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24.7.2022: Vor einem Monat - Massaker in Melilla

24.07.2022

„Auch Tage nach den tödlichen Vorkommnissen an der Grenze zur spanischen Exklave Melilla kursieren in sozialen Netzwerken die verstörenden Bilder von den Europäischen Außengrenzen. Stand heute wurden von marokkanischen Menschenrechtsgruppen 37 Tote gezählt, wobei die Todesursachen immer noch weitgehend ungeklärt sind.
Es schockiert nicht nur die tödliche Gewalt selbst gegenüber Menschen auf der Flucht. Es ist das Bild aufgehäufter menschlicher Leiber, von Halbtoten und Toten, das ein neues Niveau der Feindschaft und Entmenschlichung demonstriert.

Bilder zeigen, wie bewaffnete Grenzpolizisten an jenem Freitag, den 24. Juni, Steine auf Migrierende schmeißen, selbst noch auf Verletzte und auf dem Boden liegende Menschen einprügeln, sie verhöhnen. Stundenlang wurden Verletzte ohne Hilfe liegen gelassen, was die Zahl der Todesopfer noch erhöhte, berichtet die Organisation Walking Borders. Was sich an der Grenze zur Exklave Melilla, diesem Überbleibsel des spanischen Kolonialismus auf dem afrikanischen Kontinent, abspielt, ist neuer trauriger Höhepunkt einer migrationspolitischen Entwicklung, die wir seit Jahren beobachten und immer wieder kritisiert haben.

Die Polarisierung zwischen den G7-Staaten und dem Rest der Welt spitzt sich kontinuierlich zu: durch wirtschaftliche, soziale und ökologische Krisen, die Vernichtung von Lebensgrundlagen und Hunger. Doch die Antwort Europas gegenüber Fliehenden aus dem Globalen Süden beschränkt sich immer stärker auf den Ausbau von „robusten Grenzanlagen“ und direkte Gewaltanwendung. Das Nachdenken über legale Migrations- und Fluchtrouten scheint gänzlich einer Politik der militarisierten Abwehr gewichen.

Die Verteidigung der Grenzen mit Waffen-Gewalt – sei es in der Ägäis, auf dem Balkan, in Polen oder nun Spanien – galt 2015, als die AfD eben das forderte, noch als Tabubruch. Nun ist sie zum Alltag geworden. Spaniens sozialistischer Ministerpräsident Pedro Sánchez sprach nach Melilla von „einem gewaltsamen Überfall, der von der Menschenhändler-Mafia organisiert wurde“. Nach seiner Interpretation sind es am Boden liegende, sterbende Menschen, die die eigentliche Gefahr darstellen. Diese systematische Täter-Opfer-Verkehrung kennen wir schon länger aus der europäischen Migrationsabwehr.

Seit einigen Jahren beobachten wir jedoch eine weitere folgenreiche Diskursverschiebung: die Bezeichnung von Migration als „Waffe“ oder „Angriffskrieg“. Mit dieser sprachlichen Wendung erscheint Migration nicht länger als humanitäre Frage, auf die im Rahmen der Menschenrechte und der Genfer Flüchtlingskonvention reagiert wird. Stattdessen werden Schutzsuchende zu Angreifern erklärt, zu Kriegsteilnehmenden, gegen die wir uns verteidigen müssen und denen keinesfalls unser Mitleid gelten kann. So wird das Recht auf Flucht und Suche nach einem besseren Leben endgültig delegitimiert. …“
Die gesamte Erklärung von Medico hier:
Link

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Liebe Freundinnen und Freunde,
24. Juni 2022 am Zaun von Melilla: der Versuch die Grenzbefestigung zu überwinden, entwickelt sich zu einem rassistischen Massaker. Ein weiterer Tag der Trauer und der Wut angesichts einer immer weiter eskalierenden Brutalisierung und Militarisierung des EU-Grenzregimes.
Nur wenige Wochen vor diesem Grenzverbrechen hatte ein Netzwerktreffen des Alarm Phone in Marokko stattgefunden, massgeblich organisiert von den subsaharischen Mitgliedern des transnationalen Seenotrettungs-Projektes. Nachfolgend dokumentieren wir Ausschnitte aus der Chat-Kommunikation zwischen europäischen und afrikanischen Aktivist:innen in den Tagen nach den rassistischen Morden.

"Liebe alle,
In diesen Tagen sind wir in Gedanken bei Euch allen. Angesichts der Bilder von schwer verwundeten und sterbenden Menschen, die von der Polizei bewacht werden, ohne dass man sich um ihre Würde und ihr Leben schert, suchen wir immer noch nach Worten. Jetzt wenn wir Euch schreiben, haben wohl mindestens 31 junge Menschen ihr Leben verloren, und wir befürchten, dass die Zahl von Stunde zu Stunde weiter steigen könnte. Sie wurden durch den mörderischen Zaun getötet, durch eine immer brutalere und militarisierte Polizei auf beiden Seiten des Zauns und durch eine immer militarisiertere europäische Politik, die unsere Brüder und Schwestern wie eine Invasion in Kriegszeiten behandelt.
Uns fehlen immer noch die Worte und wir versuchen immer noch, eine Sprache zu finden, um diese tiefe Verwundung auszudrücken. Was wir aber bereits wissen, ist, dass es tiefe Trauer und auch starke Wut gibt. Wir werden den Kampf fortsetzen - letztlich auch für unser Recht auf Freundschaft und Kommunikation über alle erzwungeneTrennungen hinweg. Heute sind wir in Gedanken bei Euch allen. Wir hoffen, dass wir bald die Zeit finden werden, um darüber zu sprechen, was als Antwort nötig ist. Heute wollen wir nur sagen: Wir sind bei Euch, bei den Überlebenden, bei den Familien und Freundinnen und Freunden derer, die ihr Leben verloren haben. Wir werden sie in all den kommenden Kämpfen in unserem Gedächtnis bewahren. May they rest in power and peace".

Antwort aus Nador: „Ich bin hier und es ist so furchtbar. Seit Freitag bis jetzt, wo ich mit Dir spreche gibt es keinerlei Sicherheit mehr für uns. Ich muss mich wie viele andere verstecken. Es sind so viele, die ihr Leben verloren haben, so viele... viele sind noch in den Krankenhäusern. Es sind so viele Ermordete. Wir wissen noch immer nicht, wie viele es sind und wir kennen noch nicht ihre Namen. Wir müssen Ruhe bewahren und werden erst mit der Zeit die ganze Wahrheit herausfinden können. Wir werden eine eigene Recherche machen müssen in den Communities. Es werden viele unterschiedliche Berichte weitergegeben. Es war ein sehr sehr massiver Angriff, die marokkanische Polizei schien darauf vorbereitet zu sein, diesen Sturm auf den Zaun mit massiver Gewalt zurückzuschlagen. Sehr vorbereitet und am Ende sind so viele dabei getötet worden. Wir müssen davon ausgehen, dass man auf sie geschossen hat. Aber wie es genau abgelaufen ist, wissen wir weiterhin nicht. Es gab auch Verhaftungen von noch nicht bekannter Zahl und offenbar soll es schnelle Verurteilungen geben. Es wird Zeit brauchen, bis wir das Ausmaß verstehen. Es sind viele Tote, viel zu viele Tote."

Antwort aus Berkane: „Es ist so furchtbar. Es kamen verwundete Überlebende in Berkane an, aber sie stehen noch unter Schock. Sie sagen, sie haben mehr als 30 Tote gesehen. Wir versuchen zu verstehen, was passiert ist. Es ist ein Schock. Ich kann Dir nur sagen, dass es so ungaublich furchtbar ist."

Antwort aus Tanger: „Diese Gräueltaten, die an subsaharischen Migranten begangen werden, indem man mit scharfer Munition auf sie schießt wie auf wilde Tiere, zeigen, dass Marokko weit davon entfernt ist, ein Land zu sein, das Menschen in der Migration respektiert. Marokko hat die Konventionen zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert, und sich damit dazu verpflichtet auch unsere Rechte zu achten. Der vergangene Freitag zeigt, dass wir davon sehr weit entfernt sind. Es lebe die Bewegungsfreiheit!"

Antwort aus Laayoune: "Seit vorgestern erleben wir sehr schwere Momente, die uns schmerzen, wenn wir an unsere Brüder denken und sie vor uns sehen, wie sie losgingen und hofften, Frieden und Glück, auf der anderen Seite des Zaunes zu finden und leider ist es das Gegenteil... Unsere Tränen werden nicht trocknen, bis wir alle, die ihr Leben verloren haben, identifiziert haben und sie würdig begraben können."

Antwort aus Dakar: "Mein Herz ist wirklich gebrochen und ich bin niedergedrückt von diesen Bildern. Ich danke Euch allen, die mit dem schrecklichen Schmerz über den Verlustes unserer Brüder mit den Familien der Opfer fühlen. Im Senegal hat sich kein Fernsehsender für diese Nachricht interessiert. Zwei verschiedene Anmeldungen für ein Sit-In vor der marokkanischen Botschaft in Dakar wurden durch die senegalesischen Behörden verboten. Ein eisernes Schweigen."

Antwort aus Casablanca: "Eure Worte enthalten eine Botschaft der Freundschaft, die uns ein wenig erleichtert in diesem Schmerz und uns Hoffnung gibt. Wir halten sie tief in uns fest diese Hoffnung, im Namen der Freundschaft und im Namen dieses gemeinsamen Kampfes, der uns alle herausfordert. Aber auch im Namen aller unveräußerlichen Rechte der Menschen, ob sie nun schwarz, gelb oder weiß sind. Wir haben das Glück, weiter von einer besseren Welt träumen und darum kämpfen zu dürfen, um eine Welt ohne Grenzen zwischen den Menschen und mit viel Wärme und Brüderlichkeit. Es lebe die Bewegungsfreiheit und die unveräußerlichen Rechte. Eure Worte werden wir mit vielen unserer Freunden teilen, die seit Jahrzehnten um ihre Verwandten trauern, die brutal misshandelt wurden und an diesen schrecklichen Grenzen starben, die so sichtbar tödlich und damit so beängstigend sind. Und dennoch: Wir leben!"

Mit solidarischen Grüßen,
das Kompass-Team