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03.03.2022 - von DEZIM-Institut
"... Dass die EU Flüchtende aus der Ukraine unbürokratisch aufnimmt, ist wichtig. Die schleichende Politisierung des Flüchtlingsschutzes ist jedoch riskant. War die Reaktion auf Schutzsuchende an den EU-Außengrenzen zuletzt von Abschottung, Push-backs und Abschreckung geprägt – nicht nur, aber besonders rücksichtslos etwa an der Grenze zu Belarus – werden Geflüchtete aus der Ukraine nun in Polen, Ungarn und Slowakai mit offenen Armen empfangen. Also dort, wo die Aufnahme von Flüchtlingen bislang weitgehend abgelehnt wurde. Angesichts des Krieges und der Not in der Ukraine ist dies ein wichtiger Schritt.
Die mehr oder weniger offenen Grenzen sind jedoch keine Zäsur der europäischen Flüchtlingspolitik. Vielmehr beschleunigt die unmittelbare Aufnahmebereitschaft eine Entwicklung der Politik der letzten Jahre, die Flüchtlingsschutz zunehmend politisiert. Verschiedentlich wurde berichtet, dass Nicht-Weiße Schutzsuchende, etwa afrikanische und asiatische Studierende und afghanische Flüchtlinge, die in der Ukraine gelebt haben, an den Grenzübergängen zurückgewiesen wurden. Dies verwundert nicht angesichts der langjährigen Ablehnung nicht-europäischer und nicht-christlicher Flüchtlinge in jetzt aufnehmenden Staaten.
Vielmehr beobachten wir einen Rückfall in die ideologische Flüchtlingspolitik des Kalten Krieges. Alliierte Flüchtende – damals Oppositionelle real-kommunistischer Staaten aus Osteuropa und beispielsweise Südvietnam, heute afghanische Ortskräfte und vertriebene Ukrainerinnen und Ukrainer – sind präferierte und die vermeintlich wahren politischen Flüchtlinge. Damals setzte in den späten 1970er Jahren durch Verschärfungen des eigentlich universalen Asylrechts der Bundesrepublik eine Abwehr nicht-europäischer Flüchtlinge und damit eine politisch erwünschte Differenzierung des Zugangs ein. Erst nach dem Ende des Kalten Krieges rückten nicht-europäische Flüchtlinge wieder in den Fokus, allerdings im Kontext eines de-politisierten, humanitären Flüchtlingsschutzes im fernen Globalen Süden.
Ab den frühen 2000ern wurde auf dem Fundament der Menschenrechte ein umfassendes gemeinsames europäisches Asylsystem etabliert, das ein individuelles Recht auf Asyl in der EU festschrieb. Dies war eine große Errungenschaft der europäischen Einigung. Es wurde von Mitgliedsstaaten jedoch schnell als innenpolitische Belastung und Verwaltungsbürde empfunden. Es wurde zunehmend durch einen umfassenden, externalisierten und gewaltsamen Grenzschutz ausgehebelt. Ohne Zugang wird das Asylsystem geschont, aber das Recht auf Asyl faktisch abgeschafft.
Die flüchtlingspolitische Auseinandersetzung in der EU wurde folglich eine Frage des Zugangs von Flüchtlingen zu Schutz. Sie sollte durch sogenannte „sichere und legale Zugangswege“ wie Resettlement oder humanitäre Aufnahmeprogramme gelöst werden. An die Stelle eines Rechtsanspruchs tritt hierbei jedoch eine politische Präferenz der aufnehmenden Staaten, die bestimmen, welche Flüchtlinge aufgenommen werden und Schutz finden sollen und welche nicht.
Ganz im Trend einer solchen interessengeleiteten Politisierung des Flüchtlingsschutzes sind auch die aktuellen Entwicklungen auf europäischer Ebene zu verstehen. Die EU-Grenzen sind nicht für alle Schutzsuchende offen, sondern nur für politisch Erwünschte. Für die meisten Flüchtenden aus Asien, Afrika und dem arabischen Raum bleiben sie gerade in Südeuropa weitgehend verschlossen.
Die Überlegungen der EU, die „Massenzustrom-Richtline“ zu aktivieren, scheint angesichts der hohen Anzahl an Schutzsuchenden aus der Ukraine eine berechtigte und passende Maßnahme. Mit dem Beschluss des Europäischen Rats wird auf Vorschlag der Kommission eine bestimmte Personengruppe benannt, der im aufnehmenden Staat ohne Verfahren Aufenthaltserlaubnis und weitere Rechte zustünden, etwa Grundsicherung, Gesundheitsversorgung, Arbeitsrecht oder Anspruch auf Schulbildung. Dieser Status wird für drei Jahre oder bis zum Widerruf des Beschlusses verlängert. Er schließt einen gleichzeitigen Antrag auf internationalen Schutzstatus, also auf Asyl, nicht aus.
Diese Richtlinie wurde 2001 als Reaktion auf die Erfahrungen aus dem Jugoslawienkrieg verabschiedet. Bürgerkriegsflüchtlinge hatten keinen Anspruch auf Asyl und mussten so in oft rechtlosen Duldungssituationen ausharren. Die Richtlinie wurde in ihrer zwanzigjährigen Existenz noch nie von den Mitgliedsstaaten in Anspruch genommen – auch nicht 2015. Dafür gibt es mehrere Gründe: So enthält die Richtlinie beispielsweise keinen Verteilungsmechanismus. Für die Nichtanwendung vermutlich ausschlaggebender ist aber, dass die Schutzlücke für Fliehende vor Krieg und Menschenrechtsverbrechen bereits 2004 geschlossen wurde. Damals wurde eine Qualifizierungsrichtlinie verabschiedet, die Kriterien festlegt, nach denen Asylsuchende Schutz erhalten. Es wurde ein subsidiärer Schutz für jene eingeführt, die nicht individuell verfolgt werden, aber dennoch temporären Schutz vor allgemeiner Gewalt benötigen. Somit besteht in der EU auch ohne „Massenzustrom-Richtline“ ein individueller Rechtsanspruch auf einen befristeten Schutz.
Wieso wird dann eine zusätzliche Richtlinie genutzt, wenn die Flüchtenden aus der Ukraine bereits einen Schutzanspruch besitzen? Zum einen erspart der prima facie-Status Neuankommenden langwierige und aufwendige Asylverfahren. Letztere wären auch mit weniger Rechten sowie mit einer verpflichtenden Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften verbunden. Zum anderen haben die osteuropäischen Hauptaufnahmestaaten keine funktionierenden Asylverfahren und -institutionen, schon gar nicht mit Blick auf die große Zahl an Schutzsuchenden. ..."
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