Österreich - 30.07.2022 - von Puks 24 Redaktion
Der Tod der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr sorgt für große Bestürzung. Wir möchten an sie erinnern. Denn die Würdigung von Kellermayrs Leben und Wirken droht zwischen der unfassbaren Häme auf Telegram und der billigen Instrumentalisierung auf Twitter und Facebook unterzugehen.
Wir sind tief erschüttert vom Tod der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr. Es steht uns nicht zu, über die Umstände ihres Todes zu spekulieren, aber wir dürfen uns davon nicht abhalten lassen, über ihr Leben zu sprechen: wie viel sie im Kampf gegen Covid leistete, wie sie zum Ziel rechtsextremen Terrors wurde - und wie Behörden und Politik sie in einem beispiellosen Versagen alleine ließen.
Lisa-Maria Kellermayr drängte nicht an die Öffentlichkeit
Entgegen der öffentlichen Kommentare von Polizei bis Ärztekammer suchte Lisa-Maria Kellermayr die Öffentlichkeit nicht, wenn es nicht notwendig war. Bis zur Pandemie trat sie öffentlich nie auf. Ihr Twitter-Konto, das sie seit 2011 betrieb, hatte ausschließlich ein privates Vergnügen zum Thema: die Sendungen von Joko und Klaas. Sie kommentierte in der Fan-Bubble und fuhr mit Leidenschaft zu den Shows. Für März 2020 hatte sie sich Urlaub genommen, um in München bei fünf Aufzeichnungen von "Joko&Klaas vs. ProSieben" dabei zu sein. Das Virus machte einen Strich durch die Rechnung - und änderte den Kurs ihres Lebens.
Eine herausragende Heldin der Pandemiebekämpfung
Lisa-Maria Kellermayr, damals in einer Reha-Klinik tätig, stieg im März 2020 mit voller Kraft in die Pandemiebekämpfung ein. Sie fühlte sich als junge Ärztin ohne Betreuungspflichten dazu berufen und verpflichtet. Sie übernahm Dienste des "Hausärztlichen Notdienstes": Mit einem Rettungswagen und wechselnden Sanitätern an ihrer Seite fuhr sie oft zwei bis drei Stunden in eine Richtung quer durch das Bundesland zu Patienten, maß Sauerstoffsättigung und half mit Medikamenten und Rat. Sie informierte Kolleg:innen über ihre Erfahrungen und gab Tipps für den Krankheitsfall. Zu oft arbeitete sie weit über 12 Stunden am Tag und Wochenenden durch. Die meiste Zeit war sie die einzige Hausärztin in ganz Oberösterreich, die Hausbesuche durchführte.
In der Herbstwelle 2020 kämpfte sie um Krankenhausplätze für die schweren Fälle und fand immer öfter keinen mehr. Sie rettete viele Leben, und sie sah Patient:innen sterben, darunter junge, bis dahin gesunde Menschen. Zu dieser Zeit begannen wir, stundenlange Telefonate zu führen. Sie durfte zwar - wie die meisten im Gesundheitswesen - nicht offiziell Stellung beziehen, aber sie war eine unschätzbare Quelle zur Behandlung von Covid und den fatalen Fehlern in der Pandemiebekämpfung.
Oktober, November, Dezember 2020 arbeitet sie durch. Die Weihnachtsferien 2020 arbeitet sie durch. "Nach 92 Stunden Arbeit in den letzten 9 Tagen kann ich heute mal mein Schlafdefizit aufholen vor den nächsten 5 Tagen mit 60 Stunden im Covid-Dienst. Da blieb keine Zeit, Weihnachten zu feiern. Da bleibt keine Zeit zum Skifahren. Und Silvester? Keine Zeit", twittert sie am 28. Dezember.
Als sie im März im Hausärztlichen Notdienst aufhört, hat sie in 91 Diensten 1.370 Patienten behandelt, über 600 davon in den sechs Wochen der Herbstwelle. "Maximale Visiten in einem Dienst: 17", schreibt sie damals. Kaum hatte sie aufgehört, macht sie weiter: diesmal als Impfärztin.
Aufklärung als Teil ihrer Aufgabe
Im Frühling 2021 verwirklichte sie sich einen langjährigen Traum und bereitet die Eröffnung einer eigenen Praxis am Attersee vor. "Jetzt werde ich also Landärztin. Quasi Bergdoktor bei Wish bestellt", scherzt sie auf Twitter. Befreit von den Richtlinien im öffentlichen Dienst, spricht sie auch öffentlich über ihre Erfahrungen mit über 1.000 Covid-Patienten, rät zur Impfung - und hält sich auch mit Kritik am Pandemie-Management nicht mehr zurück.
Wie viele andere macht sie die Erfahrung, dass sie als junge Frau wenig ernst genommen wird, doch sie lässt sich davon nicht bremsen. Und sie hat Kraft: im öffentlichen Auftritt (oft bei uns auf PULS 24 und Puls 4), beim Aufbau ihrer Praxis und privat. Im Sommer 2021 läuft sie in Berlin einen Halbmarathon.
Wir müssen es benennen: Es war Terror
Einzelne Hasskommentare und Morddrohungen begleiten sie als Covid- und Impfärztin seit Beginn der Pandemie. Kellermayr ist keine labile Person, sie nimmt die Postings und E-Mails mit Schulterzucken und Humor. Im November 2021 dreht sich die Lage, und ab da wird ihr Leben zur Hölle.
Hasskommentare kennen alle, die in der Öffentlichkeit stehen, auch die eine oder andere verwirrte Morddrohung. Zu viele rieten ihr, das einfach abzuschütteln. Was Kellermayr widerfuhr - und auch viele von uns zu spät verstanden - war etwas anderes: Eine organisierte Gruppe hatte sich vorgenommen, sie zu vernichten. Das ist gezielter Terror.
Man muss Mord-Drohungen aus einer Szene, die schon bewiesen hat, dass sie mordet, ernst nehmen: Sicherheitsmaßnahmen ergreifen, auf der Hut sein, jeden Weg überdenken. Psychische Gewalt IST Gewalt. Schon wenn sie wenige Tage andauert, hinterlässt sie Spuren und schafft offene Wunden. Wenn sie länger dauert, vernichtet sie. Das ist das Ziel.
Am Beginn des Terrors stand ein Tweet der Polizei
Lisa-Maria Kellermayr gerät eher zufällig in das Visier einer Szene, die ein Ziel für ihren Hass sucht. Am 16. November 2021 demonstrieren Impfgegner vor dem Krankenhaus Wels-Grieskirchen. Kellermayr teilt ein Video und schreibt: "Heute in Wels: Eine Demo der Verschwörungstheoretiker verlässt den Pfad unter den Augen von Behörden und blockiert sowohl den Haupteingang zum Klinikum als auch die Rettungsausfahrt des Roten Kreuzes."
Das ist nicht falsch - auch wenn das Krankenhaus später klarstellt, dass die Rettung die Straße in die andere Richtung nützen konnte und der Zugang zum Krankenhaus möglich war. Doch die Polizei antwortet ihr mit einem Tweet, in dem sie von "Falschmeldung" spricht. Darunter beginnen üble Beschimpfungen. Kellermayrs Tweet mit der Antwort der Polizei geht in den einschlägigen Telegram-Gruppen viral. Eine Flut an Hass bricht über die Ärztin herein.
Es ist der erste Kontakt Kellermayrs mit der Polizei Oberösterreichs, und er bleibt beispielhaft. Kellermayr löscht ihren Tweet und bittet die Polizei, zunächst persönlich und dann öffentlich, ihre Antwort ebenfalls zu löschen: "Dieser Tweet ist Grundlage für eine Flut an Beschimpfungen, Verleumdungen, Drohungen und größte Anstrengungen von Anhängern der Szene, mir größtmöglichen Schaden zuzufügen. Er dient als Begründung, mich eine Lügnerin zu nennen, eine Hexe." Die Polizei reagiert nicht. Der Tweet wurde bis heute nicht gelöscht.
Gejagt und alleine gelassen
Ab dem Tag wird Kellermayr gejagt und dabei alleine gelassen - online, aber auch in ihrer Praxis, die sie im November eröffnet hat. Sie berichtet von Patienten, die sie nur aufsuchen, um den Ordinationsbetrieb zu stören, die sie mit dem Handy aufnehmen und Schnipsel davon in Impfgegner-Kreisen verbreiten. Besonders belastend sind Nachrichten eines Mannes, der sich Claas nennt, und der detailreich schildert, wie er sie und ihre Mitarbeiter:innen in ihrer Praxis foltern und ermorden wird.
Trotz dieser expliziten Drohungen bekommt sie keinen Polizeischutz. Sie muss selbst für ihre Sicherheit und die ihrer Mitarbeiter:innen sorgen. Sie baut ihre Praxis um, richtet einen Panikraum ein, stellt Security ein. Die Kosten muss sie selbst tragen. Sie werden sich auf 100.000 Euro summieren. Mehrmals nimmt der Sicherheitsmann Patienten, die zu ihr kommen, Butterfly-Messer ab.
Auch Menschen, die geübt im Umgang mit Anfeindungen sind, knicken unter dem Terror von Rechtsextremen und Impfgegnern ein und ziehen sich aus der Öffentlichkeit zurück - darunter bereits zwei Gesundheitsminister. Kellermayr tut das nicht, sie veröffentlicht die Drohungen und klärt weiter über Impfungen und Covid auf. Doch die Frau, die zwei Jahre ihres Lebens für die Bekämpfung der Pandemie geopfert hat, bekommt keine Unterstützung gegen die, die sie genau deshalb verfolgen.
Kein zufälliges Versagen, sondern bewusste Entscheidung, nicht einzugreifen
Die Polizei gewährt nicht nur keinen Schutz, sie ermittelt offenbar auch kaum. Man begnügt sich damit, mitzuteilen, die anonymen Täter seien nicht auffindbar und ohnehin sei wohl Deutschland zuständig. Kellermayr wendet sich verzweifelt an Dutzende Menschen mit der Bitte, Kontakt zu Bundespolizeistellen und Verfassungsschutz herzustellen. Viele von uns führen stundenlange Telefonate mit ihr. Sie suchte aktiv Hilfe, und deshalb wusste auch jeder, der mit ihr zu tun hatte, wie bedrohlich die Lage war und wie stark sie unter Druck stand.
Die Polizei Oberösterreich überdenkt ihr Verhalten nicht, sondern gibt dem Opfer die Schuld: "Insgesamt wurde zunehmend der Eindruck gewonnen, dass Frau Dr. Kellermayr sich über verschiedene Schienen bemüht, die öffentliche Wahrnehmung ihrer Person zu erweitern, indem sie Druck auf die Ermittlungsbehörden ausübt", steht im Polizeiakt.
Am 27. Juni gibt Kellermayr bekannt, dass sie ihre Praxis vorübergehend schließen muss. Die Lage ist für die Mitarbeiter:innen untragbar, die Kosten für die Sicherheit nicht mehr zu stemmen.
Jene, in deren Macht es stünde, sie zu unterstützen, zeigen keine Solidarität. Im Gegenteil: Der Sprecher der Polizei Oberösterreich sagt im Ö1-Mittagsjournal, Kellermayr würde sich "in die Öffentlichkeit drängen, um ihr Fortkommen zu fördern" und rät ihr, sich psychologische Hilfe suchen und in den sozialen Medien weniger aktiv sein. Ihre eigene Standesvertretung - die Ärztekammer Oberösterreich - tut im "Standard" dasselbe: "Ich sehe ein, dass man sich wehren muss, aber es ist eine andere Frage, ob man sich bei jedem Thema auf Twitter exzessiv zu Wort melden muss." Manchmal sei es besser, man ziehe sich zurück. Kellermayrs Vize-Kurienobmann Ziegler richtet in den "Oberösterreichischen Nachrichten" aus: Sollte die Kassenstelle in Seewalchen frei werden, werde sie schnell besetzt werden.
Der Psychoterror hat das Ziel, die Ärztin aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. Polizei und Standesvertretung machen dabei mit. Die Politik greift nicht ein.
Gefangen in der geschlossenen Praxis
Kellermayr hat die Praxis geschlossen, aber sie ist darin gefangen. Die Drohungen gehen weiter. Im Juli traut sie sich nicht mehr, in ihrer Wohnung zu übernachten und geht nur selten und zu unregelmäßigen Zeiten einkaufen. Ihre Welt schrumpft auf den gesicherten Praxisraum und die Teeküche.
Sie schöpft in diesen vier Wochen noch ein paar Mal Hoffnung: Eine deutsche Cybersecurity-Spezialistin bietet ihre Hilfe an und findet in wenigen Stunden Spuren zu mutmaßlichen Tätern. Die Polizei kommentiert das als "nicht nachvollziehbar", obwohl der "Standard" - ebenfalls ausschließlich auf Grundlage der Drohmails - zu den selben Schlüssen kommt. Der Verfassungsschutz meldet sich endlich bei ihr. Die Ärztekammer will sie dabei unterstützen, den Konkurs zu vermeiden. Am 7. Juli kündigt sie an, die Praxis bald wieder öffnen zu wollen.
Doch die Pläne zerschlagen sich: "Es tut mir leid. Ich habe alles getan, was ich konnte, aber es hat nicht gereicht. Die Ordination wird nicht wieder aufsperren. Nach einem langen Gespräch des ganzen Teams ist klar geworden, dass ein Teil davon nicht wieder zurückkommen wird. Es war alles zu viel. Ich habe die Reißleine zu spät gezogen. Und ich kann ihnen keine Perspektive bieten, ob oder wann es für uns möglich sein wird, unter `normalen` Umständen zu arbeiten. Solche Arbeitsbedingungen, wie wir sie die letzten Monate erlebt haben, sind niemandem zuzumuten. Ich kann nicht mehr sagen, als dass es mit leid tut", twittert sie am 13. Juli.
Auch in den Tagen danach bleibt sie aktiv, sucht Hilfe, klärt auf. Den Sommer wollte sie nützen, um in Costa Rica oder auf einer Berghütte Energie zu tanken. Dazu ist es nicht mehr gekommen.
Zwei Tage vor ihrem Tod kritisiert sie die Aufhebung der Quarantäne. Am 29. Juli wird sie tot in ihrer Praxis aufgefunden. Fremdverschulden wird ausgeschlossen.
Dieser Fall muss Konsequenzen haben!
Viele Menschen haben in den letzten Wochen viele Stunden lang mit Lisa-Maria Kellermayr telefoniert. Jedem einzelnen davon ist klar: Hier wurde eine Heldin der Pandemie einem digitalen und leider auch sehr realen Lynchmob ausgeliefert und alleine gelassen. Die notwendige Zurückhaltung beim Berichten über die Todesumstände darf nicht dazu führen, dass der Fall nun bequem ad acta gelegt wird. Die Versuche dazu sind schon da. Die Polizei Oberösterreich etwa weist nun jede Kritik von sich und sagt "man habe alles getan, was möglich ist", sowohl was Sicherheit als auch was die Ermittlungen betreffe. Das ist blanker Hohn angesichts der Tatsache, dass Kellermayr bis zuletzt keinen Polizeischutz bekam.
Das ist nicht akzeptabel. Der Fall von Lisa-Maria Kellermayr muss aufgearbeitet werden, alles andere wäre ein fatales Zeichen in Richtung all jener, die trotz Anfeindungen weiter im Sinne der Wissenschaft gegen Falschmeldungen und Hetze ankämpfen. Es braucht eine starke Politik, die nicht dem rechtsradikalen, wissenschaftsfeindlichen Mob die Hand reicht, sondern sich um jene kümmert, die dagegen kämpfen.
Behörden, Politik und Gesellschaft müssen anerkennen, dass man es hier nicht mit "Wutbürgern" und aufgebrachten "ganz normalen Menschen" zu tun hat, sondern mit organisiertem Terror, der gezielt Personen ins Visier nimmt und aus der Öffentlichkeit (und leider auch aus dem Leben) schießt. Und jeder, der sich öffentlich äußert - Gesundheitspersonal, Wissenschaft, Politik, aber auch einzelne Menschen - kann zum Ziel werden.
Dieser Fall wird leider nicht der letzte bleiben. Das Thema mag sich ändern, von Covid auf Energie oder Migration - die Strukturen, die solche Terrorfeldzüge führen, sind aber geschaffen und bleiben. Wir brauchen Richtlinien im Umgang mit ihnen und im Umgang mit ihren Opfern, damit diese nicht mehr an den Behörden scheitern wie Lisa-Maria Kellermayr.
Das gilt auch für uns Medien: Wir haben Richtlinien für die Berichterstattung von Terror - wir haben keine für den medialen und persönlichen Umgang mit den Betroffenen, die sich an uns wenden und deren Geschichte wir genau kennen.
Opfer zu sein war nicht ihr Leben
Die Impfgegner und Rechtsextremen haben ihr Ziel erreicht: In den letzten Monaten drehte sich das gesamte Leben von Lisa-Maria Kellermayr um die Drohungen, die Übergriffe und den Terror. Es würde ihr nicht gerecht, wenn auch ihr Andenken nur davon bestimmt würde. Lisa-Maria Kellermayr wurde 36 Jahre alt, der Hass bestimmte nur ein halbes Jahr davon.
Sie war eine engagierte, lustige, lebensfrohe Frau mit vielen Interessen und eine leidenschaftliche Ärztin. Sie war mutig, witzig und redete länger und schneller als irgendein Mensch, den wir kannten. Sie stellte ihr Leben ganz in den Dienst der Pandemie-Bekämpfung und bekam dafür wenig Dank.
Wir wollen sie so in Erinnerung behalten: mit ihrer unermüdlichen Energie, ihrem Verantwortungsbewusstsein und ihrem unbeugsamen Willen, die Dinge besser zu machen. Wir werden nicht aufhören, in ihrem Sinne nachzufragen.
Danke für Ihren Einsatz, Frau Dr. Kellermayr.
Corinna Milborn, Magdalena Punz
im Namen aller in der PULS 24 Redaktion, die mit Dr. Kellermayr gearbeitet haben
siehe: Link
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