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ZEITENWENDE - WOHIN? Die moralische Empörungspirale als Sackgasse

Foto: H.S.

13.10.2022 - von Hans Jürgen Urban

Die meistgelesene politische Monatszeitschrift im deutschen Sprachraum, die "Blätter für deutsche und internationale Politik" veröffentliche in Heft 7/2022 einen Beitrag von Hans-Jürgen Urban. Er erkennt in der "Zeitenwende" von Kanzler Scholz mit ihren Umbrüchen und Schocks vor allem die Abrechnung einer reaktionären Politik mit den sozialen Ansprüchen der Menschen durch die reaktionären Kräfte. Der Drang nach moralischer Eindeutigkeit und das Versagen der Medien befördert seiner Meinung nach den Rückfall in ein naives Politikverständnis, das die Problemlagen nicht begreift.

ZEITENWENDE - WOHIN?
Seit geraumer Zeit ist bekannt, dass sich die Gesellschaften des Gegenwartskapitalismus in einem tiefgreifenden Umbruch befinden. Die Spezifik der historischen Situation besteht im
Aufeinandertreffen säkularer Umbrüche mit einer Serie externer Schocks. Während etwa die
Globalisierung, die Digitalisierung sowie der Klimawandel zu den großen Umbrüchen gehören,
lassen sich die Covid-19-Pandemie, massive Lieferkettenprobleme sowie der Ukraine-Krieg als
unvorhergesehene äußere Schockereignisse fassen. Aus dieser Gleichzeitigkeit gehen Probleme
hervor, die an Tiefe und Komplexität ihresgleichen suchen.
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Der Ukraine-Krieg als Exempel
Die Positionierung der deutschen Politik gegenüber dem Ukraine-Krieg kann als Beispiel einer solchen Konstellation herangezogen werden. Um dem Schockerlebnis der militärischen Aggression rhetorische Wucht zu verleihen, hat Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem Begriff der „Zeitenwende“ ein neues Paradigma in die Öffentlichkeit eingeführt. Parteiübergreifend und mit nur wenigen Ausnahmen fand dieses Zustimmung.
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Der Drang nach moralischer Eindeutigkeit
Insgesamt ist die allgegenwärtige Akzeptanz monokausaler Erklärungen verblüffend.
Insbesondere der Drang nach moralischer Eindeutigkeit befördert den Rückfall in ein naives
Geschichtsverständnis. Die Bereitschaft, sich bei komplexen Fragen mit einfachen Antworten zu begnügen, ist offenbar kein Alleinstellungsmerkmal bildungsferner Opfer des Rechtspopulismus. Auf einmal gilt auch in der politischen und medialen Elite: eine Ursache, eine Antwort. In diesem Fall: ein Aggressor, eine Rüstungsoffensive dagegen. Und Schluss.
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Der geopolitische Kontext
Einen solchen Blick auf das „Konfliktfeld, dem der Krieg entsprang“[6], wirft der britische Oxford-Historiker Tony Wood.[7] Wood verortet den Ukraine-Krieg im Kontext dreier eng miteinander verwobener Dynamiken.
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Das Versagen der Medien
Nach den Regeln einer deliberativen Demokratie käme hier den Medien eine bedeutende Rolle zu. Doch statt Fakten liefern sie vor allem Emotionen, statt Analysen Empörungsverstärker. In Endlosschleifen werden Schreckensbilder des Krieges präsentiert, auch dort, wo sie nichts mehr zum Verständnis der Lage beitragen und den Beobachter lediglich emotionalisiert zurücklassen. Ohne die mediale Verstärkung könnten auch die Versuche der „moralischen Erpressung“ (Jürgen Habermas) kaum ihre immense Wucht entfalten.
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Moralisierung, Militarisierung und Boulevardisierung
Das fatale Zusammenspiel von Moralisierung, Militarisierung und Boulevardisierung schafft einen Kontext, der die Koordinaten der politischen Akteure zu verzerren droht. Er treibt die gesellschaftliche Stimmung in eine Empörungsspirale, die Kausalanalysen und rationale
Politikformulierung blockiert. Vor allem bindet sie Aufmerksamkeit und Ressourcen in einer
Kriegspolitik, die weder ein diskutiertes und legitimiertes Kriegsziel noch ein politisches
Lösungsszenario anzubieten hat.
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Eine neue ökonomische und politische Ordnung
Mittelfristig wird aber die Arbeit an einer neuen europäischen und globalen Sicherheitsordnung die entscheidende Aufgabe sein. Ein solcher Zukunftsentwurf mittlerer Reichweite steht zweifelsohne vor der Aufgabe, über Putin hinauszudenken – und zwar in ökonomischer wie in militärischer Hinsicht.
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Die Risiken einer Isolation Russlands
Nicht minder anspruchsvoll ist die Architektur nachhaltiger ökonomischer Beziehungen zwischen den kapitalistischen Zentren des Westens und der Rohstoffökonomie Russlands. Auch hier prallt die gesinnungsethische Forderung nach einem sofortigen Totalembargo für Kohle, Öl und Gas aus Russland auf die Realität einer global verflochtenen Ökonomie.
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Wohin geht die gesellschaftliche und politische Linke?
Doch so wichtig eine moralisch tragbare und politisch sachgerechte Positionierung gegenüber dem Ukraine-Krieg auch sein mag, die eigentliche Zeitenwende sollte sich nicht bei der Entsorgung antimilitaristischer Konfliktlösungsstrategien vollziehen. Die fast völlig verschwundene Aufmerksamkeit für die fundamentalen sozialen und ökologischen Jahrhundertaufgaben ist beängstigend.
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Wider die Gefahr einer neuen Dolchstoßlegende
Für die gesellschaftliche und politische Linke kann eine moralisierende, aber letztlich folgenlose Kritik keine Option sein. Ohne die Thematisierung der konflikttreibenden Strukturen und Dynamiken des globalen Kapitalismus werden moralisch noch so ambitionierte Politiken zum Scheitern verurteilt bleiben. So wichtig normative Empörung als Antriebskraft politischen Handelns gegen globale Missstände auch sein kann, rationale Problemanalysen von Interessen und Machtansprüchen sowie die Bereitschaft, auf komplexe Problemlagen mit entsprechenden Strategien zu antworten, kann sie nicht ersetzen.
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[1] - [21] Literaturhinweise

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Quelle: Blätter f. deutsche + internationale Politik, 13.10.2022