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Ataman will Diskriminierungsschutz bei Triage stärken

20.10.2022 - von Unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung

Stellungnahme der Unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung: Stellungnahme der Unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung

1. Sachstand
Die Frage der Triage, also die Entscheidung über die Zuteilung unzureichender, überlebensnotwendiger, intensivmedizinischer Ressourcen, war bisher nicht gesetzlich geregelt. Die Corona Pandemie hat verdeutlicht, dass ein solches Szenario zur Realität werden kann. Dabei sind insbesondere Menschen mit Behinderungen, aber auch Ältere besonders gefährdet und Diskriminierungsrisiken ausgesetzt.

Das Bundesverfassungsgericht hat daher Ende 2021 entschieden (BVerfG Beschluss vom 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20), dass die sogenannte Triage durch den Gesetzgeber geregelt werden muss und Menschen mit Behinderungen dabei nicht benachteiligt werden dürfen. Besteht demnach das Risiko, dass Menschen bei der Zuteilung knapper, überlebenswichtiger intensivmedizinischer Ressourcen wegen einer Behinderung benachteiligt werden, verdichtet sich der Schutzauftrag aus dem Benachteiligungsverbot gemäß Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) zu einer konkreten Schutzpflicht. Nach den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts hat der Gesetzgeber dementsprechend zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen durch eine gesetzliche Regelung im Rahmen der intensivmedizinischen Ressourcenverteilung wirksam vor Benachteiligungen wegen einer Behinderung geschützt werden (BVerfG, Beschluss vom 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20 – Rn. 126 ff.).

Zur Umsetzung dieser Vorgaben hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) einen Gesetzesentwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes vorgelegt. Dieser regelt explizit, dass niemand wegen einer Behinderung, der Gebrechlichkeit, des Alters, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung benachteiligt werden darf, wenn es keine ausreichende intensivmedizinische Versorgung (materiell sowie personell) gibt. Die ärztliche Entscheidung darf nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit erfolgen. Eine langfristig zu erwartende kürzere Lebenserwartung aufgrund einer Behinderung, dem Alter, der Gebrechlichkeit und der Lebensqualität ist ausdrücklich kein zulässiges Kriterium.

Die Zuteilungsentscheidung ist von zwei Fachärzt*innen, die im Bereich der Intensivmedizin praktizieren und über mehrjährige Erfahrung verfügen, sowie die Patient*innen unabhängig voneinander begutachtet haben, einvernehmlich zu treffen. Besteht kein Einvernehmen, ist eine weitere, gleich qualifizierte ärztliche Person hinzuzuziehen und sodann mehrheitlich zu entscheiden. Geht es um Menschen mit Behinderungen oder Komorbiditäten, ist eine Person mit besonderer Fachexpertise für deren Belange hinzuziehen und ihre Einschätzung zu berücksichtigen. Die für die Zuteilungsentscheidung maßgeblichen Umstände sowie der Entscheidungsprozess sind zu dokumentieren. Zudem werden die Krankenhäuser verpflichtet, das Vorgehen bei der Zuteilungsentscheidung in einer Verfahrensanweisung festzulegen.
2. Stellungnahme

Die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung (UBAD) sieht im Gesetzesentwurf des BMG einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung, um den Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall einer Triage besser zu gewährleisten.

Es gelingt allerdings nicht, der Gefahr einer (unbewussten) Benachteiligung in der Praxis vollständig vorzubeugen und die vorhandenen Diskriminierungsrisiken effektiv auszuräumen. Daran ist das Gesetzesvorhaben aber nach Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts zu bewerten (BVerfG, Beschluss vom 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20 – Rn. 126).

Daher sind zusätzliche begleitende Verfahrensmaßnahmen und spezifische Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung des intensivmedizinischen Personals erforderlich, um wirksam auf die Vermeidung von Benachteiligungen wegen einer Behinderung in einer Triage-Situation hinzuwirken (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20 – Rn. 113 und 128).
Im Einzelnen:

Die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung begrüßt, dass der Entwurf ein ausdrückliches Diskriminierungsverbot bei intensivmedizinischen Zuteilungsentscheidungen vorschreibt. Die Diskriminierungsmerkmale orientieren sich dabei am Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Daneben ist zudem zusätzlich noch das Merkmal des Grads der Gebrechlichkeit aufgeführt. Die Aufzählung bietet dadurch – zumindest auf dem Papier bzw. in der Theorie – einen umfassenden, über das Merkmal der Behinderung hinausgehenden, Schutz vor Diskriminierung.

Positiv hervorzuheben ist ebenfalls das explizite Verbot einer mittelbaren Benachteiligung, da dadurch klargestellt wird, dass Behinderung, Alter, verbleibende mittel- oder langfristige Lebenserwartung, Gebrechlichkeit und Lebensqualität keine geeigneten Kriterien sind, um das Entscheidungskriterium der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit zu beurteilen. Weiterhin begrüßenswert ist das enthaltene Verbot der sogenannten Ex-Post Triage, wonach bereits zugeteilte intensivmedizinische Ressourcen von der akuten Triage Entscheidung ausgenommen sind. Daran sollte unbedingt festgehalten werden.

Wünschenswert und sachdienlich wäre in diesem Zusammenhang darüber hinaus die gesetzliche Klarstellung, dass das AGG auf medizinische Behandlungsverträge Anwendung findet, um dem Diskriminierungsverbot im ärztlichen Bereich einen stärkeren Unterbau zu verleihen.

Die Zuteilungsentscheidung von der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit als ausschlaggebendem Kriterium abhängig zu machen, genügt den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten grundrechtlichen Vorgaben nur wenn und solange gewährleistet wird, dass dies kein Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen darstellt. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Behinderung durch die Entscheidungsträger*innen in der Intensivmedizin pauschal mit Komorbiditäten in Verbindung gebracht oder stereotyp mit schlechten Genesungsaussichten verbunden wird (BVerfG, Beschluss vom 16. Dezember 2021 – 1 BvR 1541/20 – Rn. 118). Dem versucht der Gesetzesentwurf vorzubeugen, indem er regelt, dass Komorbiditäten nur Berücksichtigung finden dürfen, soweit sie aufgrund ihrer Schwere oder Kombination die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern. In der praktischen Umsetzung ist aber fraglich, ob das ausreicht, um dem Diskriminierungsrisiko durch mangelndes Fachwissen und einer unzureichenden Sensibilisierung des intensivmedizinischen Personals für behinderungsspezifische Besonderheiten (BVerfG, Beschluss vom 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20 – Rn. 113) effektiv entgegenzuwirken.

Ein alternatives Entscheidungsmodell, das behinderungsbedingte (sowie sonstige) Diskriminierungspotentiale umfassend ausschließt, ist das sogenannte Randomisierungsprinzip (bzw. die Zufallsentscheidung). Das wird von verschiedenen Behindertenverbänden und Selbstvertretungsorganisationen sowie dem Deutschen Institut für Menschenrechte als gangbare Alternativlösung vorgeschlagen. Es bedeutet, dass die Zuteilung der intensivmedizinischen Ressourcen in der Triage-Situation zunächst chronologisch und sodann komplett zufällig erfolgt, beispielsweise durch ein Losverfahren. Dafür spricht der vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Grundsatz der Lebenswertindifferenz, wonach jedes menschliche Leben gleichwertig ist und nicht gegeneinander abgewogen werden darf (vgl. BVerfG, Urteil vom 15. Februar 2006 – 1 BvR 357/05).

Dagegen könnte allerdings sprechen, dass die Randomisierung unter Umständen mit dem fundamentalen Ziel der Notfall- und Intensivmedizin, möglichst viele Menschenleben zu retten, nicht im Einklang steht und im Einzelfall der sachverständigen Expertise und einer fachlich-medizinischen Entscheidung zuwiderlaufen könnte.

Gleichwohl sind dem vom Gesetzesentwurf vorgeschlagenen Kriterium der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit Abgrenzungsschwierigkeiten immanent, so dass – wie bei jeder menschlichen Entscheidung – zumindest unterbewusst subjektive Vorstellungen und Vorurteile einfließen könnten und grundsätzlich ein Diskriminierungsrisiko weiter bestehen bleibt. Das gilt umso mehr, als die Triage-Entscheidungen unter hohem (Zeit-)Druck getroffen werden müssen und deshalb oft keine umfassende Abwägung möglich sein wird.

Bei der Erfüllung der konkreten Schutzpflicht aus Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG steht dem Gesetzgeber ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Entscheidend ist nach den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts, dass eine gesetzliche Regelung hinreichend wirksamen Schutz vor einer Benachteiligung wegen der Behinderung bewirkt (BVerfG, Beschluss vom 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20 – Rn. 126 ff.).

Die UBAD regt deshalb an, im parlamentarischen Verfahren zumindest folgende Nachbesserungen an dem Gesetzesentwurf vorzunehmen, die eine sachgerechte Anwendung sicherstellen und damit den größtmöglichen Diskriminierungsschutz gewährleisten sollen:

Der Begriff der „kurzfristigen“ Überlebenswahrscheinlichkeit sollte (nicht nur in der Gesetzesbegründung) legaldefiniert werden, um auszuschließen, dass entgegen des Gesetzeszwecks doch auf die mittel- bzw. langfristige Lebenserwartung aufgrund von Behinderung bzw. Vorerkrankung abgestellt wird. Es muss daraus eindeutig werden, dass nur das Überleben der aktuellen, die Triage-Situation auslösenden Erkrankung relevant ist. Nur so können abweichende Auslegungen im praktischen Ernstfall verhindert werden.
Der Gesetzesentwurf sieht grundsätzlich vor, dass (zwei, bei Uneinigkeit drei) Ärzt*innen mit intensivmedizinischer Erfahrung gemeinsam nach dem Vier-Augen-Prinzip entscheiden. Zudem wird eine fachkundige dritte Person hinzugezogen, wenn Menschen mit einer Behinderung oder Vorerkrankung von der Zuteilungsentscheidung betroffen sind. Dieser Grundsatz ist ausdrücklich zu begrüßen. Allerdings sollte der fachkundigen dritten Person nicht nur ein Anhörungs- sondern auch ein Mitentscheidungsrecht zugestanden werden. Nur das wird ihrer Rolle als speziell sachverständige Person gerecht.
Um die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben und deren sachgerechte und transparente Umsetzung zu überprüfen, sollte eine externe und unabhängige Prüfstelle eingerichtet werden. Bei dieser Stelle könnten die Dokumentationen etwaiger Triage-Situationen in Krankenhäusern ebenso wie die im Entwurf vorgesehenen Verfahrensanweisungen der Krankenhäuser evaluiert werden. Teil der Prüfstelle bzw. ihrer Entscheidungen sollten Menschen mit Behinderungen bzw. Selbstvertretungsorganisationen sein, die dadurch aktiv z.B. an der Erarbeitung von Verfahrensanweisungen beteiligt werden.
Frankiert werden muss der Gesetzesentwurf mit Vorschlägen, wie die Ausbildungsordnungen der medizinischen Studiengänge sowie Fort- und Weiterbildungen in Medizin und Pflege um behinderten- bzw. altersspezifische Besonderheiten ergänzt werden können. Nur dadurch kann langfristig sichergestellt werden, dass Ärzt*innen lebenswichtige Entscheidungen frei von Stigmatisierungen treffen.

Abschließend bleibt abzuwarten, inwieweit die im Entwurf vorgesehene Verfahrensschritte – ggfs. mit den hier vorgeschlagenen darüberhinausgehenden Ergänzungen – praktisch umsetzbar sein werden. Gerade in der Corona Pandemie wurde deutlich, dass es im medizinischen Bereich an Personal mangelt. Da die vom Gesetz geregelten Vorgaben gerade solche Krisensituationen regeln, besteht die Gefahr, dass insbesondere das begrüßenswerte Mehraugenprinzip, aber auch die nachträglichen Dokumentationspflichten, in der Praxis nicht umsetzbar sind. Zwingend erforderlich wird es daher sein, die gesetzlichen Vorgaben mit einer Verbesserung der personellen und materiellen Ressourcen im intensivmedizinischen Bereich zu kombinieren.

Quelle: ADS,19.10.2020