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Autoethnografie in Todesnähe. Soziologische Arbeit an und mit herausfordernden Identifikationsprozessen

Foto: H.S.

16.06.2023 - von Melanie Pierburg, Thorsten Benkel, Ekkehard Coenen, Matthias Meitzler & Miriam Sitter

Thanatosoziologisch zu arbeiten bedeutet, wissenschaftlich mit Sterben, Tod und/oder Trauer konfrontiert zu sein – was die Lebenswelten der entsprechenden Forschenden keineswegs unberührt lässt. Wir möchten die Selbstthematisierungsdebatte nutzen, um Einblicke in das sozialwissenschaftliche Forschen in Todesnähe zu geben. Dazu stellen wir ethnografische Studien vor, um Besonderheiten der Feldkonturierung, des Feldzugangs und der Feldaufenthalte herauszuarbeiten, die mit der Endlichkeitsthematik zusammenhängen. Darüber hinaus präsentieren wir autoethnografische Vignetten, in denen wir das konkrete thanatosoziologische Arbeiten problematisieren. Was bedeutet es, einen Artikel über das Sterben zu schreiben, wenn man eine Verlusterfahrung verarbeiten muss? Wie behält man ein distanziertes Verhältnis zu dem Phänomen sterbender Kinder bei, wenn man die Nachbarskinder beim Spielen hört? Und wie geht man damit um, ein Tötungsvideo zu analysieren, dessen Hauptfiguren an die eigene Familie erinnern? Die biografisch inspirierten Texte sollen Schlaglichter auf lebensweltliche Momente werfen, die immer Teil des wissenschaftlichen Arbeitens sind und in Todesnähe besondere Evokationen erzeugen können.

Keywords: Thanatosoziologie; Autoethnografie; Ethnografie; Subjektivität; Sterben; Tod; Trauer

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Ethnografisches Forschen in Sterbewelten

2.1 Feldforschung in Todesnähe: Zugänge und Erkenntnisse

2.2 Außeralltägliche Routine am Lebensende

3. Thanatologische Autoethnografie

4. Autoethnografische Vignetten

4.1 Erste Vignette: über das Sterben schreiben

4.2 Zweite Vignette: Der Ort, an dem ich über sterbende Kinder schreibe, ist selten so werturteilsfrei, wie er wissenschaftlich sein könnte

4.3 Dritte Vignette: das Getötet-Werden anderer betrachten


1. Einleitung

In einem wissenschaftlichen Kommunikationsraum über sich selbst zu sprechen, ist bekanntlich riskant. Ein stark an der Idee akademischer Objektivierungsannäherung orientiertes Wissenschaftsverständnis lässt die Subjektivierung von Erkenntnis nicht zu. In der rekonstruktiv ausgerichteten Sparte der sozialwissenschaftlichen Scientific Community wiederum ist das nicht ganz so problematisch, schließlich sind hier Menschen immer Ko-Konstrukteur*innen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die es zu verstehen gilt. Wenn es dann auch noch, wie im Rahmen der FQS-Debatte Von uns selbst sprechen wir! Erkundungen sozialwissenschaftlichen Arbeitens, einen Aufruf zur Selbstthematisierung gibt, scheint auf den ersten Blick jede Gefahr wissenschaftlicher Selbsteliminierung durch vermeintliche Nabelschau gebannt. Auf den zweiten Blick ist das Risiko allerdings nach wie vor gegeben. Allein die Aufforderung zum selbstbezogenen Schreiben ändert nichts an dessen Fallstricken. Was kann man über sich selbst als Wissenschaftler*in aussagen, das in irgendeiner Form einen wie auch immer gearteten Erkenntnisprozess bereichert? Wen interessieren biografische Idiosynkrasien, welche die Analyse von Phänomenen doch auch im interpretativen Paradigma – zumindest hinsichtlich der Ergebnisse – nicht beeinflussen dürfen? Wird diese Perspektive eingenommen, wird allerdings unterschlagen, dass wir uns immer auch als biografische Subjekte mit wissenschaftlichen Themen auseinandersetzen. Bei der Wissenschaft und der eigenen Biografie handelt es nicht um zwei Sinnsphären, die voneinander unberührt bleiben. Allerdings variiert der Verweisungszusammenhang von wissenschaftlicher Thematisierung und biografischer Perspektive durchaus mit dem Fachgebiet und dem Forschungsgegenstand. [1]

Eine Besonderheit, davon sind wir – die Autor*innen dieses Artikels1) – zumindest überzeugt, stellt der Themenbereich dar, mit dem wir uns sozialwissenschaftlich beschäftigen. Als Thanatosoziolog*innen analysieren wir Phänomene, die in einer Verbindung zu Sterben, Tod und/oder Trauer stehen. Das geht mit ganz unterschiedlichen theoretischen und methodischen Herausforderungen einher und mit einem Spezifikum, das wir für unser Themenspektrum in Anspruch nehmen: Das, womit wir uns wissenschaftlich auseinandersetzen, betrifft jede*n, mit der/dem wir darüber kommunizieren. Auf jeder Tagung sitzen uns Sterbliche gegenüber. Alle Herausgeber*innen, die unsere Texte publizieren, werden irgendwann tot sein, genauso wie unsere Kolleg*innen diesem Schicksal entgegensehen. Und natürlich sind ebenso wir selbst mit dem Horizont der Endlichkeit unserer Existenz konfrontiert. Auch wir Expert*innen für Sterben, Tod und Trauer werden irgendwann nicht mehr Teil der lebendigen Gemeinschaft sein. Was aber vielleicht noch viel schwerer wiegt, ist, dass wir uns auch indirekt mit dem Sterben jenseits unserer Forschung befassen müssen. Wir haben Angehörige und Freund*innen, die sterben. All das kann als biografischer Rahmen verstanden werden, der unsere thanatologischen Studien begleitet und manchmal mehr, manchmal weniger greifbar, fruchtbar oder (hoch)problematisch werden kann. Diese Dimension der Arbeit wird in unseren Artikeln, Büchern und Beiträgen aber, zumindest in den meisten Fällen, nicht dargestellt. Unsere Angst vor dem Sterben, unsere Trauer um verstorbene Angehörige, unsere vielfältigen Vulnerabilitätserfahrungen bleiben unsichtbar. Das ist in vielen Fällen sinnvoll, denn diese biografischen Reflexionen oder gar Einbrüche tun nicht immer etwas zur wissenschaftlichen Sache. Trotzdem sind eben jene Erfahrungen auf einer anderen Ebene relevant. Denn in unserer Forschung setzen wir uns als Sozialwissenschaftler*innen nicht so sehr mit uns selbst auseinander, sondern vor allem mit Anderen, und beim Verstehen dieser Anderen spielen immer auch die eigenen Erlebnisse eine Rolle. [2]

Deshalb soll es in diesem Artikel einmal nicht so sehr um die Anderen gehen. Stattdessen machen wir uns selbst zum Thema, um zu zeigen, dass wir auch als Thanatosoziolog*innen nicht (nur) sachliche Sterbe-, Todes- und Trauerforschende sind, sondern immer und gleichzeitig auch lebensweltliche Akteur*innen, deren Perspektiven auf die Welt mit biografischen Erfahrungen verbunden sind. Um die Verknüpfung von Wissenschaft und Biografie zu fokussieren, stellen wir zunächst unsere Forschung vor, die vor allem ethnografisch ausgerichtet ist (Abschnitt 2). Hierbei möchten wir zeigen, welche spezifischen Potenziale und Herausforderungen mit Ethnografien in Sterbewelten verbunden sind und einen Einblick in unsere wissenschaftlichen Umgangsstrategien geben. Im Anschluss thematisieren wir biografische Aspekte unserer Arbeit. Wie schreibt man über das Sterben, wenn man einen Angehörigen verloren hat? Wie kann mit der wissenschaftlichen Thematisierung von sterbenden Kindern umgegangen werden, wenn man die Nachbarskinder im Garten hört? Wie analysiert man Tötungsvideos, wenn einen die tragischen Protagonist*innen an die eigene Familie erinnern? Es geht uns um das konkrete thanatosoziologische Arbeiten, das immer auch in biografischen Situationen stattfindet. Um diese oftmals versteckten Aspekte wissenschaftlichen Tuns zu repräsentieren, lehnen wir uns an die evokative Autoethnografie (PLODER & STADLBAUER 2013) an, die wir als methodischen Zugang vorstellen (Abschnitt 3). Die darauffolgenden autoethnografischen Vignetten stellen einen gewollten (stilistischen) Bruch zu den vorherigen Ausführungen dar, so wie sich auch Sterben, Tod und Trauer als Differenz zum Und-so-weiter in die Lebenswelt einschreiben können (Abschnitt 4). [3]

2. Ethnografisches Forschen in Sterbewelten
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Quelle: FOrum Qualitative SOCIALR ESEARCH, Volume 24, No. 2, Art. 7 – Mai 2023