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Stefan Streit: Wer Triage will, muss bis zum Äußersten gehen wollen

Foto: H.S.

05.09.2022 - von Stefan Streit

Die Diskussion über die Triage aktualisiert die Frage, ob wir Ärzte tatsächlich dem Leben oder doch eher der Gesundheit verpflichtet sind. Das Ergebnis vorab: Der Ansatz, Ärzte seien immer zuerst dem Erhalt des Lebens verpflichtet, wird sich als romantisch herausstellen. Die sozialen Übereinkünfte zur Abtreibung, zur Palliativmedizin, zur Patientenverfügung, zur Transplantationsmedizin und zum assistierten Suizid legitimieren sich über Gesundheit. Ärzte können über mehr Gesundheit die Voraussetzungen für Leben verbessern. Mehr Gesundheit muss aber nicht mit längerem Leben einhergehen.

Ausgerechnet in der Grenzzone zwischen Leben und Tod erweitert sich gerade ein weiteres Mal der Gesundheitsbegriff. Ausgerechnet die Triagediskussion macht diese Entwicklung unübersehbar und damit unabweisbar. Faszinierend!

Neben diesen konzeptionellen Fragen, lege ich einen politisch-juristischen Pflichtenkatalog für die zukünftige Medizin in der Grenzzone zwischen Leben und Tod vor. Denn außer der direkten, ärztlichen Triageentscheidung, welcher von zwei Patienten länger leben darf, stellen sich weitere knifflige Fragen: z.B. triagieren wir hirntote Patienten gegen hirngesunde Patienten oder wer stirbt als Organspender und wer bekommt dessen Organe als Organempfänger?
Durch die Triagediskussion - egal wie sie ausgeht - kommt man am Ende an der spannenden Frage, wie Gesundheit von Patienten und Ärzten gegeneinander abgewogen werden wird, nicht mehr vorbei. Wie gesagt, wer Triage will, muss bereit sein bis zum Äußersten zu gehen.

Stefan Streit, Köln
Therapieevaluation, Therapiezieländerung und Indikationsstellung
Grenzzonen zwischen Leben und Tod: Triage, Abtreibung, Palliativmedizin, Patientenverfügung, ärztlich-assistierter Suizid und Organtransplantation


Wenn ein Jurist in einer Zeitung erklärt, auf Intensivstationen werde doch eigentlich schon immer triagiert, weil man doch „schon immer Therapieentscheidungen an neue Gegebenheiten angepasst“ habe, dann ist das eine Sache. (1) Wenn allerdings ein Arzt öffentlich behauptet, es gäbe keinen Unterschied zwischen der Einschätzung der Überlebenschance eines Patienten und der Einschätzung welcher von zwei Patienten die besseren Chancen hätte, dann irritiert das. (2) Lässt man sich auf Triage ein, dann lässt man sich auf ein neues Paradigma ein. Wer das unterschlägt und kleinredet, verneint einen Konzeptwechsel von großer sozialer Tragweite.

Hier Auszüge aus dem Originaltext:
ärztliche Aussage eins: >> Wer in diesem Zusammenhang den Vorwurf erhebe, eine Ex-Post-Triage sei als aktive Handlung oder gar als Tötungsdelikt einzustufen, „verkennt oder ignoriert, dass Ärzte jede Therapie darauf hin reevaluieren müssen, ob der Patient noch davon profitiert. Das ist insbesondere in der Intensivmedizin der Fall – beinahe täglich.“<< (2)
ärztliche Aussage zwei: >>Wenn „die Intensivtherapie aber nicht erfolgreich sei und sich die Krankheitssituation eines Patienten immer weiter verschlechtere, müsse es „die Option einer Therapiezieländerung in Richtung palliativmedizinischer Behandlung geben.<< (2)
ärztliche Aussage drei: „Denn letztlich besteht ohne eine realistische Chance für ein Überleben auch keine Indikation mehr für die Intensivtherapie.“ (2)
Die Aussagen zwei und drei gehen natürlich klar. Aber Aussage eins ist nicht haltbar.

Therapieevaluation, Therapiezieländerung und Indikationsstellung sind Begriffe der
Intensivmedizin, wenn Ärzte über einen einzelnen Patienten nachdenken. Begrenzte Ressourcen
sind da erst mal kein Thema. Sie können es natürlich werden, beispielsweise wenn die Indikation für ein Reserveantibiotikum gestellt wird und dieses aber nicht lieferbar ist. Oder eben kein Bett auf der Intensivstation mehr frei ist. Das ändert allerdings erst mal nichts an der Indikation, am Therapieziel oder daran, dass man den erwarteten Effekt der geplanten Maßnahme - und wenn hier die Mittel fehlen - den Effekt der Ersatzmaßnahme evaluiert. Allerdings galt es bisher als Teil der ärztlichen Kunst, Ressourcenfragen nicht von vorne herein in Therapieevaluation, Therapiezieländerung und Indikationsstellung einfließen zu lassen.

Die Abschirmung der Patienten vor dem alltäglichen Mangel an Arztzeit gilt ganz selbstverständlich für den ärztlichen Einsatz auf der Intensivstation. Ärzte, die gerade ihre Zeit auf der Intensivstation absolvieren, gehen nicht immer pünktlich nach Hause. Sie bleiben länger, weil sie ein Therapieziel für ihre Patienten vor Augen haben, die Indikation für bestimmte Maßnahmen gestellt haben und nach der Evaluation der vorangegangen Maßnahmen zum Schluss gekommen sind, dass die vorangegangen Maßnahmen nicht ausreichen. Also bleiben sie für ihre Patienten auf der Arbeit, nicht selten ohne jeden Ausgleich in Form von Freizeit oder Vergütung. Bliebe man im oben gezeichneten Bild, wann Triage statthaft sein könnte, dann hinge bereits hier Therapieevaluation, Therapieevaluation, Therapiezieländerung und Indikationsstellung davon ab, wie viel Zeit noch bis zum planmäßigen Dienstende des Arztes zur Verfügung steht. Das ist meines Wissens nicht der Fall. Intensivmediziner erkennt man nicht selten an den Ringen unter den Augen oder daran, dass sie eine Party früh verlassen.

Bisher evaluieren Ärzte den Erfolg einer bestimmten Therapie für einen bestimmten Patienten. Zu einer Therapiezieländerung, von kurativ auf palliativ kommt es, weil der Patient eine Patientenverfügung hat und weil bei diesem Patienten Krankheitsumstände eingetreten sind, die das Wirksamwerden dieser Verfügung begründen. Selbst wenn der Patient keine Patientenverfügung verfasste, aber keine Chance für ein Überleben mehr gegeben sind, ergibt sich irgendwann keine Indikation mehr für weitere Maßnahmen. Die Indikation für eine Therapie ergibt sich immer nur dann, wenn man davon ausgeht, dass eine Therapie besser ist als Nichtstun. Das klingt trivial, ist es aber nicht. Vor allem ist die Frage der Indikation nicht nur bei der nachgelagerten juristischen Beurteilung, sondern bereits während der konkreten ärztlichen Behandlungsentscheidung, ein mächtiger Hebel.

Nur Therapieevaluation, Therapiezieländerung und Indikationsstellung rechtfertigen beispielsweise auch die ärztliche Suizidassistenz, weil der Patient das Therapieziel von
kurativ bzw. palliativ auf Lebensbeendigung ändert. Das Bundesverfassungsgericht hat hier die Rolle des Patienten bei der Festlegung des Therapieziels gestärkt. (3) Insofern wird es künftig Suizidassistenz geben.

Ein ärztlich-assistierter Suizid kann nur über eine Indikationsstellung legitimiert werden, wie jede andere ärztliche Maßnahme auch. An dieser Stelle kommt man zwangsläufig dazu ein grundsätzliches Missverständnis zu klären. Ärzte sind in erster Linie der Gesundheit ihrer Patienten verpflichtet. Stünde der Schutz des Lebens an erster Stelle der ärztlichen
Aufgaben, wäre der Palliativmedizin die Grundlage entzogen, Abtreibungen könnten von Ärzten
nicht durchgeführt werden und jede Triage wäre unter allen Umständen und grundsätzlich
abzulehnen. Sedierung unter Inkaufnahme eines vorzeitigen Todes, im Rahmen eines
palliativmedizinischen Gesamtkonzepts sorgt für mehr Gesundheit in der verbleibenden Lebenszeit beim Patienten, die Beendigung oder Begrenzung therapeutischer Maßnahmen nach dem Wirksamwerden einer Patientenverfügung ebenfalls. Gesundheit umfasst sehr viel mehr als
körperliche Unversehrtheit!

Das gleiche gilt für den ärztlich-assistierten Suizid, der zwar zu guter Letzt das Patientenleben beendet, aber das vorher noch verbleibende Leben für den Patienten von
seiner Hoffnungslosigkeit befreit. Insofern sorgt ein indizierter, ärztlich-assistierter Suizid für mehr Gesundheit, aber nicht für längeres Leben. Es bleibt die Frage offen, ob Rechtsprechung, Politik und Zivilgesellschaft der Meinung sind, dass bei der Suizidassistenz ein Arzt beteiligt sein soll oder nicht. Ohne Arzt findet Suizidassistenz ohne Indikation statt. Denn Diagnosen und Indikationen stellen nur Ärzte. Allein die Indikationsstellung in Abhängigkeit von Diagnose und Therapieziel legitimiert als Verfahren (Niklas Luhmann: „Legitimation durch Verfahren“!) Prozeduren wie Abtreibung, Beendigung der Therapie auf Basis der Patientenverfügung, Palliativmedizin und - wie wir weiter unten noch sehen werden, auch die Transplantationsmedizin - und zukünftig die ärztliche
Suizidassistenz. (Die immer wieder vorgebrachte Frage der Gewerblichkeit bei der Suizidassistenz ist eine Nebelkerze in dieser Diskussion, die die eigentlich drängenden Fragen unsichtbar macht.(3)

Bei der Triage hilft uns das Konzept der Indikationsstellung bisher nicht weiter, da wir
gegenwärtig noch ohne legitimes Verfahren dastehen. Denn, und da gibt es derzeit keine Verhandlungsmasse, ärztliche Therapieevaluation, Therapiezieländerung sowie die Indikationsstellung beziehen sich immer nur auf einen Patienten.

Das möchten nun manche Juristen und einige Ärzte offensichtlich ändern. In deren Argumentation gehört Ressourcenmangel als ein Normalzustand zu jeder ärztlichen Behandlung mit dazu. Was hier als pragmatische Vorsorge zur Pandemiebewältigung verkauft wird, ist nicht mehr und nicht weniger als ein Paradigmenwechsel, auch für das ärztliche Selbstverständnis. Nur dann, wenn man dieses neue Paradigma, und damit das neue ärztliche Selbstverständnis akzeptiert, kann man die Aussage, Triage würde in der Intensivmedizin auch heute schon permanent stattfinden, verstehen.

Zukünftig soll es also so sein, dass Ressourcenmangel von Anfang an in ärztliche Überlegungen zur Therapieevaluation, Therapiezieländerung und Indikationsstellung einfließt. Das bedeutet die Konkurrenz zweier Patienten um einen Beatmungsplatz, um ein Reserveantibiotikum oder um die Arztminute, gilt von nun an als das neue Normal. So ist zu erwarten, dass zukünftig, regelmäßig Realität (volks- und betriebswirtschaftlich!) kalkuliert und modelliert wird, in denen Ärzte entscheiden müssen, wer stirbt und wer überlebt.

Lässt man sich auf dieses neue Paradigma ein, dann erwartet man von den Ärzten, dass sie auf Zuruf die bürgerliche Zivilgesellschaft verlassen.
Triageärzte disqualifizieren sich nicht mehr als Mitglieder der Zivilgesellschaft, weil sie das Versprechen des Verzichts auf Gewaltanwendung nicht mehr einlösen können. Dieses Versprechen gilt aber als Grundlage eines jeden zivilgesellschaftlichen, friedlichen Zusammenlebens. Dieser erwartete Rollenwechsel entspricht dem des Soldaten der in den Krieg zieht. Natürlich betrachten wir kämpfende Soldaten im Krieg nicht als Mörder, aber Teil der Zivilgesellschaft sind diese kämpfenden Soldaten auf keinen Fall.

Wir alle, auch wir Ärzte, müssen uns jetzt, also heute, also vorher, fragen welchen Einsatz wir für erforderlich halten, um die eigene bürgerliche Existenz vor dem Abgleiten in einen schützengrabenähnlichen Zustand zu verhindern.

Unter dem neuen Paradigma der Triage erfährt das Arztbild einen dramatischen Wandel. Nicht alle die Arzt werden wollen, wollen auch Soldat werden. Dieses neue Paradigma entscheidet zukünftig auch darüber, wer als Arzt in der Patientenbehandlung arbeiten will. Es gilt darüber nachzudenken, welches Signal hier gerade für die jungen Ärzte entsteht. Denn davon wird abhängen, ob sich jungen Ärzte zukünftig überhaupt noch bereitfinden in der Patientenbehandlung zu arbeiten.
(An dieser Stelle schon einmal ein Spoiler für die STREITSCHRIFT #13. Dort werden Sie nachlesen können, wie dünn der Nachwuchsast, auf dem die Patientenbehandlung heute sitzt, ist. Dort wird Triage aus der Sicht der Arztgesundheit betrachtet: Wieviel Arbeit kann ein Arzt aushalten?)

Als Gesellschaft müssen wir entscheiden, wann die Zumutung der Triage unabwendbar erscheint. Meines Erachtens kann das nur der Fall sein, wenn wir als ganze Gesellschaft glauben, die Gemeinschaft könnte keine weiteren Ressourcen mehr mobilisieren. Dann findet Triage im Ausnahmezustand statt, analog zum Kriegszusstand, in dem nicht jede Tötung ein Mord ist. Bei einem glaubhaften Kampf einer gesamten Gesellschaft gegen ein Schicksal kann Triage unabwendbar werden! Für diesen Fall brauchen wir ein Verfahren welches Triage legitimiert. Das erfordert eine Evaluation der Umstände, eine Indikation für den Wechsel des Therapieziels von Daseinsfürsorge auf Triage legitimiert. Auch hier wird abermals sichtbar: Ärzte sind der Gesundheit verpflichtet, aber nicht dem Leben!

Lassen wir uns auf eine Triage in der Zivilgesellschaft ein, dann stellt sich die Frage, wie es um die Legitimation dieser Triage bestellt ist. Diese wird fragwürdig, wenn über Shareholder Value, Mittel aus der Daseinsfürsorge abfließen, und deshalb weniger
Intensivstationsbetten vorgehalten werden können, als ohne diesen Kapitalabfluß! Im
gegenwärtigen Paradigma der Daseinssfürsorge ringt jeder Arzt jedem einzelnen Patientenschicksal so viel wie möglich Gesundheit ab. Wenn man möchte, kann man darin einen kantisch legitimierten Weg sehen. Zukünftig soll der Arzt utilitaristisch, unter mehreren Patienten den auswählen, der mit den ihm zur Verfügung gestellten Mitteln, am wahrscheinlichsten überlebt. Es ist offensichtlich, Triage stellt ein ganz neues Paradigma da.

Szenenwechsel:
Vergessen wird in der Regel, dass eine Organexplantation ebenfalls den Wechsel des Therapieziels erfordert, nämlich von Heilung bzw. Symptomkontrolle auf die Organspende. Mit der Indikation für eine Palliativtherapie, kann die Intensivtherapie eines Patienten bis zur Feststellung seines Hirntods, legitim fortgesetzt werden. (Jedenfalls dann, wenn der Patient vorher seine Bereitschaft zur Organspende verfügte.) Danach kommt man nur über das Therapieziel Organspende zu einer neuen Indikation für die weitere intensivmedizinische Therapie des hirntoten Menschen.

Legitimiert wird die Therapie, weil nur so die Organe nicht an Sauerstoffmangel sterben, die später für mehr Gesundheit bei einem Empfänger sorgen sollen. (Der Arzt ist hier der Gesundheit des Organempfängers und nicht dem Leben des Organspenders verpflichtet, sonst wäre eine Organentnahme aus einem „nur hirntoten, aber sonst noch lebenden Körper“, aus ärztlicher Sicht undenkbar.)

Mit der Hirntoddiagnostik ergibt sich ein Verfahren, welches über die Änderung des
Therapieziels auf Organspende, die Indikation der intensivmedizinischen Weiterbehandlung des hirntoten Patient legitimiert, bis die Organe entnommen sind. Aber auch ein hirntoter Patient besetzt in der Regel einen Platz auf der Intensivstation. Im Zusammenhang mit einer Triage wirft bereits dieser Umstand schwierige Fragen auf: Darf auf einer Intensivstation Triage stattfinden, während dort gleichzeitig hirntote Organspender behandelt werden? Werden wir hirntote Organspender gegen hirnlebende Patienten triagieren? Das sind bereits schwierige Fragen.

Zukünftig kommen aber noch viel schwierigere Fragen auf uns zu: Forscher berichteten gerade von einer Maschine, mit der es im Versuch gelungen ist, Schweineorgane, nach einer Explantation für den Transport, durchgängig über Kunstblut mit Sauerstoff zu versorgen. Die Ergebnisse lesen sich beeindruckend, die Organe scheinen sich, angeschlossen an die Maschine, regelrecht zu erholen. (4)
Das ist nachzuvollziehbar, denn wenn eine Herzersatzmaschine über einen künstlichen Kreislauf Sauerstoff durch Herzen, Nieren und Lebern pumpt, dann kommen die Organe in besserem Zustand beim Empfänger an, als Spenderorgane die beim eiligen Kuriertransport in einer Kühlkiste, getaucht in eine Salzlösung, die Luft anhalten mussten.

Aus dieser Entwicklung ergeben sich bemerkenswerte Konsequenzen für unsere Diskussion der
Triage: „Ebenso denkbar ist der Einsatz in anderen Situationen nach einer temporären
Minderdurchblutung von Organen, wie nach einem Herzinfarkt.“ und „Bei der Spende nach einem
Herztod kommt je nach Entnahmeprotokoll auch eine Perfusion des ganzen Körpers zum Einsatz.
Das OrganEx-System könnte dafür möglicherweise infrage kommen.“ (4) Das kann nur so
verstanden werden, dass man davon ausgeht, diese neue Maschine könne irgendwann auch einen
ganzen Mensch z.B. nach einem Herzstillstand noch für einige Zeit am Leben halten. Derzeit
werden ganze Menschen, beim Herz- oder Lungenversagen mit einer Art Herz-Lungenmaschine,
der ECMO (Details siehe 5), auf der Intensivstation behandelt. Nicht anders funktioniert die reine Lungenersatztherapie der künstlichen Beatmung beim Lungenversagen. Sie überbrückt die Zeit, bis die Lunge wieder genesen ist. Ohne künstliche Beatmung hätte die Lunge, und mit ihr der ganze Körper, nicht die Zeit, um den einige Tage bis Wochen dauernden Prozess bis zur Selbstheilung der Lunge zu überstehen. Deshalb wird solange künstlich beatmet. Die ECMO und die „neue Maschine“ ersetzen die Funktion von Herz und Lunge.

Anders als in Europa, ist in den USA nach einem Herzinfarkt mit Herzstillstand, eine Organspende, auch ohne nachgewiesenen Hirntod erlaubt. (4) Im Zusammenhang mit der Herzersatztherapie wird es zukünftig kompliziert. Auch hier sind die Ressourcen äußert begrenzt. Was an dieser Stelle erforderlich wird, ist eine Diskussion über Indikationen und Ressourcen. Zukünftig wird nämlich entschieden werden müssen, ob es statthaft sein kann, explantierten Organe eines nicht hirntoten Patienten durch eine Maschine am Leben zu erhalten, wenn auch der Patienten selbst, nach einem Herzstillstand, so am Leben hätte erhalten werden können.

Es scheint möglich, dass in den USA noch drastischer der Geldbeutel des Patienten darüber
entscheidet, was nach einem Herzstillstand von einer Maschine am Leben erhalten wird. Wenn teure Intensivtherapie eine Frage des Geldes wird, dann könnte es sein, dass ein Patient mit viel Geld als ganzer Menschen an einer Maschine weiterlebt, während eine Maschine bei Patienten ohne Geld lediglich seine Spenderorgane am Leben erhält. Dürfen Organe durch eine Maschine am Leben erhalten werden, um sie einem anderen Patienten, der ebenfalls von einer Maschine am Leben erhalten wird, zu implantieren? Sollte der neuartige Herz-Lungenersatz mit Kunstblut zur Lebenserhaltung von Organen und von ganzen Menschen marktreif werden und wollte man auch in Europa, bei Menschen unmittelbar nach dem Herzstillstand Organe entnehmen wollen, dann wird man auf diese Fragen Antworten finden müssen.

Bei der Triage, aber auch beim Einsatz der Herz-Lungenersatztherapie entscheidet
Ressourcenmangel über Leben und Tod. Wir können uns dem neuen, utilitaristischen Paradigma
hingeben und dem Patienten mit den größten Chancen, die von einer KI ausgerechnet wurden (6), die begrenzten Ressourcen zuweisen. Verbleiben wir im gegenwärtigen Paradigma der
Daseinsfürsorge, dann werden wir uns als Gesellschaft fragen müssen, wie wir mehr Sorge dafür tragen können, damit Ressourcenmangel nicht regelmäßig Teil von Indikationsstellung,
Therapieevaluation und Therapiezieländerung wird.

Die Indikationsfrage ermöglicht über die Therapieevaluation auch weiterhin eine Therapiezieländerung, die natürlich Alltag auf der Intensivstation ist. Kommt es zur Triage, durch eine globale oder landesweite Krise, stellt das Prinzip des first-come-first-serve eine einfache und unaufwendige Maßnahme für eine transparente Nichtdiskriminierung in der Intensivmedizin da. Die Klarheit dieses Verfahrens sorgt wahrscheinlich dafür, dass insgesamt viel mehr Ressourcen als heute vorgehalten werden, damit es möglichst gar nicht zur Erschöpfung von Ressourcen kommt.

Quellen:
(1) „Wir reden über ein echtes Dilemma“ Michaela Schwinn interviewte die Direktorin am Max-
Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht Tatja Hörnle für die
Süddeutsche Zeitung vom 23.06.2022 auf Seite 6
(2) Feinschliff am Triage-Gesetz sorgt für Streit von (hom) in Ärztezeitung von 3.8.2022
(3) Link
Gutachtern-in-der-Kritik
(4) Überlebenshilfe nach Herztod von Joachim Müller-Jung in Frankfurter Allgemeine Zeitung
FAZ.NET vom 3.8.22, unter Link
ernaehrung/ueberlebenshilfe-nach-dem-herztod-wie-organex-die-organspende-revolutionieren-soll-
18219762.html?printPagedArticle=true
(5) Link
(6) Wer darf Überleben von Christina Berndt in Süddeutsche Zeitung vom 13.8.2022,Seite 12.

Therapieevaluation, Therapiezieländerung und Indikationsstellung: STREITSCHRIFT # 12 Triage reloaded ++++++ Triage das neue Paradigma ++++++ cc: Stefan Streit, Köln, 29.8.2022

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Stefan Streit: Über die Hintergründe des Gesetzes zur Triage siehe: Link

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Suizidprävention im Alter stärken. BAGSO nimmt Stellung zur Neuregelung der Suizidassistenz siehe: Link

Quelle: Stefan Streit