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Altersgrenze für Ärzte: Ärztezeitung liegt falsch

09.11.2007 - von Dr. J. Deiwick

In einem Brief an Herrn Gerlof, von der Ärztezeitung, erhebt Dr. med. Deiwick den Vorwurf, dass diese den Weg korrekter Berichterstattung, die Vorbedingung des Art. 5 GG, verlassen habe.

So stand auf S. 1 zu lesen:
"Zwangsruhestand für Vertragsärzte steht fest." Und darunter: "Urteil des Europäischen Gerichtshofs / Mit 68 Jahren müssen Vertragsärzte aus ihren Praxen ausscheiden."

Auf S. 2 ist diese kapitale Fehlinformation dann unterstrichen worden mit der Verkündung: "Am Aus mit 68 Jahren ist jetzt für Vertragsärzte definitiv nicht mehr zu rütteln."

Diese Fehlinformation ist unverantwortlich und kann das Tun und Lassen so manchen Arztes bei Verlust der Zulassung gem. § 95 VII 3 SGB V negativ, d.h. zu seinem Schaden, beeinflusen, indem er z.B. eine möglicherweise erfolgreiche Klage gegen diese willkürliche Norm unterlässt.

Diese Falschmeldung bedarf deshalb der Korrektur.

Die Ärzte-Zeitung zieht zur Begründung ihrer Behauptung offensichtlich das Bundesverfassungsgericht heran, den Nichtannahmebeschluss der 3. Kammer des Ersten Senats - BvR 1941/07 - vom 7. August 2007 und das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (Große Kammer) in der Rechtsache C-411/05, Palacios, vom 16. Oktober 2007.

Nach der bisherigen Rechtsprechung der deutschen Sozialgerichte einschließlich des Bundessozialgereichts und dauch des Bundesverfassungsgerichts ist § 95 Abs. 7 Satz 3 SGB V mit der für Vertragsärzte obligatorischen 68-Jahresgrenze sowohl verfasungskonform mit bundesdeutschem Verfassungrecht als auch kompatibel mit supranationalem Europarecht.

Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgereichts hat nun aber, möglicherweise als Auswirkung des `Mangold´-Urteils in der Rechtsache C-144/05 und des `Navas´-Urteils in C-13/05, im Rahmen des Nichtannahmebeschlusses - 1BvR 1941/07 - vom 7. Ausugust 2007 zwar festgestellt, auf S. 5 unter aa):

"Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass die Altersgrenze für die Beendigung der Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung in § 95 Abs. 7 Satz 3 SGB V verfassungsgeäß ist. ... Hieran ist festzuhalten."
- Roma locuta, causa finita -

Es heißt dann aber weiter auf S. 9 ab Z 12:
"Zur Entscheidung der Frage, ob eine innerstaatliche Norm des einfachen Rechts, also hier § 95 Abs. 7 Satz 3 SGB V, mit einer vorrangigen Bestimmung des europäischen Gemeinschaftsrechts unvereinbar ist und deshalb wegen des Anwendungsvorrangs des europäischen Rechts verdrängt wird, ist das Bundesverfassungsgericht nicht zuständig."
Das ist neu.

Und ab S. 10 Z 11-13:
"Es kann dahinstehen, wie die Fage" (der Zulassungsentziehung mit 68 Jahren gemäß § 95 Abs. 7 Satz 3 SGB V) "aus SIcht des europäischen Rechts zu beantworten ist; eine Verletzung von Verfassungsrecht scheidet jedenfalls aus."

Das ist schon recht bemerkenswert, ist doch bisher stets behauptet worden, § 95 Abs. 7 Satz 3 SGB V sei mit europäischem Gemeinschaftsrecht kompatibel, natürlich dann auch mit Artikel 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 EG. Als Beispiel sei angeführt der Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Ersten Senats - 1 BvR 1435/01 - vom 4. Oktober 2001, in dem die 2. Kammer auf Seite 2 R. Nr. 4 in Satz 3 verkündet:
"Es gibt keinen Anhalt dafür, dass die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ... europarechtliche Maßstäbe oder die Rechtsprechung des Europäischen Gerichshofes in einer entscheidungserheblichen Frage unbeachtet gelassen hätte."

Das besagen bisher auch die Sozialgerichte als die hierfür nach dem Bundesverfassungsgericht zuständigen Fachgerichte. Jede gegenteilige Auffassung wird von dem Bundessozialgericht strikt zurückgewiesen und die Anregung, ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV einzuleiten, stets abgelehnt.

Es ist aber der EuGH zuständig für die Entscheidung, ob eine innerstaatliche Norm, hier der § 95 Abs. 7 Satz 3 SGB V, übergeordnetem Gemeinschaftsrecht, wie dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz, einem - wohl auch von der EMRK - zu schützenden Menschenrecht, in der speziellen Form des Verbotes der Altersdiskriminerung gemäß der Richtlinie 2000/787 EG, entgegensteht oder mit ihm vereinbar ist.

Da in dieser Frage der Weg zum EuGH dem einzelnen Kläger verlegt ist, wenn nicht vorgelegt wird - und das tun die Sozialgerichte nicht, auch nicht bei mehrfacher Aufforderung (!) (vielleicht aus politischen Gründen), bleibt dem Einzelnen, bei dem ja auch Konventionsrechte verletzt sind, wie hier Art. 6 I, 8 I, 14,
1 1.ZP, 1 12.ZP, dann Art. II/15,16,17 GrCH und, wie in der Grundrechtecharta ausdrücklich betont wird, Art. II/21 GrCh, nur die Möglichkeit, den EGMR als Hüter der Menschenrechte, wie sie in den Konventionsrechten zum Ausdruck kommen und dem Einzelnen zugestanden werden, anzurufen und um Schutz zu bitten.
Das ist mit der Beschwerde Nr. 7369/04 geschehen, wobei die Entscheidung des EGMR noch aussteht.

Was das innerstaatliche Recht anbetrifft, so ist für den einfachen Bürger diese doch allen Erkennntnissen der Gerontologie widersprechede Behauptung von der obligatorischen Leistungsschwäche der über 68-jährigen Vertragsärzte rein willkürlich und nicht geeignet, Grundrechte beiseite zu schieben. Sie ist im übrigen z.B. mit dem Hebammenurteil und seiner strikten Ablehnung einer obligatorischen Altersgrenze für Ärzte nicht zu vereinbaren.

Es darf daran erinnert werden:

1)
dass seinerzeit die Zulassung zur kassenärztlichen Versorgung der Bevölkerung (RVO- und Ersatzkassen) unanfechtbar und unbefristet erteilt worden ist, womit natürlich bei Zulassungsentziehungen gemäß § 95 Abs. 7 Satz 3 SGB V die bisher grundlos sehr stiefmütterlich behandelte Frage des Vertrauenschutzes, immerhin eines europäischen Grundrechts, berührt wird,

2)
dass im Hebammenurteil 1 BvR 71/57 vom 16.6.1959 der ganze Erste Senat des BVerfG in voller Stärke mit 8 Personen (und nicht lediglich eine Kammer mit nur 3 Personen) und damit ´gewichtiger`entschieden hat, dass es nach dem bisherigen Berufsbild des Arztes besser ist, das Urteil über eine eventuelle Abnahme der Leistungsfähigkeit und die daraus zu ziehenden Folgerungen dem einzelnen Arzt zu überlassen und dass insbesondere kein verfassungsrechtliches Gebot besteht, die Altersgrenze des Hebammengesetzes auf die Ärzte zu übertragen.

3)
dass nach dem Kassenartzturteil 1 BvR 216/51 vom 23.3.1960 das (damals) geltende Kassenartztrecht die Ausübung des Arztberufes für die nicht zugelassenen Ärzte in einem Maße beshränkt, dass die Regelung der Beschränkung der Berufswahl nahekommt (was heute für den § 95 Abs. 7 Satz 3 SGB V ebenso gilt) und nach den hierfür aufgestellten Maßstäben (BVerfG 7,377,407) mit Art. 12 I GG nicht vereinbar ist - . "Auch muss" nach der Entscheidung des BVerfG im Hebammenurteil "jeder zulassungsfähige Arzt zu den Kassen zugelassen werden". (S. 49).

4)
dass nach dem Dentistenurteil in BVerfG 25, 236, 251 Kassen- und Privatpatienten gleichen Anspruch auf staatlichen Schutz haben. Es ist nach diesem Urteil nicht einzusehen, dass Kassenpatienten schutzbedürftiger sind als Privatpatienten und dehalb von, möglicherweise altersbedingt, gefahrenträchtigen Ärzten nicht behandelt werden dürfen, während das den Privatpatienten durchaus zumutbar ist. Eine wahrhaft unverständliche SItuation.

5)
Weiterhin hat der Deutsche Bundestag in einer einstimmigen Entschließung am 12. Juli 1986 festgestellt, dass
"... restriktive Regelungen der Bedarfszulassung mit dem in Artikel 12 I GG verbrieften Grundrechten der freien Wahl von Beruf und Arbeitsstätte unvereinbar" sind.

6)
Und der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags, des Gremiums mit dem höchsten Sachverstand in diesen Fragen, hat den Gesetzesentwurf zum GSG vom 5.11.1992 (BT-Drs. 12/3608) einstimmig abgelehnt wegen verfassungsrechtlicher Bedenken, insbesondere hinsichtlich der Art. 12 I GG und Art. 14 I GG. Bedenklich ist hier schon die ebenso einstimmige Zustimmung des Gesundheitsausschusses zum GSG.

7)
Auch ist die aus Altersgründen durchgeführte entschädigungslose, obligatorische de facto Enteignung berufsfähiger und berufswilliger Vertragsärzte, die alle als kompetent, fähig und verfügbar (Navas Urteil EuGH Rs. C -13/05 vom 11. Juli 2006 Rn. 49 und 51 wie auch RL 2000/78/EH, Erwägungsgrund Nr. 17) für die Ausübung ihres Berufes anzusehen sind, mit dem Allgemeinen Gleichheitsgrundsatz und dem Verbot der Altersdiskriminierung schon immer nicht zu vereinbaren gewesen sind, was erst kürzlich vom Mangold-Urteil in der Rs. C-144/04 vom 22.11.2005 bestätigt worden ist.

8)Hinzu kommt: Artikel 12 I gilt mit seiner freiheitssichernden Bedeutung für alle Berufe. Deshalb endet der gesetzgeberische Gestaltungspielraum dort, wo eine ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte - hier der Zulassung zur vertragsärztlichen Tätigkeit aus Altersgründen - mangels einleuchtender Gründe als willkürlich bezeichnet werden muss.

Es ist festzuhalten:
1) Die behauptete Leistungsschwäche ältere Ärzte (68 Jahre und darüber) liegt nachweislich nicht vor (Vgl. `Trauer muss Justitia tragen` S. 6 bis 12). Sie ist bisher auch weder von den Krankenkassen noch der Politik nachgewiesen worden. Auch haben seitens des Gesetzgebers niemals ernsthafte Zweifel an der Leistungsfähigkeit älterer Ärzte bestanden, wie er, der Gesetzgeber, sich mehrfach schriftlich hat vernehmen lassen.

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Nach alledem wird das Bundessozialgericht dem EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren die Frage vozulegen haben, ob § 95 VII 3 SGB V der Richtlinie 2000/78/EG entgegensteht oder nicht. Es ist der EuGH, der laut Bundesverfassungsgericht hierfür zuständig ist.
Die Ärzte-Zeitung jedenfalls ist es nicht.

Link: http://www.altersdiskriminierung.de/themen/artikel.php?id=2084
Quelle: Fax an das Büro gegen Altersdiskriminierung, Ärztezeitung 22.10.07