Ausgrenzung durch nicht widerlegbare Vermutung
30.07.2009 - von Hanne Schweitzer
Die aktive Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben wird hierzulande durch Altersgrenzen erschwert oder verhindert. Zu diesem Ergebnis kommt - für das Büro gegen Altersdiskriminierung wenig überraschend - nun auch das Gutachten "Altersgrenzen und akive Teilhabe". Es wurde im Auftrag des Bundesfamilienministeriums von Prof. Dr. Igl erstellt.
In vielen Bereichen entsprechen Altersgrenzen nicht mehr der
Realität, so der Gutachter. Als kritischsten Bereich, in dem Altersgrenzen wirken, nennt Igl das Ausscheiden aus einer Beschäftigung, das Zwangsrentenalter. Arbeitnehmer und/oder Arbeitgeber seien durch das Rentenrecht nicht verpflichtet, bei Erreichen der Regelaltersgrenze ihre Beschäftigung zu beenden. Das stünde lediglich im Arbeitsvertrag.
Als wichtigste Bereiche, in denen Altersgrenzen vorkommen, beschreibt Igl:
aktive Teilhabe in Politik und GesellschaftErwerbstätigkeitBerufe und Tätigkeiten mit GemeinwohlbezugBerufe und Tätigkeiten mit hohem BelastungspotenzialSozialleistungen / Zugang zur medizinischen Versorgung Marktgeschehen: o Dienstleistungen (Risikovorsorge durch Privatversicherungsschutz)
o Kapitalmarkt (
Kredite)
o Sonstiges (Mietwagen; Autorenverträge).
Eine Annahme darüber, wie der ältere Mensch zu sein hat, sieht Igl als Ursache für Altersgrenzen jenseits der 50, die von der gesellschaftlichen Teilhabe ausschließen. "Solche Altersgrenzen wirken in hohem Maße generalisierend und pauschalierend. Sie legen unwiderlegbar fest,dass Personen ab einem bestimmten Alter ohne Rücksicht auf ihre individuelle Leistungsfähigkeit Anforderungen nicht mehr genügen, die ihnen in der jeweiligen Tätigkeit abstrakt abverlangt werden. Die unwiderlegbare Annahme ist, dass der ältere Mensch bestimmte Tätigkeiten, Ämter etc. nicht mehr vollwertig wahrnehmen kann. Deshalb muss der ältere Mensch durch allgemeine Altersgrenzen von solchen Tätigkeiten, Ämtern etc. ferngehalten werden. Der Beweis des Gegenteils bleibt dem älteren Menschen auf diese Weise versagt.
Eine solche nicht widerlegbare Vermutungsregel ist die härteste Form der Ausgrenzung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe." Eine solche Vermutungsregel könne nur dann hingenommen werden, wenn die Annahme, die ihr zugrunde liegt, für die ganz überwiegende Zahl der Fälle, auf die sie angewendet werden soll, zutrifft. Diese Annahme lautet: Der ältere Mensch kann ab einem bestimmten Alter bestimmte Tätigkeiten, Ämter etc. aus Gründen körperlicher und/oder geistiger Einschränkungen nicht mehr ausüben. Diese Annahme ist aber unter den gegebenen heutigen Verhältnissen, d.h. insbesondere angesichts des Gesundheitszustandes der älteren
Menschen, nicht mehr als generelle Annahme haltbar."
Der Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Frauen, Senioren und Jugend sah vor, im Gutachten solche Altersgrenzen nicht einzubeziehen, die unterhalb des 50. Lebensjahres existieren (z.B. im universitären Bereich). Auch faktische Altersdiskriminierungen jenseits der Rechtsordnung werden im Gutachten nicht behandelt. So sei, sagt Igl, z.B. "die Problematik einer möglichen ungleichen Verteilung von Ressourcen im gesundheitlich-pflegerischen Bereich kein Thema von Altersgrenzen, sondern des faktischen Verhaltens der betreffenden steuernden Akteure".
Der Jurist kommt zu dem Schluss: "Solange zwingende und damit für den Gesetzgeber handlungsleitende menschen- und verfassungsrechtliche Maßstäbe für ein umfassendes allgemeines Verbot der Altersdiskriminierung
fehlen, bleibt es Aufgabe der gesetzgebenden Körperschaften, entsprechend tätig zu werden.
Das bedeutet gleichzeitig, dass ein sensibler Umgang mit der Aufhebung von Altersgrenzen, die als Ausschlusskriterium für gesellschaftliche Teilhabe wirken können, vom mehrheitsfähigen politischen Willen getragen werden muss."
Bei der nach den Bundestagswahlen anstehenden Diskussion über die Umsetzung der neuen Antidiskriminierungsrichtlinien werden wir sehen, wie es um diesen Willen bestellt ist.
* Dr. Gerhard Igl ist Geschäftsführender Vorstand des Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Erscheinungsdatum des 181seitigen, bisher vom Bundesfamilienministerium nicht veröffentlichten, auch für Nichtjuristen gut lesbaren Gutachtens: Juni 2009 Noch im Monat September war das Gutachten beim Familieministerium nur auf Anfrage zu erhalten, auf der Webseite ist es (Stand 7.10.09) nicht verzeichnet.Link:
http://www.altersdiskriminierung.de/themen/artikel.php?id=2545Quelle:
Gutachten: Altersgrenzen und gesellschaftliche Teilhabe