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Mir fielen die Tagebücher meines Vaters wieder in die Hände ...

Familienarchiv Jeromin

12.04.2019 - von Hartmut Jeromin

Die Enkel müssen noch warten, denn mir fielen die Tagebücher meines Vaters wieder in die Hände. Ich hatte sie beim Ausräumen seiner Wohnung an mich genommen, vor 40 Jahren. Äußerlich gekennzeichnet als „Taschenkalender für Genossenschaftsbauern“, Jahreszahlen: 1970/ 71. Im Vorwort ein Gedenken an 25 Jahre SED, das Jahr mit dem Pferdekopf. Dann Tabellen für LPG-Kennziffern, danach gesetzliche Feier- und Gedenktage, 86 an der Zahl, aber nur 10 wirkliche, d.h. traditionelle. Ich kann mich an keine Feierlichkeit erinnern im Zusammenhang mit der Geburt Walter Ulbrichts. Steht aber da drin. Und handschriftlich von Franz J.: „Der schönste Tag in der LPG seit 3 Jahren, ruhig u. besonnen“. Nachdem er am 26.10.1971 7,5 Std Dung geladen hatte und noch 1 Stunde mit Helmut Kartoffeln in die Miete geforkt hatte, schrieb er das quer über einen Kalendertag. Freudenausbrüche waren rar, aber kommen doch noch vor.

Wer war er, wo kam er her? Ein Junge aus dem bäuerlichen Masuren, 1907 geboren, nicht viel gab es da zu erzählen, fast nichts kam davon bis in meine Erinnerung, nun kann ich ihn ja nicht mehr fragen. Eine Episode aus seiner Schulzeit: Der neue deutsche Lehrer prügelte das ABC in die Schüler hinein, noch an seiner gestochenen Schrift zu erkennen, die davon erzeugt wurde.

Große Familie, viele Kinder sagen einige Fotos. Der Name von den Hugenotten: JEROMIN, von Hironymus her, also Mann mit heiligem Namen, worauf Ernst Wiechert in dem Roman „Die Jerominkinder“ sich ja bezieht. Warum dann eine Ausbildung zum evangelischen Diakon in Karlshof liegt im Ungewissen… wenig zeugte später davon.

Dann gibt es ein Bild mit Männern und Frauen, er mit so einem offenen Hemd. Eva ist da schon zu sehen, sie heiraten 1937. Eva stammte von Friedrich Gielow ab und der Amalie, geb. Bruhns, und deren Mutter hieß Salvat, wieder die Hugenotten. Da gibt es ein ältestes Foto mit einem Platin-Familienschmuck an einer streng blickenden Frau.
Dann muß alles schnell gegangen sein: Heirat, arischer Nachweis, verschiedene Wohnorte in Ostpreussen, 3 Kinder: Gudrun, Hartmut, Ingrid. Pflichtjahrmädel…RAD.

Das war die materielle Grundlage fürderhin bis 1945. Einige Soldbücher, Sparkassenbücher, Stammbuch, Urkunde über Raten für einen VW, in einer blauen Blechschachtel bis nach Mecklenburg gebracht, wurden von den Kindern neugierig besehen… er war auch in der NSDAP. Hat Freddy, sein Enkel, dann herausgefunden.

Kaum Erzählungen über den Krieg (er kam radelnd mit seinen „Männern“ bis hinter Rostow, nahe bis an den Kaukasus). Ja, auch mit dem Spaten konnte er exerzieren, von Nürnberg schwärmen, eine kerzengerade Haltung demonstrieren, mehr konnte er nicht. Doch, halt: er konnte musizieren, mehrere Instrumente. Aber wesentlich war er Handarbeiter, wie gemacht für die neue Zeit, als Maschinen rar waren. Da konnte er mehr als andere! Damit war seine dann 10- köpfige Familie zu ernähren. Am 4. August 1945 war er mit Entlassungspapieren zu seiner Frau nach Güstrow gekommen, zeugte noch fünf weitere Kinder und wechselte alle paar Jahre die Wohnung, gar den Wohnort. Bis er 1968 in dieser LPG landete. Und da sogar ein Haus sein eigen nannte, ein rotes Eisenbahnerhaus an der Dorfstraße. Sehen wir ihm dort zu: Am 02.01.1971, Sonnabend arbeitete er 4 Stunden, er fuhr mit dem Pferdegespann Silage und Stroh zu den Viehställen. Am 3.1. schlachtete er eine Gans um damit am 5.1.seinen Geburtstag zu feiern. Kein Arbeitsfrei. Dazu erscheint auch seine jüngste Tochter Ike mit Freundin. Dann täglich 8 Stunden Arbeit, genau aufgelistet, das brauchte er, um die Stunden in der LPG abrechnen zu können.

Er ist nun am 5.1.1971 64 Jahre alt… und arbeitet täglich, altert dabei, geht die Rente für seine Frau beantragen, hat nur kleine Weh-Wehchen, ist nur einmal mit dem Schultergürtel länger krank. Kein Wunder bei der Arbeit. Alles per Hand und das nicht zu knapp. Je nach Jahreszeit. Einmal gehen ihm die Pferde durch. Die Pferdepflege gibt er Mitte April ab, darüber scheint er froh zu sein, auch wenn sie ab 09.04. auf die Koppel können.

Angestrichen ist der 23.01.1971: Jahresendabrechnung! Bei Januar 72 dann ein kleiner Papierstreifen: eine Lohnabrechnung! Im März 71 hat er 35 AE geleistet, gesamt bis dahin schon 93 AE / Vorschuß des Monats 385,-/ fürs erste Jahresdrittel also 1023,- / SV Beitrag 38,50, / Auszahlung 346,50. Nun gut, er ging ja in die LPG-Küche essen und brachte der Eva auch was aus dieser Küche. Steht nicht in der Abrechnung, aber an Essenmarken kann ich mich erinnern.

Am 8.2. vermerkt er die Geburt zweier Lämmer in seinem Stall, ein schwarzes, ein scheckiges. Im LPG-Stall sind täglich Pferde zu pflegen.

Genauestens werden Besuche der Kinder vermerkt, Enkelgeburten, Körpergrößen der Enkel (107, 88 cm), Wohnanschriften, wer wen besucht. Aber auch mehrere Fahrten in die Kreisstadt zur SV um den Rentenantrag der Eva (geb. 1911) voranzutreiben. Es gibt eine Buslinie dahin. Dienstag, den 20.04. nimmt er frei zum Einkaufen und „verpulvert“ dabei 120,- M und bekommt dafür Schimpfe von seiner Frau, sonst viel Sonnenschein.

24.04: 4 Nester mit Gänseeiern gesetzt. 22.04./ 28.04 ebenfalls Gänse gesetzt und 21.05. – 24.05 Gänseschlupf, alte Gans hat 11 Gänschen. Manche gehen wieder ein, aber er hat Absatz für die Nachzucht im ganzen Dorf.

Im Juli viel Arbeit mit Heu, Arbeit ohne Ende, 45 Stunden in der Woche. Aber dann für 26 Tage frei wegen Krankheit, keine Eintragungen. Um danach wieder unentwegt zu arbeiten, zunächst mit den Kartoffeln.

Am 6.10. schlachtet er eine Ente (wie Marzipan, 300 Gr. Entenfett) um damit die Kinder zu beköstigen, die am 7.10., dem Tag der Republik, bei seiner eigenen Kartoffelernte helfen auf 2 Reihen, je 300 M lang, insgesamt 25 Ztr. Davon 6 Ztr. mit der Hand ausgelesen und bei der LPG gegen 100 Kg Mais getauscht.

Nach der Ente werden grüne Heringe gegessen. Der „Große“ (ich) hat Ferien, kommt zu Besuch, also am Sonntag gemeinsamer Ausflug nach Doberan (mit Kirchgang) und Heiligendamm. Eintrag mit sehr großen Buchstaben!

Am 30.10. gibt es Ärger: Disput wegen einem Fuder zu wenig und zu früh aufhören am Vortag, dabei hatte er da noch ein Sträußchen Kornblumen gepflückt. Am 11.11. ist er beim Zahnarzt, kein Eingriff nötig, obwohl 3 Zähne locker sind, Hurra! Sonntag, 14.11. vermerkt er 11 Mio Wahlstimmen!? Und immer nochmal den Rentenantrag für seine Eva, das zieht sich.
Am 4.12 begehen sie ihren 34. Hochzeitstag, 2 Kinder mit Enkel kommen vorbei. Aber am Sonntag darauf badet er 10 Gänse um sie am 6.12. vertragstreu abzuliefern: Gesamtgewicht 64 Kg, 3 Kg Abzug; 8,20 M je KG, also 500,20 M Erlös! Da kann Weihnachten werden!

Ich brachte ihm im Oktober eine Flasche „Klosterbruder“, den kauft er nun öfter für 3,80M, dazu eine Flasche „Steife Brise“ für den Grog zu 18,00M. Und Weihnachten macht er dann damit 3 Tage frei, die Kinder kommen… dann arbeitet er aber durch bis ins neue Jahr. Im Kalender noch viele leere Vordrucke für die „Plankontrolle…“. Er hat noch 9 Jahre Lebenszeit! Einige Reisen in Ferienheime folgen, Westreisen sind als Rentner nun möglich, da vertreten wir ihn in seiner Hauswirtschaft, aber meistens „nur“ Arbeit, 8 Std täglich. Auch die Pferdepflege bekommt er wieder drauf. Und im Winterhalbjahr heizt er die Öfen in der Schule, was frühes Aufstehen erfordert und Zuverlässigkeit in der Ausführung. Er liebt alle Enkel! Da steht er auch in der Mittagspause im Konsum an wegen Eis für die Enkel. Dann muss er aber wieder raus, in die Spur. Und das geht so bis in sein 75. Lebensjahr, dann ist es aus mit der Schinderei, er folgte seiner Eva, die schon vor Weihnachten die Augen schloss, zu Ostern. Nur die Jugendweihe unserer Ältesten in Dresden konnte er noch erleben.

Ich überlege, wenn alle abgetretenen Politiker nach ihrer Karriere noch so 20/ 30 Jahre durch Arbeit ihre Fehlleistungen ausbügeln müssten, stände es besser um unser Gemeinwesen? Wäre arbeitslos auf der faulen Haut liegen, eine sozialere Variante gewesen? Durch die NS-Zeit war ihm ein Stück Leben abhanden gekommen. Und auch er musste büßen für die 12 Jahre. Es könnten noch Akten in den Archiven über die Entnazifizierung liegen, sein Name taucht bestimmt darin auf. Gegenüber Parteien blieb er misstrauisch, politisch äußerte er sich kaum. Eine Weile probierte er es mit der Kirche, das war sehr einseitig und führte zu nichts. Hierarchien waren ihm suspekt. Und so wurden diese letzten Jahre in der LPG seine besten Jahre mit Frau, Kindern, Enkeln, Haus, Hof und Arbeit. Was will man mehr? Und beim Ausräumen der Wohnung fanden die Mädels im Schrank, überall zwischen der Wäsche versteckt, insgesamt 10 000,-Mark Geld, es hat sich also auch noch gelohnt, denn auf Einkommen im Alter wurden in der DDR keine Steuern mehr erhoben. Nochmals, was will man mehr, fragt sein ältester Sohn Hartmut Jeromin im Jahre 2019!



So waren unsere Eltern, mein Vater hat einen ähnlichen Lebenslauf gehabt:
1901 in Görlitz geboren, Maler gelernt, 1926 sich selbständig gemacht, 1932 Konkurs, Arbeitsdienst bis 1945 – bei Abzug in den Maitagen aus Prag Lungendurchschuss, aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft noch 1945 getürmt, am nächsten Tag im Ort als Maler angefangen, nichts verdient, einige Wochen in Dresden bis die Aufenthaltsgenehmigung aufgehoben wurde, dann bei meinem Großvater als Tischlergeselle mitgemischt – ich bekam 1948 eine Tbc, er ging zur Wismut unter nicht vorstellbaren Bedingungen, konnte aber etwas mehr zur Versorgung beitragen. Ich kam wieder auf die Beine. Vater hat sich dann im Schacht etabliert und nach einer späten Ausbildung zum Elektriker die elektrischen Anlagen in Ladestationen für die E-Loks, zeitweise für die Fördermaschine usw. bis 1963 betreut.

Zu Hause angekommen, hat er noch die Hochspannungsschaltgenehmigung abgelegt und in einer Böttcherei als Betriebselektriker und Kuli für alles gemacht, Holz stapeln, Hof räumen usw.

Als er 80 wurde, haben wir Kinder gesagt, hör doch auf. Naja, schweren Herzens hat er dann auch aufgehört. Aber glücklich war er damit nicht so recht und nun ging es ihm auch schlechter. So hat er die alten Kontakt zu seinen Kumpels bei der Wismut wieder aufgebaut und intensiv gepflegt. Mit 91 hat er dann die Augen geschlossen.

Sie haben aber trotz allem ein erfülltes Leben gehabt, meine ich.

Nur warten bis Schluss ist, das geht doch nicht.
Bei mir auch nicht.

Es ist toll, wenn man mit dieser Achtung an seine Vorfahren denken kann, danke nochmals.

Siegfried Klose

Link: Bevor ich über die Enkel schreiben kann ...
Quelle: Hartmut Jeromin, Siegfried Klose