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Positionspapier zur Reform des AGG der SPD

Foto: H.S.

18.04.2023 - von SPD-Bundestagsfrakion

Für einen effektiveren Diskriminierungsschutz in Deutschland

Jede dritte Person in Deutschland hat schon einmal selbst Diskriminierung im Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) erlebt – doch nur ca. 6 Prozent der Betroffenen klagen dagegen. Es mangelt primär an niedrigschwelligen Möglichkeiten zur effektiven Rechtsdurchsetzung: Die Klagefristen sind zu kurz, die prozessuale Unterstützung für Betroffene ist eingeschränkt und die Beweisführung schwierig. Zudem klaffen 16 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes noch immer Schutzlücken
im AGG, denn während beispielsweise rassistische Diskriminierung durch eine*n private*n Arbeitgeber*in Entschädigungsansprüche nach dem AGG auslöst, ist dies bei rassistischer Diskriminierung durch eine öffentliche Behörde nicht der Fall.
Als Fortschrittskoalition wollen wir die Teilhabe aller Menschen in Deutschland ermöglichen. Wir wollen Diskriminierung auf allen Ebenen entgegentreten und unsere freiheitlich demokratische Gesellschaft stärken. Gleichbehandlung und Gleichberechtigung erreichen wir aber nicht mit warmen Worten. Es bedarf eines klaren Regelwerkes zum Schutz vor Diskriminierung und einer effektiven Sanktionierung von Verstößen. Darum haben wir uns im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, das AGG zu reformieren.

Die Ampelkoalition hat die Vorschriften des AGG zur Rechtsstellung der Leitung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS), zu den Befugnissen dieses Amtes und zum Besetzungsverfahren bereits im Sommer 2022 zügig geändert. Seit der Gesetzesnovelle wird die Leitung der ADS auf Vorschlag der Bundesregierung als Unabhängige*r Bundesbeauftragte*r für Antidiskriminierung durch den Deutschen Bundestag für die Dauer von fünf Jahren gewählt. Diese Aufwertung und Stärkung der ADS waren ein erster wichtiger Schritt.
Im Fokus der weiteren Reform stehen das Schließen von Schutzlücken und die Verbesserung des Rechtsschutzes für Betroffene. Bereits im Herbst 2016 wurde im Auftrag der ADS eine umfangreiche Evaluation des AGG vorgelegt. Diese sowie zahlreiche Rechtsgutachten und Stellungnahmen aus der Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Praxis bilden für uns die Grundlage für die Ausgestaltung einer Reform des AGG. Folgende zentrale Aspekte müssen aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion dabei berücksichtigt werden:

1. Geltendmachungsfrist verlängern
Bisher müssen von Diskriminierung Betroffene ihre Ansprüche innerhalb von zwei Monaten geltend machen (§ 15 Abs. 4, § 21 Abs. 5 AGG). Diese kurze Frist stellt ein zentrales Praxishindernis bei der Rechtsdurchsetzung dar. Die Verarbeitung einer Diskriminierungserfahrung braucht Zeit. Zudem wissen Betroffene oft gar nicht von ihren Rechten bzw. brauchen Zeit, sich rechtlichen Rat einzuholen. Damit Betroffene die nötige Zeit haben, ihre Ansprüche zu prüfen und geltend zu machen, sollte eine Frist von einem Jahr eingeräumt werden. Auch wollen wir den Fristbeginn angleichen: Bei einer Bewerbung soll die Frist mit der Kenntnis über die Benachteiligung beginnen, frühestens mit dem Zugang der Ablehnung.

2. Kollektiven Rechtsschutz einführen
In der Praxis zeigt sich, dass nur die wenigsten von Diskriminierung Betroffenen klagen. Obwohl sie sich die Durchsetzung ihrer Rechte wünschen, können und wollen viele Betroffene die zeitliche, emotionale und finanzielle Belastung eines langwierigen Gerichtsverfahrens nicht tragen. Diskriminierung wird daher in den meisten individuell erlebten Fällen nicht sanktioniert. Anders als in vielen EU-Mitgliedsstaaten gibt es auch keine Möglichkeit, gegen Fälle von struktureller Diskriminierung ohne individuelle Betroffenheit rechtlich vorzugehen. Bisher sind Antidiskriminierungsverbänden die Besorgung von Rechtsdienstleistungen und die Unterstützung von Betroffenen als Beistand in gerichtlichen Verfahren erlaubt (§ 23 Abs. 2 und 3 AGG). Die Voraussetzungen für diese Verbände (§ 23 Abs. 1 Satz 2 AGG) sollten gesenkt werden, damit mehr Antidiskriminierungsstellen diese Unterstützungsmöglichkeiten für Betroffene anbieten können. Da die Bekämpfung von Diskriminierung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, setzt sich die SPD-Bundestagsfraktion zudem für die Etablierung eines kollektiven Rechtsschutzes ein: Antidiskriminierungsverbände sollen im Wege der Prozessstandschaft für betroffene Personen klagen können.
Daneben sollte ein Verbandsklagerecht im AGG verankert werden, damit qualifizierte Verbände auch unabhängig von der individuellen Betroffenheit Einzelner einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot gerichtlich feststellen lassen können.

3. Beweislasterleichterung präzisieren und Auskunftsanspruch einführen
Ein weiteres wichtiges Instrument, um die Ansprüche von Betroffenen geltend zu machen, ist die sogenannte Beweislasterleichterung nach § 22 AGG. In der Literatur besteht Streit, ob sich die Beweiserleichterung allein auf die Kausalität zwischen einer Benachteiligung und Diskriminierungsmerkmal bezieht oder auf alle Tatbestandsvoraussetzungen. Hier bedarf es einer europarechtskonformen Neufassung, aus der sich unzweideutig eine umfassende Beweiserleichterung ergibt. Zudem wollen wir, dass die Anforderungen an die Darlegungslast, die die Beweiserleichterungen auslösen, im Sinne der Betroffenen konkretisiert werden.
Für Betroffene und ihre vertretenden Verbände wollen wir zudem einen Auskunftsanspruch gegenüber den Arbeitgeber*innen schaffen, um den Zugriff auf Indizien zu verbessern. Abgelehnte Bewerber*innen brauchen z.B. einen Anspruch auf Mitteilung der Gründe bei einer Nichteinstellung. Dieser Auskunftsanspruch spielt auch mit Blick auf die zunehmende Relevanz von Algorithmen basierten Entscheidungssystemen eine wichtige Rolle für einen effektiven Diskriminierungsschutz.

4. Entschädigung abschreckend gestalten
Bisher sieht § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG eine Deckelung von Entschädigungen auf drei Monatsgehälter vor. Diese Deckelung des Entschädigungsanspruchs wird den EU-rechtlichen Anforderungen von wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktionen nicht gerecht und ist darum zu streichen.
Die Ansprüche auf Schadensersatz und Entschädigung nach §§ 15 und 21 AGG sind zudem bisher
teilweise verschuldensabhängig. Diese Einschränkungen sollen im Sinne des europäischen Antidiskriminierungsrechts mit einer angemessenen Übergangsfrist abgebaut werden. Für Betroffene macht es im Ergebnis keinen Unterschied, ob sie vorsätzlich oder unabsichtlich diskriminiert wurden.

5. Präzisierung und Erweiterung der Diskriminierungsmerkmale und -formen
Das AGG wurde seit 2006 nicht reformiert und muss unter Berücksichtigung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse an die gesellschaftliche Realität angepasst werden. Wir wollen begriffliche Änderungen bzw. Klarstellungen im Allgemeinen Teil des Gesetzes vornehmen, insbesondere den Begriff „Rasse“ durch die Termini „rassistisch“, „rassistische Diskriminierung“ oder „aus rassistischen Gründen“ ersetzen, den Begriff „Alter“ durch „Lebensalter“ austauschen (da nicht ausschließlich ältere Menschen vom Schutzbereich der Norm erfasst werden, sondern auch jüngere aufgrund ihres Alters diskriminiert werden können). Zudem wollen wir klarstellen, dass auch die Geschlechtsidentität vom Anwendungsbereich des AGG erfasst ist.
Darüber hinaus setzen wir uns für eine Ergänzung der Diskriminierungsmerkmale in § 1 AGG ein. Eine praktikable Lösung könnte ein offen formulierter Katalog an Diskriminierungsmerkmalen sein: Die
bislang benannten Diskriminierungskategorien würden mit „insbesondere“ eingeleitet, sodass Gerichte die Möglichkeit hätten, Kategorien von Diskriminierung, die nicht explizit im AGG benannt sind, trotzdem einer Prüfung zu unterziehen. Das AGG könnte sich hierdurch im Wege richterlicher Rechtsfortbildung gesellschaftlichen Entwicklungen anpassen. Dies entspricht internationalen Vorbildern in der EU-Grundrechte-Charta oder der Europäischen Menschenrechtskonvention und ist in einigen EU-Ländern bereits üblich.
Neben den in § 3 AGG aufgeführten fünf Formen von Diskriminierung wollen wir die „assoziierte Diskriminierung“ mit aufnehmen, um Fälle drittbezogener Diskriminierung im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu erfassen. Dabei geht es um Personen, die wegen der Nähe zu Personen mit zutreffenden Diskriminierungsmerkmalen benachteiligt werden.
Des Weiteren wollen wir sicherstellen, dass auch persönlichkeitssensible Entscheidungen durch teil- oder vollautomatisierte Verfahren oder durch Formen der KI vom Schutzbereich des AGG erfasst werden. Auch zukünftige technologische Entwicklungen, die aktuell nur schwer abschätzbar sind, sollten durch das AGG abgedeckt werden.
Zudem sind die Tatbestandsvoraussetzungen der „Belästigung“ (§3 Abs. 3AGG) zu eng gefasst und setzen ein feindliches Umfeld voraus, was zu einer nicht nachvollziehbaren Verengung des Schutzbereiches führt. Daher setzen wir uns für eine Nachschärfung des Begriffs der Belästigung in § 3 AGG ein.
Zudem wollen wir den Anwendungsbereich des § 3 Abs. 4 AGG richtlinienkonform auf alle Lebensbereiche ausweiten. Im Rahmen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hat sich Deutschland dazu verpflichtet, Regelungen, die Menschen mit Behinderung diskriminieren, weitgehend zu beseitigen, Barrierefreiheit herzustellen und Inklusion zu gewährleisten. Dies ist jedoch – trotz gesetzlicher Vorschriften – vielerorts nicht der Fall und schränkt im Alltag die Teilhabe von Menschen mit Behinderung stark ein, z.B. im öffentlichen Personenverkehr oder beim Zugang zu Hotels. Wir fordern darum, die Versagung von Barrierefreiheit, mindestens aber die Versagung angemessener Vorkehrungen als Diskriminierungstatbestand ins AGG aufzunehmen. Hiermit würden alle Adressat*innen des AGG im Sinne der UN-BRK zur Barrierefreiheit verpflichtet. Es sollte ein subjektives Recht auf Barrierefreiheit verankert werden.

6. EU-rechtskonforme Neufassung der „Kirchenklausel“
Abweichend von der Richtlinie 2000/78/EG ermöglicht das AGG in § 9 AGG konfessionellen Arbeitgeber*innen eine weitreichende Ausnahmeregelung. Daher bedarf insbesondere § 9 AGG einer umfassenden Überarbeitung in Form einer europarechtskonformen Abstufung des kirchlichen Privilegs nach wesentlicher Tätigkeitsanforderung bzw. Verkündigungsnähe der Tätigkeit.

7. Anwendung des AGG im Kündigungsschutz
Auch im Kündigungsschutz muss das AGG Anwendung finden. So sind nach der EU-Antidiskriminierungs-Richtlinie diskriminierende Kündigungen unwirksam. Aus diesem Grund ist § 2 Abs. 4 AGG ersatzlos zu streichen – zumal das Bundesarbeitsgericht in ständiger Rechtsprechung das Kündigungsschutzgesetz AGG-konform auslegt.

8. Diskriminierungsschutz im Bereich Wohnen ausweiten
Das zivilrechtliche Benachteiligungsverbot beschränkt sich nach § 19 Abs. 1 AGG auf sogenannte Massengeschäfte oder privatrechtliche Versicherungen. Vor allem bei der Vermietung von Wohnraum bestehen Schutzlücken, die auch mit Blick auf EU-Recht geschlossen werden müssen. Insbesondere ist die Schwelle in § 19 Abs. 5 Satz 3 AGG deutlich abzusenken, wonach es sich bei der „Vermietung von Wohnraum zum nicht nur vorübergehenden Gebrauch“ in der Regel nicht um ein Geschäft im Sinne von § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG handelt, wenn der oder die Vermieter*in insgesamt weniger als 50 Wohnungen vermietet.

9. Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen stärken
Auch im Bereich Gesundheit und Pflege belegen Studien die Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, Geschlechtsidentität, Religion, Behinderung, sexuellen Identität und ihres Alters. Aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion widerspricht dies schon heute dem AGG, da es sich bei einem medizinischen Behandlungsvertrag um ein dem Massengeschäft vergleichbaren Vertrag nach § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG handelt. Da diese Auffassung jedoch in der Rechtsliteratur umstritten ist, wollen wir den diskriminierungsfreien Zugang zu medizinischer und pflegerischer Infrastruktur noch einmal konkret im AGG verankern.

10. Ausweitung des Anwendungsbereichs auf staatliches Handeln
Die Studienlage zeigt deutlich, dass im Bereich des staatlichen Handelns Lücken im Diskriminierungsschutz bestehen (z.B. bei Racial Profiling oder bei Diskriminierungen durch Behörden). Da diese Form der Diskriminierung von den Betroffenen aufgrund des Machtgefälles und des Abhängigkeitsverhältnisses als besonders gravierend empfunden wird, wollen wir den Diskriminierungsschutz auf den Bereich der Bundesverwaltung ausweiten. In diesem Zusammenhang wollen wir auch die Befugnisse der Betriebsräte aus § 17 Abs. 2 AGG auf Personalräte ausdehnen. Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens sind die mittelbaren sozialrechtlichen Folgen zu berücksichtigen. Ergänzend sind alle Länder aufgefordert Landesantidiskriminierungsgesetze zu erlassen, um einen umfassenden Diskriminierungsschutz auf Landesebene zu gewährleisten.

11. Beratungsstrukturen deutschlandweit fördern
Gut ausgestattete Beratungsstellen vor Ort spielen beim Diskriminierungsschutz eine besonders wichtige Rolle. Studien zeigen, dass die Anfragen bei diesen Stellen in den letzten Jahren stetig angestiegen sind.
Bisher sind die Beratungskapazitäten bundesweit sehr unterschiedlich verteilt. Gemeinsam mit den Ländern und Kommunen wollen wir den flächendeckenden Ausbau staatlicher und nichtstaatlicher Antidiskriminierungsstellen fördern und nachhaltig finanzieren.

Quelle: SPD Bundestagsfraktion, 18.4.2023