßnahmen angesehen werden«.135
162.
Das große Thema ist die Arbeit. Das, was wirklich volksnah ist –weil es das Wohl des Volkes fördert –ist, allen die Möglichkeit zu gewährleisten, die Samen aufkeimen zu lassen, die Gott in jeden hineingelegt hat, seine Fähigkeiten, seine Initiative, seine Kräfte. Dies ist die beste Hilfe für einen Armen, der beste Weg zu einer würdigen Existenz. Daher bestehe ich darauf: »Den Armen mit Geld zu helfen muss in diesem Sinn immer eine provisorische Lösung sein, um den Dringlichkeiten abzuhelfen. Das große Ziel muss immer sein, ihnen mittels Arbeit ein würdiges Leben zu ermöglichen«.136 Auch wenn sich die Produktionssysteme verändern, darf die Politik nicht auf das Ziel einer Gesellschaftsorganisation verzichten, die es jeder Person ermöglicht, sich mit ihren Fähigkeiten und Initiativen einzubringen. Denn es »existiert keine schlimmere Armut als die, welche dem Menschen die Arbeit und die Würde der Arbeit nimmt«.137In einer wirklich entwickelten Gesellschaft ist die Arbeit eine unverzichtbare Dimension des gesellschaftlichen Lebens, weil sie nicht nur eine Art ist, sich das Brot zu verdienen, sondern auch ein Weg zum persönlichen Wachstum, um gesunde Beziehungen aufzubauen, um sich selbst auszudrücken, um Gaben zu teilen, um sich mitverantwortlich für die Vervollkommnung der Welt zu fühlen und schließlich, um als Volk zu leben.
163.
Die Kategorie des Volkes mit ihrer positiven Wertung der gemeinschaftlichen und kulturellen Bindungen wird für gewöhnlich von den liberalen individualistischen Visionen abgelehnt, innerhalb derer die Gesellschaft als eine bloße Summe von koexistierenden Interessen betrachtet wird. Sie sprechen von der Achtung der Freiheit, aber ohne die Wurzel eines gemeinsamen sprachlichen Hintergrunds. In bestimmten Kontexten erhebt sich oftmals die Anklage des Populismus gegen all diejenigen, die die Rechte der Schwächsten in der Gesellschaft verteidigen. Für diese Sichtweisen ist die Kategorie des Volkes eine Mythologisierung von etwas, was es in Wirklichkeit nicht gibt. Aber hier entsteht eine unnötige Polarisierung: weder jene des Volkes noch jene des Nächsten sind rein mythische oder romantische Kategorien, welche die gesellschaftliche Organisation, die Wissenschaft und die Institutionen der Zivilgesellschaft ausschließen oder verachten.138
(...)
166.
(...) Das Problem ist die menschliche Schwachheit, die beständige menschliche Tendenz zum Egoismus, der Teil dessen ist, was die christliche Tradition "Begierlichkeit" nennt: die Neigung des Menschen, sich in der Immanenz des eigenen Ichs zu verschließen, seiner Gruppe, seiner armseligen Interessen. Diese Begierlichkeit ist kein Fehler unserer Epoche. Sie gibt es, seit der Mensch existiert. (...)
(...)
168.
Der Markt allein löst nicht alle Probleme, auch wenn man uns zuweilen dieses Dogma des neoliberalen Credos glaubhaft machen will. Es handelt sich um eine schlichte, gebetsmühlenartig wiederholte Idee, die vor jeder aufkeimenden Herausforderung immer die gleichen Rezepte herauszieht. Der Neoliberalismus regeneriert sich immer wieder neu auf identische Weise, indem er – ohne sie beim Namen zu nennen– auf die magische Vorstellung des Spillover oder die Trickle-down-Theorie als einzige Wege zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme zurückgreift. Man sieht nicht, dass die vorgebliche Neuverteilung nicht die soziale Ungerechtigkeit aufhebt, die ihrerseits Quelle neuer Formen von Gewalt ist, die das gesellschaftliche Gefüge bedrohen. Einerseits ist eine aktive Wirtschaftspolitik unverzichtbar, die darauf ausgerichtet ist »eine Wirtschaft zu fördern, welche die Produktionsvielfalt und die Unternehmerkreativität begünstigt«140, damit es möglich ist, die Anzahl von Arbeitsplätzen zu erhöhen, anstatt sie zu senken. Eine Finanzspekulation mit billigem Gewinn als grundlegendem Ziel setzt ihr Vernichtungswerk fort. Andererseits kann der Markt »ohne solidarische und von gegenseitigem Vertrauen geprägte Handlungsweisen in seinem Inneren die ihm eigene wirtschaftliche Funktion nicht vollkommen erfüllen. Heute ist dieses Vertrauen verlorengegangen«.141 Damit hat die Geschichte nicht aufgehört, und die dogmatischen Rezepte der herrschenden Wirtschaftstheorie haben sich als fehlbar erwiesen. Die Zerbrechlichkeit der weltweiten Systeme angesichts der Pandemie hat gezeigt, dass nicht alles durch den freien Markt gelöst werden kann und dass – über die Rehabilitierung einer gesunden Politik hinaus, die nicht dem Diktat der Finanzwelt unterworfen ist – wir »die Menschenwürde wieder in den Mittelpunkt stellen müssen. Auf diesem Grundpfeiler müssen die sozialen Alternativen erbaut sein, die wir brauchen.«142
(...)
170.
Ich erlaube mir zu wiederholen: »Die Finanzkrise von 2007-2008 war eine Gelegenheit für die Entwicklung einer neuen, gegenüber den ethischen Grundsätzen aufmerksameren Wirtschaft und für eine Regelung der spekulativen Finanzaktivität und des fiktiven Reichtums. Doch es gab keine Reaktion, die dazu führte, die veralteten Kriterien zu überdenken, die weiterhin die Welt regieren«.147 Im Gegenteil, es scheint, dass die tatsächlichen Strategien, die sich im Anschluss daran weltweit entwickelt haben, auf mehr Individualismus und weniger Integration zielten, auf mehr Freiheit für die wahren Mächtigen, die immer ein Hintertürchen finden.
171.
Ich möchte auf dieser Tatsache bestehen: »Jedem das Seine zu geben – gemäß der klassischen Definition von Gerechtigkeit – bedeutet, dass weder eine Einzelperson noch eine Menschengruppe sich als allmächtig betrachten darf, dazu berechtigt, über die Würde und die Rechte der anderen Einzelpersonen oder ihrer gesellschaftlichen Gruppierungen hinwegzugehen. Die faktische Verteilung der Macht (auf dem Gebiet von Politik, Wirtschaft, Verteidigung, Technologie u. a. m.) unter vielen verschiedenen Personen und die Schaffung eines rechtlichen Systems zur Regelung der Ansprüche und Interessen konkretisiert die Begrenzung der Macht. Ein weltweiter Überblick zeigt uns jedoch heute viele Scheinrechte und zugleich große schutzlose Bereiche, die vielmehr Opfer einer schlechten Ausübung der Macht sind«.148
172.
Das 21. Jahrhundert ist »Schauplatz eines Machtschwunds der Nationalstaaten, vor allem weil die Dimension von Wirtschaft und Finanzen, die transnationalen Charakter besitzt, tendenziell die Vorherrschaft über die Politik gewinnt. In diesem Kontext wird es unerlässlich, stärkere und wirkkräftig organisierte internationale Institutionen zu entwickeln, die Befugnisse haben, die durch Vereinbarung unter den nationalen Regierungen gerecht bestimmt werden, und mit der Macht ausgestattet sind, Sanktionen zu verhängen«.149Wenn von der Möglichkeit einer Form von politischer Weltautorität die Rede ist, die sich dem Recht unterordnet150, so ist dabei nicht notwendigerweise an eine personale Autorität zu denken.Sie müsste zumindest die Schaffung von wirksameren Weltorganisationen vorsehen, die mit der Autorität ausgestattet sind, die Beseitigung von Hunger und Elend und die feste Verteidigung der grundlegenden Menschenrechte zu gewährleisten.173. In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass eine »Reform sowohl der Organisation der Vereinten Nationen als auch der internationalen Wirtschafts-und Finanzgestaltung« notwendig ist, »damit dem Konzept einer Familie der Nationen reale und konkreteForm gegeben werden kann.«151 Zweifelsohne setzt dies genaue rechtliche Maßgaben voraus, um zu vermeiden, dass es sich um eine nur von einigen Ländern berufene Autorität handelt. Ebenso gilt es, die Aufoktroyierung einer bestimmten Kultur oder die Einschränkung der Grundfreiheiten der ärmsten Nationen aufgrund ideologischer Differenzen zu verhindern. Denn »die internationale Gemeinschaft ist eine Rechtgemeinschaft, die auf der Souveränität jedes Mitgliedsstaates beruht, dessen Unabhängigkeit nicht durch Bande der Unterordnung negiert oder eingeschränkt wird«.152 Aber »das Werk der Vereinten Nationen kann –angefangen von den Postulaten der Präambel und der ersten Artikel ihrer Charta – als die Entwicklung und Förderung der Souveränität des Rechtes angesehen werden, da die Gerechtigkeit bekanntlich eine unerlässliche Voraussetzung ist, um das Ideal der universalen Brüderlichkeit zu erreichen [...]. Es muss die unangefochtene Herrschaft des Rechtes sichergestellt werden sowie der unermüdliche Rückgriff auf die Verhandlung, die guten Dienste und auf das Schiedsverfahren, wie es in der Charta der Vereinten Nationen, einer wirklich grundlegenden Rechtsnorm, vorgeschlagen wird«.153 Es muss vermieden werden, dass dieser Organisation die Legitimation entzogen wird, denn ihre Probleme und Mängel können nur gemeinsam angegangen und gelöst werden.
174.
Es braucht Mut und Großherzigkeit, um frei bestimmte gemeinsame Ziele festzulegen und die weltweite Erfüllung einiger wesentlicher Normen sicherzustellen. Damit dies wirklich von Nutzen ist, muss »die Forderung, unterschriebene Verträge einzuhalten (pacta sunt servanda)«,154 aufrecht erhalten werden, um der Versuchung zu widerstehen, »lieber auf das Recht des Stärkeren als auf die Kraft des Rechtes zu setzen«.155 Dies verlangt die Stärkung der »normativen Mittel zur friedlichen Lösung von Konflikten, [...] mit einer größeren Reichweite und Verbindlichkeit«.156 Unter diesen normativen Werkzeugen sollen die multilateralen Abkommen zwischen den Staaten begünstigt werden, weil sie besser als die bilateralen Abkommen die Sorge um ein wirklich universales Gemeinwohl und den Schutz der schwächsten Staaten gewährleisten.
(...)
177.
Ich darf betonen: »Die Politik darf sich nicht der Wirtschaft unterwerfen, und diese darf sich nicht dem Diktat und dem effizienzorientierten Paradigma der Technokratie unterwerfen.«158 Auch wenn man Machtmissbrauch, Korruption, Gesetzüberschreitung und Ineffizienz bekämpfen muss, kann man »nicht eine Wirtschaft ohne Politik rechtfertigen –sie wäre unfähig, eine andere Logik zu begünstigen, die die verschiedenen Aspekte der gegenwärtigen Krise lenken könnte.«159 Im Gegenteil, »wir brauchen eine Politik, deren Denken einen weiten Horizont umfasst und die einem neuen, ganzheitlichen Ansatz zum Durchbruch verhilft, indem sie die verschiedenen Aspekte der Krise in einen interdisziplinären Dialog aufnimmt«.160 Ich denke an eine »solide Politik [...], die die Institutionen zu reformieren und zu koordinieren vermag und die auch deren Betrieb ohne Pressionen und lasterhafte Trägheit gewährleistet«.161 Das kann man nicht von der Wirtschaft verlangen und man kann auch nicht akzeptieren, dass diese die wirkliche Staatsgewalt übernimmt.
178.
Angesichts vieler Formen armseliger Politik, die auf das unmittelbare Interesse ausgerichtet sind, zeigt sich »die politische Größe, wenn man in schwierigen Momenten nach bedeutenden Grundsätzen handelt und dabei an das langfristige Gemeinwohl denkt. Diese Pflicht in einem Projekt der Nation auf sich zu nehmen, kostet die politische Macht einen hohen Preis«162; dies umso mehr in einem gemeinsamen Projekt für die gegenwärtige und zukünftige Menschheit. An die zukünftige Generation zu denken, dient nicht zu Wahlzwecken. Es ist aber der Anspruch einer authentischen Gerechtigkeit, weil, wie die Bischöfe Portugals gelehrt haben, die Erde »eine Leihgabe ist, die jede Generation empfängt und der nachfolgenden Generation weitergeben muss«.163
179.
Die weltweite Gesellschaft weist schwerwiegende strukturelle Mängel auf, die nicht durch Zusammenflicken oder bloße schnelle Gelegenheitslösungen behoben werden. Es gibt Dinge, die durch neue Grundausrichtungen und bedeutende Verwandlungen verändert werden müssen. Nur eine gesunde Politik könnte hier die Führungsrolle übernehmen und dabei die verschiedensten Sektoren und die unterschiedlichsten Wissensbereiche einbeziehen. So kann eine Wirtschaft, die sich in ein politisches, soziales, kulturelles und vom Volk her kommendes Projekt für Gemeinwohl einfügt, »den Weg für andere Möglichkeiten [eröffnen], die nicht etwa bedeuten, die Kreativität des Menschen und seinen Sinn für Fortschritt zu bremsen, sondern diese Energie auf neue Anliegen hin auszurichten«.163
180.
Es ist keine pure Utopie, jeden Menschen als Bruder oder Schwester anerkennen zu wollen und eine soziale Freundschaft zu suchen, die alle integriert. Dazu braucht es Entschiedenheit und die Fähigkeit, wirksame Wege zu finden, die sie real möglich machen. Jegliches Bemühen in diese Richtung wird zu einer anspruchsvollen Ausübung der Nächstenliebe. Denn ein Einzelner kann einer bedürftigen Person helfen, aber wenn er sich mit anderen verbindet, um gesellschaftliche Prozesse zur Geschwisterlichkeit und Gerechtigkeit für alle ins Leben zu rufen, tritt er in "das Feld der umfassenderen Nächstenliebe, der politischen Nächstenliebe ein". Es geht darum, zu einer gesellschaftlichen und politischen Ordnung zu gelangen, deren Seele die gesellschaftliche Nächstenliebe ist. (...)
(...)
189.
Wir sind noch weit entfernt von einer Globalisierung der wesentlichen Menschenrechte. Daher kann es die Weltpolitik nicht unterlassen, unter ihre unverzichtbaren Hauptziele das der effektiven Beseitigung des Hungers aufzunehmen. »Wenn die Finanzspekulation [nämlich] den Preis für Lebensmittel bestimmt und diese als x-beliebige Ware betrachtet, dann müssen Millionen von Menschen darunter leiden und verhungern. Auf der anderen Seite werden Tonnen von Lebensmitteln weggeworfen. Das ist ein Skandal! Andere hungern zu lassen, ist ein Verbrechen; Ernährung ein unveräußerliches Recht«.188Während wir uns in unsere semantischen und ideologischen Diskussionen verbeißen, lassen wir oftmals zu, dass auch heute noch Brüder und Schwestern verhungern und verdursten, obdachlos und ohne Zugang zur Gesundheitsversorgung. Neben diesen unerfüllten Grundbedürfnissen ist der Menschenhandel eine weitere Schande für die Menschheit, welche die internationale Politik jenseits von Ansprachen und guten Absichten hinaus nicht weiter tolerieren dürfte. Das sind die unverzichtbarer Minimalvoraussetzungen.
(...)
193.
Während dieses unermüdlichen Einsatzes bleibt jeder Politiker doch immer auch Mensch. Er ist gerufen, die Liebe in seinen alltäglichen zwischenpersönlichen Beziehungen zu leben. Er ist eine Person und er muss wahrnehmen, dass »die moderne Welt, selbst mit ihrer technischen Perfektion, dazu neigt, immer mehr die Befriedigung der menschlichen Sehnsüchte zu rationalisieren, sie in verschiedene Dienstleistungen zu klassifizieren und zu unterteilen. Immer weniger nennt man einen Menschen mit seinem eigenen Namen, immer wenigerwird man dieses einzigartige Wesen auf der Welt als Person behandeln, das sein eigenes Herz, seine Leiden, seine Probleme, seine Freuden und seine Familie besitzt. Man wird nur seine Krankheiten kennen, um sie zu heilen, seinen Mangel an Geld, um es ihm bereitzustellen, sein Bedürfnis nach einem Zuhause, um ihm Unterkunft zu geben, seinen Wunsch nach Zerstreuung und Ablenkung, um diesen entgegenzukommen«. Aber »den unbedeutendsten der Menschen wie einen Bruder zu lieben, so als ob es auf der Welt keine anderen als ihn gäbe, das ist kein Zeitverlust«.190
(...)
198.
Aufeinander zugehen, sich äußern, einander zuhören, sich anschauen, sich kennenlernen, versuchen, einander zu verstehen, nach Berührungspunkten suchen –all dies wird in dem Wort Dialog zusammengefasst. Um einander zu begegnen und sich gegenseitig zu helfen, müssen wir miteinander sprechen. Es versteht sich von selbst, wozu der Dialog dient. Man braucht nur daran zu denken, was die Welt ohne dieses geduldige Gespräch so vieler hochherziger Menschen wäre, die Familien und Gemeinschaften zusammengehalten haben. Ein beharrlicher und mutiger Dialog erregt kein Aufsehen wie etwa Auseinandersetzungen und Konflikte, aber er hilft unauffällig der Welt, besser zu leben, und zwar viel mehr, als uns bewusst ist.
199.
Einige versuchen, der Realität zu entfliehen, indem sie sich in die Privatsphäre zurückziehen, andere begegnen ihr mit zerstörerischer Gewalt. Aber »zwischen der egoistischen Gleichgültigkeit und dem gewaltsamen Protest gibt es eine Option, die immer möglich ist: den Dialog. Der Dialog zwischen den Generationen, der Dialog im Volk, denn wir alle gehören zum Volk, die Fähigkeit, zu geben und zu empfangen, zugleich für die Wahrheit offen zu sein. Ein Land wächst, wenn seine verschiedenen kulturellen Reichtümer konstruktiv in Dialog miteinander stehen: die Volkskultur, die Universitätskultur, die Jugendkultur, die Kultur der Kunst und die Kultur der Technik, die Wirtschaftskultur und die Familienkultur sowie die Medienkultur«.196
200.
Häufig wird der Dialog mit etwas ganz anderem verwechselt, nämlich einem hitzigen Meinungsaustausch in sozialen Netzwerken, der nicht selten durch nicht immer zuverlässige Medieninformationen beeinflusst wird. Das sind nur parallel verlaufende Monologe, die vielleicht durch ihren lauten, aggressiven Ton die Aufmerksamkeit anderer auf sich ziehen. Monologe aber verpflichten niemanden, so dass ihr Inhalt nicht selten opportunistisch und widersprüchlich ist.
201.
Die sensationsgierige Verbreitung von Fakten und Aufrufen in den Medien verhindert tatsächlich oft einen Dialog, weil sie jedem erlaubt, seine eigenen Ideen, Interessen und Optionen unangetastet und ohne Nuancen beizubehalten, während die Fehler anderer als Ausrede dafür dienen. Es herrscht der Brauch, den Gegner schnell zu diskreditieren und mit demütigenden Schimpfwörtern zu versehen, anstatt sich einem offenen und respektvollen Dialog zu stellen, bei dem man eine Synthese sucht, die weiterführt. Das Schlimmste ist, dass diese im medialen Kontext einer politischen Kampagne übliche Sprache derart verbreitet ist, dass sie von allen tagtäglich verwendet wird. Die Debatte wird oft von mächtigen Partikularinteressen gelenkt, die hinterlistig versuchen, die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Ich beziehe mich nicht nur auf die jeweils amtierende Regierung, denn diese manipulative Macht kann wirtschaftlicher, politischer, medialer, religiöser oder sonstiger Art sein. Wenn ihre Stoßrichtung mit den eigenen wirtschaftlichen oder ideologischen Interessen übereinstimmt, wird sie zuweilen gerechtfertigt oder entschuldigt, früher oder später aber wendet sie sich gegen eben diese Interessen.
202.
Der Mangel an Dialog bringt es mit sich, dass niemand in den einzelnen Bereichen auf das Gemeinwohl bedacht ist, sondern nur darauf, aus der Macht Nutzen zu ziehen oder bestenfalls die eigene Denkweise durchzusetzen. So werden Gespräche zu bloßen Verhandlungen um die meiste Macht und den größtmöglichen Nutzen, ohne einer gemeinsamen Suche nach dem Gemeinwohl. Die Helden der Zukunft werden die sein, die diese ungesunde Logik zu durchbrechen wissen und mit allem Respekt die Wahrheit fördern, jenseits von persönlichen Interessen. So Gott will, wachsen diese Helden still im Herzen unserer Gesellschaft.
203.
Der echte Dialog innerhalb der Gesellschaft setzt die Fähigkeit voraus, den Standpunkt des anderen zu respektieren und zu akzeptieren, dass er möglicherweise gerechtfertigte Überzeugungen oder Interessen enthält. Schon von seinem personalen Sein herhat der andere etwas beizutragen, und es ist wünschenswert, dass er seine eigene Position vertieft und darlegt, damit die öffentliche Debatte noch umfassender wird. Sicher kommt es der Gesellschaft auf die eine oder andere Weise zugute, wenn eine Person oder eine Gruppe kohärent lebt, Werte und Überzeugungen fest vertritt und eine Meinung entwickelt. Dies geschieht aber nur in dem Maß, in dem eine solche Entwicklung im Dialog und in Offenheit gegenüber anderen stattfindet. Denn »in einem wahren Geist des Dialogs wächst die Fähigkeit, den Sinn dessen zu verstehen, was der andere sagt und tut, auch wenn man es nicht als eigene Überzeugung für sich selbst übernehmen kann. Auf diese Weise wird es möglich, aufrichtig zu sein und das, was wir glauben, nicht zu verbergen, dabei aber doch weiter im Gespräch zu bleiben, Berührungspunkte zu suchen und vor allem gemeinsam [...] zu arbeiten und zu kämpfen«.197Wenn die öffentliche Diskussion wirklich allen Raum gibt und Informationen nicht manipuliert oder verheimlicht, ist sie ein ständiger Ansporn zur besseren Wahrheitsfindung oder wenigstens zu ihrer besseren Vermittlung. Sie verhindert, dass die verschiedenen Bereiche in ihrer Sichtweise und in ihren begrenzten Interessen bequem und selbstgenügsam werden. Denken wir daran: »Unterschiede sind kreativ, sie erzeugen Spannungen und in der Auflösung einer Spannung liegt der Fortschritt der Menschheit«.198
(...)
206.
Der Relativismus ist keine Lösung. Unter dem Deckmantel von vermeintlicher Toleranz führt er letztendlich dazu, dass die Mächtigen sittliche Werte der momentanen Zweckmäßigkeit entsprechend interpretieren. Wenn es letztendlich nämlich »weder objektive Wahrheiten noch feste Grundsätze gibt außer der Befriedigung der eigenen Pläne und der eigenen unmittelbaren Bedürfnisse [...] können wir nicht meinen, dass die politischen Pläne oder die Kraft des Gesetzes ausreichen werden [...] Denn wenn die Kultur verfällt und man keine objektive Wahrheit oder keine allgemein gültigen Prinzipien mehr anerkennt, werden die Gesetze nur als willkürlicher Zwang und als Hindernisse angesehen, die es zu umgehen gilt«.201
(...)
208.
Wir müssen uns angewöhnen, die verschiedenen Arten und Weisen der Manipulation, Verzerrung und Verschleierung der Wahrheit im öffentlichen und privaten Bereich zu entlarven. Was wir „Wahrheit“ nennen, ist nicht nur die Faktenvermittlung durch den Journalismus. Es ist vor allem die Suche nach den stabilsten Grundlagen für unsere Entscheidungen und auch für unsere Gesetze. Das bedeutet zuzugestehen, dass der menschliche Verstand über die momentanen Bedürfnisse hinaus einige Wahrheiten erkennen kann, die unveränderlich sind, die schon vor uns wahr waren und es immer sein werden. Durch die Erforschung der menschlichen Natur entdeckt die Vernunft Werte, die universell sind, weil sie sich von ihr ableiten.
209.
Könnte es anderenfalls nicht vielleicht geschehen, dass die grundlegenden Menschenrechte, hinter die man heute nicht zurückgehen kann, von den jeweiligen Mächtigen verwehrt werden, nachdem sie den „Konsens“ einer eingeschläferten und eingeschüchterten Bevölkerung erlangt haben? Auch ein bloßer Konsens zwischen den verschiedenen Völkern wäre nicht ausreichend und gleichermaßen manipulierbar. Wir haben bereits reichlich Beweise für all das Gute, zu dem wir fähig sind, doch gleichzeitig müssen wir zugeben, dass wir eine destruktive Neigung in uns haben. Ist nicht auch der gleichgültige und unerbittliche Individualismus, in den wir gefallen sind, das Ergebnis der Trägheit bei der Suche nach den höheren Werten, die über die momentanen Bedürfnisse hinausgehen? Zum Relativismus kommt die Gefahr hinzu, dass der Mächtigste oder Schlauste am Ende eine Scheinwahrheit aufoktroyiert. Doch »im Hinblick auf die sittlichen Normen, die das in sich Schlechte verbieten, gibt es für niemanden Privilegien oder Ausnahmen. Ob einer der Herr der Welt oder der Letzte, „Elendeste“ auf Erden ist, macht keinen Unterschied: Vor den sittlichen Ansprüchen sind wir alle absolut gleich«.202
210.
(...) Die Verdrängung der sittlichen Vernunft hat zur Folge, dass sich das Recht nicht auf eine Grundkonzeption von Gerechtigkeit beziehen kann, sondern zum Spiegel der herrschenden Ideen wird. Hier beginnt der Verfall: eine fortschreitende "Nivellierung nach unten" durch einen oberflächlichen Verhandlungskonsens. So triumphiert am Ende die Logik der Gewalt.
(...)
222.
Der Konsumindividualismus verursacht viel Missbrauch. Die anderen Menschen werden zu bloßen Hindernissen für die eigene angenehme Ruhe. So behandelt man sie schließlich, als würden sie eine Belästigung darstellen, und die Aggressivität nimmt zu. Dies verschärft sich und erreicht unerträgliche Ausmaße in Krisenzeiten, in Katastrophensituationen, in schwierigen Momenten, wenn der Geist des „Es rette sich, wer kann“ offen zutage tritt. Trotzdem kann man sich immer noch für die Freundlichkeit entscheiden. Es gibt Menschen, die dies tun und wie Sterne in der Dunkelheit leuchten.
223.
Der heilige Paulus bezeichnete eine Frucht des Heiligen Geistes mit dem griechischen Wort chrestotes(Gal5,22), was einen Seelenzustand ausdrückt, der nicht rau, grob oder hart ist, sondern gütig und sanft, der stützt und tröstlich ist. Die Person, die diese Eigenschaft besitzt, hilft anderen, ihr Dasein besser zu ertragen, insbesondere die Last der Probleme, Nöte und Ängste. Diese Umgangsart zeigt die sich auf verschiedene Weise: in einer freundlichen Behandlung, als Sorge, nicht mit Worten oder Gesten zu verletzen, als Bemühen, die Last der anderen zu erleichtern. Es geht darum, »Worte der Ermutigung [zu] sagen, die wieder Kraft geben, die aufbauen, die trösten und die anspornen«, statt »Worte, die demütigen, die traurig machen, die ärgern, die herabwürdigen«.208
224.
Freundlichkeit befreit uns von der Grausamkeit, die manchmal die menschlichen Beziehungen durchdringt, von der Ängstlichkeit, die uns davon abhält, an andere zu denken, von der zerstreuten Bedürfnisbefriedigung, die ignoriert, dass auch andere ein Recht darauf haben, glücklich zu sein. Heute hat man oft weder Zeit noch übrige Kräfte, um innezuhalten und andere gut zu behandeln, um „Darf ich?“, „Entschuldige!“, „Danke!“ zu sagen. Hin und wieder aber erscheint wie ein Wunder ein freundlicher Mensch, der seine Ängste und Bedürfnisse beiseite lässt, um aufmerksam zu sein, ein Lächeln zu schenken, ein Wort der Ermutigung zu sagen, einen Raum des Zuhörens inmitten von so viel Gleichgültigkeit zu ermöglichen. Dieses täglich gelebte Bemühen kann jenes gesunde Zusammenleben schaffen, das Missverständnisse überwindet und Konflikte verhindert. Freundlichkeit zu üben ist kein kleines Detail oder eine oberflächliche spießige Haltung. Da sie Wertschätzung und Respekt voraussetzt, verändert sie –wenn sie zur Kultur wird –in einer Gesellschaft tiefgreifend den Lebensstil, die sozialen Beziehungen und die Art und Weise, wie Ideen diskutiert und miteinander verglichen werden. Freundlichkeit erleichtert die Suche nach Konsens und öffnet Wege, wo die Verbitterung alle Brücken
(...)
261.
Jeder Krieg hinterlässt die Welt schlechter, als er sie vorgefunden hat. Krieg ist ein Versagen der Politik und der Menschheit, eine beschämende Kapitulation, eine Niederlage gegenüber den Mächten des Bösen. Halten wir uns nicht mit theoretischen Diskussionen auf, sondern treten wir in Kontakt mit den Wunden, berühren wir das Fleisch der Verletzten. Schauen wir auf die vielen massakrierten Zivilisten als "Kollateralschäden". Fragen wir die Opfer. (...)
279.
Als Christen fordern wir in Ländern, in denen wir eine Minderheit darstellen, eine Garantie für unsere Freiheit. Genauso befürworten wir sie für diejenigen, die nicht Christen sind, dort, wo sie eine Minderheit bilden. Es gibt ein grundlegendes Menschenrecht, das auf dem Weg zur Geschwisterlichkeit und zum Frieden nicht vergessen werden darf, und das ist die Religionsfreiheit für die Gläubigen aller Religionen. (...)
(...)
281.
Zwischen den Religionen ist ein Weg des Friedens möglich. Der Ausgangspunkt muss der Blick Gottes sein. Denn "Gott schaut nicht mit den Augen, Gott schaut mit dem Herzen. Und Gottes Liebe ist für jeden Menschen gleich, unabhängig von seiner Religion. Und wenn er Atheist ist, ist es die gleiche Liebe. Wenn der jüngste Tag kommt und es genug Licht auf der Erde gibt, um die Dinge so zu sehen, wie sie sind, werden wir viele Überraschungen erleben!"
(...)
285.
Bei dem brüderlichen Treffen mit dem Großimam Ahmad Al-Tayyib, an das ich mich freudig erinnere, »erklären wir mit Festigkeit, dass die Religionen niemals zum Krieg aufwiegeln und keine Gefühle des Hasses, der Feindseligkeit, des Extremismus wecken und auch nicht zur Gewalt oder zum Blutvergießen auffordern. Diese Verhängnisse sind Frucht der Abweichung von den religiösen Lehren, der politischen Nutzung der Religionen und auch der Interpretationen von Gruppen von religiösen Verantwortungsträgern, die in gewissen Geschichtsepochen den Einfluss des religiösen Empfindens auf die Herzen der Menschen missbraucht haben [...]. Denn Gott, der Allmächtige, hat es nicht nötig, von jemandem verteidigt zu werden; und er will auch nicht, dass sein Name benutzt wird, um die Menschen zu terrorisieren«.284 Deshalb möchte ich hier den Aufruf für Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit,den wir gemeinsam gemacht haben, wieder aufgreifen: »Im Namen Gottes, der alle Menschen mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und gleicher Würde geschaffen hat und der sie dazu berufen hat, als Brüder und Schwestern miteinander zusammenzuleben, die Erde zu bevölkern und auf ihr die Werte des Guten, der Liebe und des Friedens zu verbreiten.Im Namen der unschuldigen menschlichen Seele, die zu töten Gott verboten hat, wenn er sagt, dass jeder, der einen Menschen ermordet, so ist, als hätte er die ganze Menschheit getötet, und dass jeder, der einen Menschen rettet, so ist, als hätte er die ganze Menschheit gerettet.Im Namen der Armen, Notleidenden, Bedürftigen und Ausgegrenzten, denen beizustehen nach Gottes Gebot alle verpflichtet sind, insbesondere alle vermögenden und wohlhabenden Menschen.Im Namen der Waisen, Witwen, Flüchtlinge und aller, die aus ihren Häusern und Heimatländern vertrieben wurden, aller Opfer von Krieg, Verfolgung und Ungerechtigkeit; im Namen aller Schwachen, aller in Angst lebenden Menschen, der Kriegsgefangenen und der Gefolterten überall auf der Welt, ohne irgendeinen Unterschied. Im Namen der Völker, die der Sicherheit, des Friedens und des gemeinsamen Zusammenlebens entbehren und Opfer von Zerstörung, Niedergang und Krieg wurden.Im Namen der Brüderlichkeit aller Menschen, die alle umfasst, vereint und gleich macht an Würde.Im Namen dieser Brüderlichkeit, welche durch die politischen Bestrebungen von Integralismus und Spaltung sowie durch maßlos gewinnorientierte Systeme und abscheuliche ideologische Tendenzen, die die Handlungen und Schicksale der Menschen manipulieren, entzweit wird. Im Namen der Freiheit, die Gott allen Menschen geschenkt hat, als er sie frei geschaffen und mit dieser besonderen Würde auszeichnet hat.Im Namen der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit, den Grundlagen des Wohlstands und den Eckpfeilern des Glaubens.Im Namen aller Menschen guten Willens an allen Orten der Welt.Im Namen Gottes und all diesem [...] [nehmen wir] die Kultur des Dialogs als Weg, die allgemeine Zusammenarbeit als Verhaltensregel und das gegenseitige Verständnis als Methode und Maßstab [an].
(...)
Gebet zum Schöpfer
Herr und Vater der Menschheit,
du hast alle Menschen mit gleicher Würde erschaffen.
Gieße den Geist der Geschwisterlichkeit in unsere Herzen ein.
Wecke in uns den Wunsch nach einer neuen Art der Begegnung,
nach Dialog, Gerechtigkeit und Frieden.
Sporne uns an, allerorts bessere Gesellschaften aufzubauen
und eine menschenwürdigere Welt ohne Hunger und Armut, ohne Gewalt und Krieg.
Weitere Enzykliken von Papst Franziskus:
2013 - "Lumen fidei - Licht des Glaubens"
2015 - "Laudato si - Über die Sorge für das gemeinsame Haus".
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Die Welt ist in einem schlechten Zustand – Appell der Sozial-Enzyklika „Fratelli Tutti“
12. Oktober 2020 von Willy Sabautzki bei isw unter: Link
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Sonstiges:
04.10.2020: Brief aus Brüssel über den institutionellen Covid-Stillstand in der EU / Was ist mit bundesdeutschen Behörden los?
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30.09.2020: Stuttgart: 10 Jahre Schwarzer Donnerstag wegen Stuttgart 21
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