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Gasversorgungsnotfall? Letztverbraucher zahlen die steigenden Preise

Foto: H.S.

06.07.2022 - von Hanne Schweitzer

Nur einen Monat hat es gedauert, bis die Novellierung des Energiesicherungsgesetzes¹ aus dem Jahr 1975 beraten und vom Bundestag verabschiedet war. Seit dem 22. Mai 2022 ist das überarbeitete und ergänzte Gesetz in Kraft. Es ist reich an Verordnungsermächtigungen. Die erste heißt "Sicherung der Energieversorgung; Verordnungsermächtigung", eine weitere wird "Europäische Verpflichtungen; Verordnungsermächtigung" genannt, eine andere läuft unter dem Namen "Digitale Plattform für Erdgas; Verordnungsermächtigung", und Paragraf 19 hat als Überschrift "Enteignungsakt; Verordnungsermächtigung". Verordnungsermächtigungen stärken die Legislative. Die Regierung kann Verordnungen ohne das Parlament umsetzen, eine Regierungsart, die zunehmend praktiziert wird.
Beruhigend ist das nicht.

Eine besorgniserregende Höhe der Verschleierung enthält das im § 24 EnSiG festgelegte "Preisanpassungsrecht". Wie aus der Schießscharte der Wirtschaftsliberalen geschossen, fliegen dem "Letztverbraucher"² genannten Haushaltsgaskunden durch dieses Recht die gut getrockneten Fladen der "Heiligen Kuh der freien Marktwirtschaft" um die Ohren.

Zweck des Preisanpassungsrechts ist es, die Energieversorgungsunternehmen vor einer Insolvenz zu schützen. Das Recht der Preisanpassung garantiert das Durchreichen der Mehrkosten im Gasversorgungsnotfall an die Letztverbraucher, auch ohne dass mit ihnen entsprechende Verträge abgeschlossen werden müssten. Sobald der laut Umfragen so beliebte Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Habeck, 1. die Alarm- oder Notfallstufe in Verbindung mit dem Notfallplan Gas seines Bundesministeriums bekannt gegeben, und 2. die Bundesnetzagentur "eine erhebliche Reduzierung der Gesamtgasimportmengen nach Deutschland" festgestellt hat, und 3. die Gashändler den Ausfall des Imports durch eine Ersatzbeschaffung kompensieren können, tritt das Preisanpassungsrecht in Kraft.

Die bloße Reduzierung der Menge, die vom Lieferanten kommt,reicht dafür nicht aus. Erst dann, wenn tatsächlich Ersatz beschafft werden konnte, egal wo er vielleicht zuvor zwischengelagert war und zu welchem Preis er eingekauft wurde, erhalten alle "betroffenen Energieversorgungsunternehmen entlang der Lieferkette das Recht, ihre Gaspreise gegenüber ihren Kunden auf ein angemessenes Niveau anzupassen".

Entlang der Gaslieferkette halten viele ihre Hand auf. Die Lieferkette ist lang. Grob wird sie unterteilt in drei Segmente. Das Upstream-Segment: Finden und Fördern von Erdgas. Das Midstream-Segment: Verarbeitung, Speicherung und Transport von Energierohstoffen. Das Downstream-Segment: Raffinerien, Einzelhandelsgeschäfte und Erdgasverteilungsunternehmen. Bei den Energieversorgungsunternehmen beginnt die Lieferkette beim Gas importierenden Großhandelsunternehmen, sie setzt sich über sämtliche Zwischenhändler und Betreiber von Energieversorgungsnetzen fort bis hin zum Gaslieferanten, der uns Letztverbraucher versorgt. (§ 3 Nr. 18 EnWG)

Laut Gesetz dürfen die Preise der Ersatzbeschaffung auf ein "angemessenes Niveau" gehoben werden. Weil aber "angemessen" ein dehnbarer Begriff ist, definiert das Gesetz, was ein unangemessenes Niveau ist. Werden höhere Preise verlangt als die Mehrkosten betragen, die dem Großhändler für die Gasbeschaffung woanders entstanden sind, ist das unangemessen. Weil aber alle Energieversorgungsunternehmen entlang der Lieferkette das Recht haben, ihre Preise anzupassen, kann nicht nur der Großhändler seine tatsächlichen Ersatzbeschaffungskosten in Rechnung stellen. Auch alle weiteren Versorgungsunternehmen, die keinen Ersatz beschafft haben, aber ein Glied der Lieferkette sind, können die Preissteigerung des vorherigen Lieferanten weitergeben. So lange, bis die Kosten bei uns Letztverbrauchern angekommen sind.

Das würde Uniper, dem größten deutschen Gashändler, der 2016 durch Abspaltung der Stromerzeugung aus Kohle und Gas und des globalen Energiehandels aus der E.ON entstanden ist, gut gefallen. Die Aktiengesellschaft gehört seit 2020 mehrheitlich dem finnischen Energiekonzern Fortum. Wie das Handelsblatt am 5.7. meldete, soll die Ampelregierung mit einem möglichen Einstieg beim Energiehändler liebäugeln. Geschildert werden Einstiegssummen zwischen 150 Millionen und 5 Milliarden Euro. Dann der Satz: "Wie die staatliche Rettung konkret ausgestaltet wird, hängt allerdings auch davon ab, inwieweit Energiehändler wie Uniper die höheren Einkaufspreise beim Gas künftig an die Verbraucher weitergeben dürfen." Das ist zwar sehr industriefreundlich formuliert, aber - siehe oben, falsch. Es geht im EnSiG - zumindest noch nicht, um die Weitergabe gestiegener Einkaufspreise für Gas an die Letztverbraucher, es geht um die Weitergabe der Ersatzbeschaffungskosten.

Doch das kann sich schnell ändern, der Staat kennt keine Skrupel. Wer weiß schon, ob und in welcher Höhe die Bundesregierung bankrotte Gasunternehmen und ihre Aktionäre "retten" wird, ob und wenn ja welche Lieferketten von einer Gasreduzierung betroffen sein werden, und ob und zu welchem Preis die Großhändler überhaupt Ersatz beschaffen und finanzieren können? Die Gaspreise der Zukunft stehen für uns Letztverbraucher in den Sternen.


¹ Als der Weisheit letzter Schluss gilt das Energiesicherungsgesetz nicht. Laut Oldenburger onlinezeitung vom 30.6.2022 macht der zuständige Verband "Zukunft Gas" auf die Not der Branche aufmerksam. „Die Ersatzbeschaffung verursacht erhebliche Mehrkosten“, sagte Verbandsvorstand Timm Kehler der FAZ. „Wir sehen einer Finanzkrise im Gashandel ins Auge, die dringend gelöst werden muss.“ Die große Frage sei, ob die Hilfen schnell genug kommen. Denn dafür müsste das EnSiG geändert werden. ...

In der Branche heißt es, die Gashändler verlören jeden Tag einen dreistelligen Millionenbetrag, rund eine Milliarde in der Woche. (Wieviel sie in guten Zeiten in einer Woche verdient haben, erfahren wir natürlich nicht. Es besteht aber wohl Einverständnis in der Branche darüber, dass die Verluste „sozialisiert“, also von den Kunden getragen werden müssten.

Falls den Gashändlern vorher das Geld ausgehe, müssten sie auf die teure Ersatzbeschaffung verzichten. Im Gespräch sei deshalb eine Brückenfinanzierung durch den Bund, der dafür weitere Kredite der KfW bereitstellen könnte. Mit zehn Milliarden Euro stützt die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau bereits den Versorger Wingas, nachdem Gazprom die Belieferung seiner früheren Tochtergesellschaft weitestgehend gestoppt hatte. Link

² In der Richtlinie 2009/73/EG des Europäuschen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009.
mit der die "Liberalisierung" des Erdgasbinnenmarkts begann, die "allen privaten und gewerblichen Verbrauchern in der Europäischen Union eine echte Wahl ermöglichen, neue Geschäftschancen für die Unternehmen eröffnen sowie den grenzüberschreitenden Handel fördern und auf diese Weise Effizienzgewinne, wettbewerbsfähige Preise und höhere Dienstleistungsstandards bewirken und zu mehr Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit beitragen" sollte, steht in Artikel 2 Begriffsbestimmungen unter der Nummer 25. „Haushaltskunde“: "Kunde, der Erdgas für den Eigenverbrauch im Haushalt kauft".


Auszug aus dem Energiesicherungsgesetz, geänderte Fassung vom 22.5.2022
§ 24 Preisanpassungsrechte bei verminderten Gasimporten

(1) Hat die Bundesnetzagentur nach Ausrufung der Alarmstufe oder Notfallstufe nach Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b und Artikel 11 Absatz 1 der Verordnung (EU) 2017/1938 in Verbindung mit dem Notfallplan Gas des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie vom September 2019, der auf der Internetseite des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz veröffentlicht ist, eine erhebliche Reduzierung der Gesamtgasimportmengen nach Deutschland festgestellt, haben alle hiervon betroffenen Energieversorgungsunternehmen entlang der Lieferkette das Recht, ihre Gaspreise gegenüber ihren Kunden auf ein angemessenes Niveau anzupassen. Eine Preisanpassung ist insbesondere dann nicht mehr angemessen, wenn sie die Mehrkosten einer Ersatzbeschaffung überschreitet, die dem jeweils betroffenen Energieversorgungsunternehmen aufgrund der Reduzierung der Gasimportmengen für das an den Kunden zu liefernde Gas entstehen.

(2) Die Preisanpassung nach Absatz 1 Satz 1 ist dem Kunden rechtzeitig vor ihrem Eintritt mitzuteilen und zu begründen. Die Preisanpassung wird frühestens an dem Tag wirksam, der auf den Tag des Zugangs der mit der Begründung versehenen Mitteilung folgt. Bei einer Preisanpassung nach Absatz 1 Satz 1 hat der Kunde ein außerordentliches Kündigungsrecht, das nur unverzüglich nach Zugang der Preisanpassungsmitteilung ausgeübt werden kann. In der Preisanpassungsmitteilung ist auf das Kündigungsrecht nach Satz 3 hinzuweisen. Im Verhältnis zu Letztverbrauchern gilt § 41 Absatz 5 des Energiewirtschaftsgesetzes entsprechend mit der Maßgabe, dass die Unterrichtungsfrist nach § 41 Absatz 5 Satz 2 des Energiewirtschaftsgesetzes gegenüber allen Letztverbrauchern eine Woche vor Eintritt der beabsichtigten Änderung beträgt.
Für Verträge, bei denen Energieversorgungsunternehmen von dem in Absatz 1 vorgesehenen Preisanpassungsrecht Gebrauch machen, sind bis zur Aufhebung der Feststellung nach Absatz 1 Satz 1 vertraglich vereinbarte Preisanpassungsrechte ausgesetzt.

(3) Die Feststellung nach Absatz 1 Satz 1 ist durch die Bundesnetzagentur unverzüglich aufzuheben, wenn eine erhebliche Reduzierung der Gesamtgasimportmengen nach Deutschland nicht mehr vorliegt, spätestens jedoch, wenn weder die Alarmstufe noch die Notfallstufe nach Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b und Artikel 11 Absatz 1 der Verordnung (EU) 2017/1938 in Verbindung mit dem Notfallplan Gas des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie vom September 2019 fortbestehen. Bis zur Aufhebung der Feststellung nach Absatz 1 Satz 1 hat der Kunde eines Energieversorgungsunternehmens, das gegenüber dem Kunden vom Recht auf Preisanpassung nach Absatz 1 Satz 1 Gebrauch gemacht hat, das Recht, alle zwei Monate ab Wirksamwerden der Preisanpassung nach Absatz 1 Satz 1 die Überprüfung und gegebenenfalls unverzügliche Anpassung des vertraglichen Preises auf ein angemessenes Niveau zu verlangen. Das Energieversorgungsunternehmen hat dem Kunden innerhalb einer Frist von zwei Wochen das Ergebnis der Prüfung und die Preisänderung mitzuteilen und diese zu begründen.

Für die Angemessenheit nach Satz 2 gilt Absatz 1 Satz 2 entsprechend mit der Maßgabe, dass beim Energieversorgungsunternehmen eingetretene Kostensenkungen seit der Preisanpassung nach Absatz 1 Satz 2 zu berücksichtigen sind. Erfolgt auf ein Verlangen nach Satz 2 keine Anpassung, hat der Kunde das Recht, den Vertrag ohne Einhaltung einer Frist zu kündigen. In der Preisanpassungsmitteilung nach Absatz 2 Satz 1 ist auf das Recht nach Satz 2 und auf das Kündigungsrecht nach Satz 5 hinzuweisen. Die Sätze 2 bis 6 sind nach der Aufhebung der Feststellung nach Absatz 1 Satz 1 entsprechend anzuwenden mit der Maßgabe, dass vier Wochen nach Aufhebung der Feststellung nach Absatz 1 Satz 1 die Energieversorgungsunternehmen verpflichtet sind, den Preis auf ein angemessenes Niveau abzusenken. Wird weiterhin ein höherer Preis vorgesehen als der Preis, der vor der Preisanpassung nach Absatz 1 vereinbart war, muss das Energieversorgungsunternehmen dem Kunden die Angemessenheit dieses höheren Preises nachvollziehbar darlegen.

(4) Die Feststellung nach Absatz 1 Satz 1 und ihre Aufhebung sind im Bundesanzeiger bekannt zu machen.

(5) § 104 der Insolvenzordnung vom 5. Oktober 1994 (BGBl. I S. 2866), die zuletzt durch Artikel 35 des Gesetzes vom 10. August 2021 (BGBl. I S. 3436) geändert worden ist, bleibt unberührt.

§ 25 Preisanpassungsmonitoring
(1) Die Bundesnetzagentur und das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz führen ein Monitoring über Preisanpassungen in dem Zeitraum, in dem Preisanpassungsrechte nach § 24 bestehen, durch. Für dieses Monitoring haben Energieversorgungsunternehmen der Bundesnetzagentur jegliche Preisanpassungen, die nach Feststellung der Bundesnetzagentur gemäß § 24 Absatz 1 Satz 1 oder aufgrund von deren Aufhebung erfolgen, elektronisch anzuzeigen. Die Anzeige über Inhalt und Umfang der Preisanpassung ist der Bundesnetzagentur innerhalb einer Woche nach erfolgter Anpassung zu übermitteln. Die Bundesnetzagentur übermittelt dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz auf Verlangen die erlangten Daten.
(2) Die Bundesnetzagentur kann Vorgaben zu Inhalt und Format der zu übermittelnden Daten machen.
(3) Die Bundesnetzagentur kann die erlangten Daten in aggregierter Form im Monitoringbericht nach § 35 des Energiewirtschaftsgesetzes veröffentlichen.
Nichtamtliches Inhaltsverzeichnis

Siehe auch: Die h e i l i g s t e Kuh der Marktwirtschaft
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Quelle: EnSIG, Oldenburger Online-Zeitung