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Zweite Heidelberger Hundertjährigen-Studie: Herausforderungen und Stärken des Lebens mit 100 Jahren

Foto: HS

20.01.2023 - von Daniela S. Jopp, Christoph Rott, Kathrin Boerner, Andreas Kruse

Hohes Alter wird im öffentlichen Diskurs häufig mit gesundheitlichen Einschrän-
kungen, kognitiven Defiziten und Einsamkeit gleichgesetzt, obwohl bislang – weder
national noch international – nur wenige empirische Untersuchungen über die
tatsächliche Lebenssituation und den Gesundheitsstatus sehr alter Menschen zur
Verfügung stehen. Diese negativen, von Stereotypen dominierten Altersbilder
führen zu einer Fehleinschätzung der Bedarfe dieser Altersgruppe – z. B. im
Hinblick auf Wohnformen und Unterstützung bei der Lebensführung.
Seit der Einrichtung des Schwerpunkts »Leben im Alter« im Jahr 2002 setzt sich die
Robert Bosch Stiftung dafür ein, ein neues differenziertes Bild vom Alter und Älter-
werden in unserer Gesellschaft zu verankern.

Zentrales Ziel der von der Robert Bosch Stiftung und der Dietmar Hopp Stiftung zu
gleichen Teilen geförderten »Zweite Heidelberger Hundertjährigen-Studie« ist die
Untersuchung der Herausforderungen, aber auch der Stärken und Potentiale, die
ein Leben mit 100 Jahren kennzeichnen. Die vorliegende empirische Studie gibt Auf-
schluss über den Gesundheitszustand und die Lebensqualität von Hundertjährigen
in Deutschland. Daten zu den psychologischen Stärken und den Lebensstrategien
dieser Personengruppe, ihrer Beziehung zu den (sie pflegenden) Angehörigen so-
wie zu ihrer tatsächlichen Einbindung in die sozialräumliche Umwelt werden vorge-
stellt. Ein Schwerpunkt der Studie sind die Fragen nach den sozialpsychologischen
Faktoren und Stärken, die den Hundertjährigen bei ihrer Alltagsbewältigung
helfen. Die Hundertjährigen erzählen über ihre Alltags- und Freizeitaktivitäten,
ihre Sicht auf die Zukunft sowie über ihren Umgang mit Tod und Sterben.

Nach den Studien »Altersbilder von Journalisten«, »Demographieorientierte Personal-
politik in der öffentlichen Verwaltung« und »Altersbilder in anderen Kulturen«
erscheint die »Zweite Heidelberger Hundertjährigen-Studie« als vierte Schrift in
unserer Reihe »Alter und Demographie«.

Mit der Veröffentlichung der Studienergebnisse wollen wir dazu beitragen, dass
sich das gesellschaftlich vorherrschende Bild vom hohen Alter stärker als bisher an
der empirischen Realität orientiert. Wir wünschen uns, dass die Studienergebnisse
zu einer Diskussion über notwendige zukunftsorientierte Entscheidungen für
hochaltrige Menschen führen und ihre Bedarfe adäquate Berücksichtigung finden.

Im Zuge des demographischen Wandels erreichen immer mehr Menschen ein
sehr hohes Alter. Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Gruppe der 65- bis
79-Jährigen von 2010 bis 2030 um 27 % zunehmen wird, die Gruppe der 80-Jährigen
und Älteren im gleichen Zeitraum aber um 51 %.1 In den letzten Jahrzehnten hat
sich die Wahrscheinlichkeit, ein Alter von 80 Jahren zu erreichen, deutlich erhöht.
Basierend auf Angaben des Statistischen Bundesamtes zeigen eigene Berech-
nungen, dass von den Männern der Geburtskohorte 1911 gut 22 % das Alter von
80 Jahren erreichten. Im Vergleich zur Geburtskohorte 1900 war das eine Zunahme
von 45 %. Bei den 1911 geborenen Frauen wurden 39 % 80 Jahre alt, was eine Zu-
nahme von 33 % im Vergleich zu den 1900 Geborenen darstellt.

Auch die Zahl der Hundertjährigen in Deutschland ist in den letzten Jahren stark
angewachsen. Zwischen den Jahren 2000 und 2010 stieg sie laut Angaben der Human
Mortality Database von 5 937 auf 13 198, was einer Zunahme um 122 % entspricht. 2
Hochrechnungen zufolge hat jedes zweite Kind, das nach dem Jahre 2000 in
Deutschland geboren wurde, gute Chancen, seinen 100. Geburtstag zu erreichen. 3
Die 1911 geborenen Männer, die 80 Jahre alt wurden, hatten im Vergleich zu ihren
Altersgenossen der Geburtskohorte 1900 eine um 80 % höhere Chance, den Hun-
dertjährigen-Status zu erreichen. Diese Chance ist nach wie vor klein und beträgt
1,15 %. Bei den Frauen ist sie in geringerem Maße gestiegen (um 46 %) und liegt für
die 1911 Geborenen bei 2,07 %. Beide Entwicklungen – immer mehr Männer und
Frauen erreichen das Alter von 80 Jahren und haben dann größere Chancen, auch
ihren 100. Geburtstag feiern zu können – werden die Zahl der Hundertjährigen
auch in naher Zukunft weiterhin sehr schnell anwachsen lassen.

Trotz dieser weltweiten, in den meisten Industrienationen zu beobachtenden Ent-
wicklungen ist es immer noch eine besondere Errungenschaft, ein so hohes Alter
zu erreichen. Das öffentliche Interesse an extrem alten Menschen ist auch heute
recht groß und besteht schon seit Jahrhunderten, wie der Hundertjährigenkult im
17. und 18. Jahrhundert beweist. Selbst die kritischsten Gelehrten akzeptierten
einahe jedes selbstberichtete Alter jenseits von 100 Jahren als wahr. 4 Personen
wie Thomas Parr (angebliches Alter: 152 Jahre) und Christian Drakenberg (angeb-
liches Alter: 146 Jahre) wurden zu gottähnlichen Legenden. Höchstwahrschein-
lich waren diese Personen zum Zeitpunkt ihres Todes keine 100 Jahre alt.
Heute ist es durch Kirchenbücher und staatliche Dokumentation von Geburtstagen
einfacher geworden, das tatsächliche Alter einer Person festzustellen. Dennoch
gibt es weltweit nur relativ wenige, insbesondere sozialwissenschaftlich orien-
tierte Untersuchungen zu Hundertjährigen mit einem bestätigten Alter. Da sich
frühere und auch gegenwärtige Forschung vor allem darauf konzentriert, was zu
einem extrem langen Leben führt – beispielsweise die genetische Ausstattung –,
nicht aber, wie sich das Leben für diese sehr alten Menschen gestaltet, liegen hier-
zu nur unvollständige Informationen vor. Negative, von Stereotypen dominierte
Altersbilder sind die Folge, die das sehr hohe Alter oft mit Demenz und Gebrech-
lichkeit gleichsetzen. Dies ist für die Hundertjährigen, ihre Angehörigen und die
Gesellschaft fatal: Sie führen nicht nur zu einer Fehleinschätzung der Bedürfnisse
der Hundertjährigen, z. B. hinsichtlich notwendiger Unterstützung oder geeigneter
Wohnformen, sondern auch zur Ausgrenzung und Vernachlässigung wertvoller
Mitglieder unserer sozialen Gemeinschaft.

Welche Herausforderungen, aber auch Stärken und Potentiale bringt das Leben
im Alter von 100 Jahren mit sich?
Die zweite Heidelberger Hundertjährigen-Studie (kurz: HD100-II), deren zentrale
Befunde in dieser Publikation vorgestellt werden, ist die zweite deutsche Studie,
in der eine repräsentative Stichprobe von 95 Hundertjährigen befragt wurde. Sie
repliziert und erweitert die erste Heidelberger Hundertjährigen-Studie (HD100-
I), 5 eine ebenfalls populationsbasierte Studie mit 91 Hundertjährigen aus den Jah-
ren 2000/01.

Zentrales Ziel der von der Robert Bosch Stiftung und der Dietmar
Hopp Stiftung zu gleichen Teilen geförderten zweiten Heidelberger Hundertjäh-
rigen-Studie ist die Untersuchung der Herausforderungen, aber auch der Stärken
und Potentiale, die ein Leben mit 100 Jahren kennzeichnen. Orientiert an HD100-I
und früheren Studien zum sehr hohen Alter untersuchten wir Herausforderungen
in zentralen Lebens- und Funktionsbereichen wie beispielsweise Gesundheit und
Pflegebedürftigkeit, kognitive Leistungsfähigkeit, Wohnsituation und soziales
Netzwerk.

Darüber hinaus lag in HD100-II ein Fokus auf der Erfassung von Lebens-
qualität sowie von psychologischen Stärken, die bei der Aufrechterhaltung des
subjektiven Wohlbefindens von besonderer Bedeutung sein dürften, wie beispiels-
weise Kontrollerleben, Optimismus, Lebenssinn und Lebenswille. Basierend auf
unseren Befunden aus HD100-I haben wir in unserer neuen Studie die Untersu-
chung der psychologischen Stärken ausgeweitet und zusätzliche Faktoren erhoben,
die in jüngeren Altersgruppen den Umgang mit schwierigen Lebenssituationen
nachweislich erleichtern. Zudem widmeten wir uns in HD100-II auch neuen,
im Rahmen von Hundertjährigen-Studien noch nicht untersuchten Themen, wie
beispielsweise dem Umgang mit Sterben und Tod oder der Beziehung zwischen
den Hundertjährigen und ihren selbst alt gewordenen Kindern.

Wodurch zeichnen sich die heutigen Hundertjährigen aus?
Sind sie anders als Personen, die vor elf Jahren 100 Jahre alt waren?
Da das Altern der Bevölkerung weltweit eine große Dynamik aufweist, die in den
höchsten Altersgruppen besonders ausgeprägt ist, stellt sich die wichtige Frage,
welche Folgen diese rasante Entwicklung hat. Befunde dazu, ob und in welcher
Hinsicht sich Hundertjährige verschiedener Generationen bzw. Geburtskohorten
voneinander unterscheiden, sind gesellschaftlich hochrelevant, da diese Ergeb-
nisse empirisch fundierte Szenarien bezüglich der zukünftigen Entwicklung im
Bevölkerungssegment der Hochbetagten erlauben.

Wurden früher nur besonders
widerstandsfähige Menschen 100 Jahre alt, so erlaubt der medizinische Fortschritt
heute auch weniger robusten Menschen ein sehr langes Leben. Dies könnte zur
Folge haben, dass mehr Menschen ein sehr hohes Alter mit mehr Krankheiten und
Einschränkungen erleben. In der Wissenschaft wird hingegen auch ein anderes
Szenario diskutiert: Obwohl immer mehr Menschen ein hohes und sehr hohes Alter
erreichen, könnte es sein, dass diese aufgrund besserer Lebensbedingungen, eines
gesünderen Lebensstils und einer verbesserten medizinischen Versorgung in bes-
serer körperlicher und geistiger Verfassung sind als frühere Geburtsjahrgänge.6
Möglicherweise unterscheiden sich auch die psychischen und sozialen Eigenschaf-
ten der heute Hundertjährigen von früheren Kohorten, da sie andere historische
Ereignisse erlebt haben (z. B. Krieg, Vertreibung, Wirtschaftskrise) oder iden-
tische historische Ereignisse in verschiedenen Lebensaltern eintraten und damit
unterschiedliche Auswirkungen auf die individuelle Entwicklung hatten (Beispiel:
Wurde das Individuum mit Krieg oder Vertreibung im Jugendalter oder aber im
Erwachsenenalter konfrontiert?). Leben heute mehr Hundertjährige alleine, brau-
chen sie mehr oder weniger Pflege? Unterscheiden sich Lebensqualität oder sozi-
ale Ressourcen? Vergleiche zwischen Hundertjährigenkohorten sind essentiell, um
eine Einschätzung der zukünftigen Entwicklung der Hochaltrigen ableiten zu kön-
nen. Zum ersten Mal sind wir in Deutschland in der Lage, hierzu Befunde vorlegen
zu können, da die erste Heidelberger Hundertjährigen-Studie (HD100-I) zu Ver-
gleichen herangezogen werden kann.

Wie unterscheidet sich das Leben mit 100 in Deutschland von anderen Ländern?
Bislang gibt es kaum Studien, die Hundertjährige aus verschiedenen Ländern mit-
einander vergleichen. Dabei könnten solche Untersuchungen zum besseren Ver-
ständnis möglicher kultureller Einflüsse auf das Leben im hohen und sehr hohen
Alter beitragen. Hier ist von besonderer Bedeutung, inwieweit sich Altersbilder
auf die Teilhabemöglichkeiten alter und sehr alter Menschen auswirken, wobei
sich verschiedene Länder und Kulturen zum Teil deutlich in der Wahrnehmung
und Interpretation von Alter wie auch im Umgang mit älteren Menschen unter-
scheiden.

Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die strikte Trennung zwischen
Kulturen immer weniger der Realität einer globalisierten Welt entspricht. Neben
den Altersbildern sind auch die gegebenen sozioökonomischen und infrastruk-
turellen Rahmenbedingungen für die Teilhabe im hohen und sehr hohen Alter
von Bedeutung. Da wir Altern als globale Herausforderung betrachten, wurde die
zweite Heidelberger Hundertjährigen-Studie als Teil eines internationalen Netz-
werks konzipiert. Ziel ist hierbei, nicht nur zu untersuchen, welche Eigenschaften
die Hundertjährigen selbst kennzeichnen, sondern auch herauszufinden, welche
kulturellen, sozialen und politischen Aspekte ein gutes Altern ermöglichen. So
unterscheiden sich beispielsweise die Bilder vom hohen und sehr hohen Alter zwi-
schen Kulturkreisen.7

Auch die soziale Einbindung und Unterstützung ist oft ab-
hängig von in spezifischen Ländern üblichen familiären und freundschaftlichen
Strukturen. In verschiedenen Ländern finden wir zudem große Unterschiede mit
Blick auf die Leistungsfähigkeit und Qualität medizinisch-pflegerischer und sozi-
aler Versorgungssysteme; zugleich stellt sich deren Zugänglichkeit (auch für alte
und sehr alte Menschen) in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich dar.
In diesem Kontext sind auch die verschiedenen sozialen Sicherungssysteme zu
berücksichtigen, die über Selbstständigkeit, Teilhabe und Lebensqualität im ho-
hen und sehr hohen Alter mitentscheiden. Der Vergleich zwischen Datensätzen
aus verschiedenen Ländern sollte aus diesem Grunde auch vor dem Hintergrund
sozialstruktureller, sozioökonomischer und kultureller Besonderheiten erfolgen.
Gegenwärtig können wir eine US-amerikanische Studie heranziehen – nämlich
die Fordham Centenarian Study – 8 die in zentralen Aspekten (z. B. Messinstru-
mente) eine Parallelstudie der Heidelberger Hundertjährigen-Studie darstellt.

Zudem sind wir an der ersten portugiesischen Hundertjährigen-Studie beteiligt,
der Oporto Centenarian Study (PT100), die ebenfalls als Parallelstudie konzipiert
wurde und derzeit unter der Leitung von Prof. Oscar Ribeiro und Prof. Constança
Paul durchgeführt wird. Deren Daten werden allerdings erst nach Erscheinen die-
ser Veröffentlichung vorliegen und können daher nicht berücksichtigt werden.
Die übergeordneten Ziele unserer Hundertjährigen-Studien können wie folgt zu-
sammengefasst werden: Wir wollen dazu beitragen, differenzierte Einblicke in
das Leben von Hundertjährigen zu erhalten und neben Herausforderungen auch
Stärken und Potentiale zu identifizieren. Durch die Berücksichtigung sowohl
positiver als auch negativer Aspekte soll das in Deutschland vorherrschende ne-
gative Bild vom sehr hohen Alter durch eine realistische und ausgewogene Dar-
stellung verbessert werden. Ein weiteres zentrales Anliegen ist es, auch im hohen
Alter bestehende positive Entwicklungschancen aufzuzeigen und damit Mut auf
das eigene Alter zu machen. Schließlich wollen wir durch unsere Arbeit Wege
aufzeigen, die es ermöglichen, ein gutes Leben bis zum und jenseits des 100.
Geburtstags zu führen. Die folgenden Kapitel beschreiben die Methodik und die
zentralen Befunde der zweiten Heidelberger Hundertjährigen-Studie sowie auf
deren Basis entwickelte Handlungsempfehlungen.

... Weiterlesen der Studie von Daniela S. Jopp, Rott C, Boerner K et al.:
Zweite Heidelberger Hundertjährigen-Studie, Herausforderungen und Stärken des Lebens mit 100 Jahren. Robert Bosch Stiftung unter: : Link