Diskriminierung melden
Suchen:

Petition: Abstand heißt Einsamkeit – wie die Allgemeinverfügung zum Infektionsschutz die Bewohner in bayerischen Seniorenheimen belastet

Foto: H.S.

19.09.2020 - von Nicole Czwielong, Angela Büchner & Gabriele Schier

In der Allgemeinverfügung zum Infektionsschutz wurde festgelegt, dass alle Personen in Seniorenheimen voneinander einen Mindestabstand von 1,5 m einhalten müssen.

Da die Bewohner sowohl untereinander, als auch zu Besuchern und Mitarbeitern diesen Abstand einhalten müssen, führt dieser Zustand zu Einsamkeit und Isolation.

Deshalb fordern wir:

Die Bewohner eines Wohnbereichs sollen vom Abstandsgebot von 1,5 m zueinander befreit werden, so lange kein konkreter Covid-19-Fall auf dem Wohnbereich ist.

Ziel ist es, der Vereinsamung entgegenzuwirken und ein lebenswertes, gemeinschaftliches Leben innerhalb eines Wohnbereiches (wie bei Menschen eines Hausstands) wieder zu ermöglichen.

Die Bewohner finden im Seniorenheim in der Regel ihr letztes Zuhause. Sie leben mit den anderen Bewohnern ihres jeweiligen Wohnbereichs wie in einem Hausstand zusammen und sollten untereinander ihrem Bedürfnis nach Nähe und Kontakt nachkommen dürfen. Da auch Mitarbeiter und Besucher den Mindestabstand einhalten müssen, wird den Bewohnern coronabedingt ein wichtiges Grundbedürfnis nach sozialem Miteinander verwehrt.

Wir möchten keine Vermischung der Bewohner verschiedener Wohnbereiche, wir möchten keine Lockerung der Abstandsregelung für Mitarbeiter und Besucher, wir wollen lediglich die Bewohnerinnen und Bewohner von der Abstandsregelung zueinander befreien und ihnen ein Stück Normalität, Gemeinschaft und Bedürfnisbefriedigung ermöglichen.

Aktuell lassen wir unsere Bewohner sehenden Auges vereinsamen.

Und das hat Folgen: Es treibt den physischen, psychischen und kognitiven Abbau voran, schwächt die Bewohner und bringt sie in eine schlechtere Ausgangslage im Falle einer Infektion.

Die Forderung nach einer Aufhebung des Abstandsgebotes für die Bewohner innerhalb eines Wohnbereichs ist in unseren Augen unabdingbar. Auch eine permanente Maskenpflicht für Bewohner stellt keine adäquate Alternative zur Abstandspflicht dar, da die Maskenpflicht – wie sie an öffentlichen Orten herrscht – im Seniorenheim nicht umsetzbar ist. Das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes ist oft nicht mit dem gesundheitlichen und kognitiven Zustand der Bewohner vereinbar und wird schon in den Besuchssituationen selten toleriert. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass die Bewohner im Heim ZUHAUSE sind - trägt sonst jemand zuhause eine Maske?

Was also würde sich ändern, wenn die nächste Lockerung die Abstandsregeln der Bewohner eines Bereiches beträfe?

Es gäbe wieder Gespräche.
Es gäbe wieder Freundschaften.
Es gäbe wieder eine Normalität.
Es gäbe wieder Leben im Seniorenheim.
Es gäbe wieder Kontakt, Auseinandersetzung, Freude, Nähe, Zärtlichkeit – das ganze Spektrum des menschlichen Miteinanders.

Die Heimbewohner würden ihren Lebensabend menschenwürdig verbringen!

Die betreffende Allgemeinverfügung ist hier nachzulesen: Link Die letzte Verlängerung ist hier zu finden: Link

Initiatorinnen: Nicole Czwielong Angela Büchner Gabriele Schier

Fragen beantworten wir gerne über den entsprechenden Button. Ab sofort gibt es zusätzlich die Möglichkeit, uns über folgende E-Mail zu erreichen: Abstand-Petition@web.de
Begründung

Was bedeutet eine Abstandsregel von 1,5 m zu jeder Person für das Leben in einem Seniorenheim? Es bedeutet, die Bewohner zu separieren und ihnen damit jegliche Möglichkeit zur Kommunikation zu nehmen (die durch altersbedingte Einschränkungen meist ohnehin reduziert ist). Eine Kontaktaufnahme im Abstand von 1,5 m ist dieser Klientel schlichtweg nicht möglich! Weiterhin finden wir es unmenschlich, den Bewohnern (Körper-)Kontakt und Nähe zu verwehren, bzw. diesen auf unbedingt notwendige, grundpflegerische Maßnahmen zu reduzieren. Kontakt ist ein Grundbedürfnis des Menschen.

Ohne Kontakt fehlen Spaß und Motivation. Gemeinsames Lachen, gemeinsames Essen, gemeinsames Leben sind in Heimen zurzeit so stark eingeschränkt wie nie zuvor. Das hinterlässt Spuren: der kognitive, körperliche und gesundheitliche Abbau schreitet voran. Gemeinsame Aktivitäten sind kaum mehr möglich – der Abstand schafft unüberwindbare Hürden, die nicht vereinbar sind mit unseren sozialen Grundbedürfnissen.

Die Bewohnerinnen und Bewohner verbringen ihre letzten Lebensjahre in einem Heim. Diese letzten Lebensjahre sollten sie nicht isoliert verbringen, sondern wenigstens im Austausch mit den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern. Wie alle Menschen brauchen auch und vor allem hochbetagte Senioren Liebe, Nähe und Gemeinschaft.

Ein paar Beispiele aus der Praxis, erzählt von den Mitarbeitern eines Heims:

Wir berichten von zwei Bewohnerinnen: Die beiden Damen, beide fast 100 Jahre, haben sich bei uns kennen gelernt, verbrachten „vor Corona“ jeden Tag miteinander, und selbst bei Angehörigenbesuchen war jeweils die Freundin mit dabei. Die Fittere schob den Rollstuhl der Schwächeren, was ihre Treffen ermöglichte und der Rollstuhlfahrerin zusätzliche Mobilität und Freiheit gab. Dann kam Corona. Und die Abstandsregel, die diese Freundschaft stark reglementiert. Gespräche sind durch schlechtes Hören fast unmöglich, der Rollstuhl kann mit 1,5 m Abstand nicht geschoben werden, und die gesetzmäßige Mindestfläche eines Bewohnerzimmers gibt den gebotenen Abstand sowieso nicht her.

Wie würden Sie reagieren? Würden Sie sich an die Regeln halten und die Freundschaft „ad acta“ legen (denn was ist eine Freundschaft ohne Kommunikation, ohne gemeinsame Erlebnisse, ohne Kontakt)? Oder würden Sie sich wenigstens mit einem Menschen treffen wollen, der Ihnen vertraut ist und der keine pflegerische Handlung an Ihnen vornimmt, sondern sich nur um Ihrer selbst willen mit Ihnen trifft?

Unsere Freundinnen haben sich entschieden: Sie besuchen einander weiterhin und die Fittere schiebt den Rollstuhl der Schwächeren – verbotenerweise. Weil all diese Dinge mit Abstand nicht möglich sind verstecken sie sich im Zimmer und „springen“ auseinander, sobald jemand im Schwesternkittel auftaucht und sie ertappt. Wo bleiben da Selbstbestimmung und Würde? Wo bleibt die Freiheit? Würden Sie im Alter so leben wollen? Übervorsichtig, schuldbewusst, ängstlich? Muss man sich mit fast 100 Jahren verstecken – weil man seine Freundin trifft? Durch die Abstandsregeln entstehen Situationen, die für uns nichts mehr mit Würde zu tun haben.

Ein weiteres Beispiel: Eine demente Dame, nennen wir sie Frau Müller, über 90 Jahre alt. Sie sitzt im Speisesaal. Es ist gleich Essenszeit und ihre Freundin wird an den Tisch nebenan gesetzt, im gebotenen Abstand.

Ob Frau Müller in dem Moment weiß, dass das ihre Freundin ist, können wir nicht sagen. Vielleicht hat Frau Müller nur dieses vertraute Gefühl beim Anblick der anderen Bewohnerin, vielleicht ist es der Einzelplatz, der sie stört, vielleicht sucht sie etwas Orientierung oder ein nettes Gespräch. Egal was es ist, es bewegt Frau Müller dazu, aufzustehen: Unter großer Anstrengung, wackelig, hangelt sie sich zur Rückenlehne ihres massiven Stuhls und schiebt ihn Zentimeter für Zentimeter zum Nachbartisch, überbrückt diese gewaltige Distanz und fällt schließlich fix und fertig auf die Sitzfläche. Neben ihrer Freundin, außer Puste und mit schmerzenden Beinen, aber glücklich. Regelkonform wäre es, diese Frau wieder zurück an ihren Platz zu bringen. Das Beste für Frau Müller wäre es, sie gleich mit ihrer Freundin zusammen zu setzen. Keine übermäßige Kraftanstrengung, keine Sturzgefahr und ein nettes Essen in Gesellschaft.

Nicht viele Bewohner sind so entschlossen wie Frau Müller oder so furchtlos wie die beiden Freundinnen. Wie viele Bewohner können sich nicht selbstständig fortbewegen und sich so den verwehrten Kontakt holen?

Anscheinend wurde beim Erlass dieser Verordnung ein wichtiger Aspekt übersehen:

Was macht Isolation mit den Menschen?!

Deshalb fordern wir, die Bewohner eines Wohnbereichs vom Abstandsgebot von 1,5 m zueinander zu befreien.

Danke für Ihre Unterschrift im Namen aller Senioren,
Nicole Czwielong, Angela Büchner & Gabriele Schier aus Coburg


Unterschreiben bei openpetition unter: Link

Quelle: Mail an die Redaktion