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27.05.2020 - von Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen
Aufruf der BAGSO an die Bundesländer – der Bundesregierung zur Kenntnis.
Nachdem Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen fast überall in Deutschland etwa zwei Monate lang nicht von ihren Angehörigen besucht werden durften, versprachen die Bundeskanzlerin und die Regierungschefinnen und -chefs der Länder am 6. Mai 2020 Regelungen, die den wiederkehrenden Besuch durch eine definierte Person ermöglicht, sofern es aktuell kein Infektionsgeschehen in der Einrichtung gibt.
Bei der Pressekonferenz am gleichen Tag Link 2§ 6 Absatz 2 Satz 2 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (Corona-Verordnung) vom 9. Mai 2020, in der ab 18. Mai 2020 gültigen Fassung, betonte die Bundeskanzlerin, wie wichtig ihr dieser regelmäßige Zugang einer festen Kontaktperson sei.
Die 16 Bundesländer haben den Beschluss zwischenzeitlich umgesetzt, allerdings in höchst unterschiedlicher Weise. Eine vom Pflegeschutzbund BIVA durchgeführte Online-Umfrage sowie Rückmeldungen von Angehörigen an die BAGSO verdeutlichen, dass die neuen Länderverordnungen nicht ausreichen, um die Situation für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen entscheidend zu verbessern. So stellen es mehrere Bundesländer weiterhin in das Ermessen der Einrichtungen, ob sie überhaupt Besuche zulassen. „Die Leitung der Einrichtung kann den Zutritt zu Besuchszwecken erlauben, wenn geeignete Maßnahmen zum Schutz vor Infektionen getroffen werden können“ heißt es etwa in der „Corona-Verordnung“ des Landes Baden-Württemberg.
Auch Art und Weise, Dauer und Häufigkeit der Besuche führen bei vielen Betroffenen, die sich auf die angekündigten Lockerungen gefreut hatten, zu Ernüchterung. Obwohl in den Verordnungen einiger weniger Länder eine tägliche Besuchsmöglichkeit vorgesehen ist, scheint dies in der Praxis die absolute Ausnahme zu sein. Vielfach sind Besuche, wenn überhaupt, nur einmal pro Woche möglich, und sie sind zudem auf eine Dauer von 30 bis 60 Minuten begrenzt.
In vielen Einrichtungen bleiben die Angehörigen (meistens sind das die Ehepartner, Töchter oder Söhne) durch eine Plexiglasscheibe voneinander getrennt. Für die meisten Heimbewohnerinnen und Heimbewohner und ebenso für ihre Angehörigen ist diese Form des Kontakts nicht angemessen, für viele ist sie sogar verstörend.
Vor allem für die große Zahl von Menschen mit Demenz sind Nähe und Berührung elementare Bedürfnisse. Für viele Bewohnerinnen und Bewohner übernehmen die Angehörigen zudem wichtige Aufgaben, etwa indem sie sich um eine ausreichende Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme kümmern. Da dies in kaum einer Einrichtung durch einen Zuwachs von Personal kompensiert werden konnte, dürfte es in den vergangenen Wochen und Monaten zu einer Verschlechterung des Allgemeinbefindens vieler Bewohnerinnen und Bewohner gekommen sein, teilweise mit dramatischen Auswirkungen.3
Auch die Deutsche Alzheimer Gesellschaft stellt fest: „Folge des [...] absoluten Kontaktverbots zu den Angehörigen ist für Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz oft großes Leid, weil sie die Maßnahmen nicht verstehen können, oder gesteigerte Unruhe und Aggressivität.“ (Link
Erste Ergebnisse der aktuellen Online-Umfrage des BIVA Pflegeschutzbundes bestätigen, dass Angehörige, die Zutritt in die Einrichtungen erhalten haben, nicht selten einen schlechten Allgemeinzustand der Bewohner feststellen. (Link
Ausgangsbeschränkungen für Menschen, die in Heimen leben, aber hinreichend mobil sind, sind der mit Abstand schwerste Grundrechtseingriff seit Beginn der Corona-Epidemie in unserem Land. Einige Bundesländer haben nun ausdrücklich klargestellt, dass Bewohnerinnen und Bewohner die Einrichtungen verlassen dürfen. Zum Schutz der Mitbewohnerinnen und Mitbewohner und des Personals dürfen die Einrichtungen Auflagen anordnen, etwa das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in allen Gemeinschaftsräumen für die Dauer von 14 Tagen nach Verlassen der Einrichtung.
Die meisten Bundesländer haben keine Regelung zu dieser Frage getroffen. Manche Einrichtungsleitungen sehen sich – auch aus Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen im Falle eines Infektionsgeschehens – legitimiert, den Ausgang von Bewohnerinnen und Bewohnern zu behindern, etwa indem sie ihnen (bzw. den Angehörigen) mit einer mehrwöchigen Quarantäne auf dem Zimmer drohen oder indem sie Menschen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, nicht zum Ausgang begleiten. Die Entscheidung über solche Freiheitseinschränkungen kann jedoch nicht von den Einrichtungen getroffen werden.
Wir übersehen nicht, dass seit Beginn der Corona-Krise in vielen Einrichtungen mit großem Engagement daran gearbeitet wurde, die fehlenden sozialen Kontakte im Rahmen des Möglichen zu kompensieren. Mit Blick auf die weitreichende Öffnung vieler anderer, weniger grundrechtsrelevanter Lebensbereiche verlangen die Betroffenen jedoch zu Recht, dass Besuche in Pflegeheimen nicht länger unverhältnismäßig eingeschränkt werden. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass ein Impfstoff gegen COVID-19 in absehbarer Zeit nicht zur Verfügung stehen wird.
Am wichtigsten ist aus unserer Sicht:
1. Klare Vorgaben der Politik
Die Entscheidung, ob Bewohnerinnen und Bewohner von ihren Angehörigen besucht werden können, darf in keinem Bundesland länger im Ermessen der Einrichtungen bzw. ihrer Leitungen stehen. Auch Einschränkungen von Dauer und Häufigkeit des persönlichen Kontakts müssen klar geregelt und dürfen nicht unverhältnismäßig sein. So ist jeweils auch das aktuelle Infektionsgeschehen in der betreffenden Stadt, bzw. dem Landkreis zu berücksichtigen. Schließlich sollten – wegen der zweifelhaften Praxis etlicher Einrichtungen – alle Bundesländer in ihren Verordnungen klarstellen, dass Bewohnerinnen und Bewohner die Einrichtung, in der sie wohnen, selbstverständlich verlassen dürfen. Für eventuelle Auflagen bei Rückkehr muss es eindeutige Vorgaben geben. Mit Blick auf die erheblichen Grundrechtseingriffe (Art. 1, Art. 2 und Art. 6 GG) darf die Politik die Verantwortung für diese grundsätzlichen Fragen nicht auf die Einrichtungen abwälzen.
Den gleichen Anspruch müssen Menschen haben, die sich zu Hause um ihre pflegebedürftigen Angehörigen kümmern! Es sollte möglichst schnell eine Abstimmung der Gesundheitsministerinnen und -minister dazu geben.
Das darf jedoch nicht zu einer Verzögerung dringend notwendiger Korrekturen führen.
2. Bedarfsgerechtes Vorgehen
Wenn – was bei Menschen mit Demenz sehr häufig der Fall ist – Angehörige Teil des Pflegesettings sind, müssen tägliche Besuche mit ausreichender Zeitdauer möglich gemacht werden. Gar keine zeitlichen Beschränkungen darf es für den Besuch schwerstkranker und sterbender Menschen geben. Um einem körperlichen und geistigen Abbau entgegenzuwirken, müssen Maßnahmen der gesundheitlichen Prävention und der Gesundheitsförderung wieder durchgeführt werden. Das reicht von Bewegungsangeboten über therapeutische Anwendungen bis zu ärztlichen oder zahnärztlichen Vorsorgeuntersuchungen.
3. Sicherstellung des Schutzes vor Infektionen
Neben einer ausreichenden Ausstattung der Einrichtungen mit Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln müssen die vom Bundesgesundheitsminister angekündigten präventiven Tests kurzfristig durchgeführt werden. Neben dem Personal und den Bewohnerinnen und Bewohnern müssen auch die wichtigsten Kontaktpersonen Anspruch auf solche Tests haben. Das soll Angehörigen wieder „normale“ Besuche in der Einrichtung und auf den Zimmern möglich machen.
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