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21.11.2022 - von Clara Zetkin, November 1914
November 1914
Genossinnen! Schwestern!
Von Woche zu Woche mehren sich in den kriegführenden wie in den neutralen Ländern die Frauenstimmen, die Protest erheben wider das furchtbare Völkerringen, das der Drang nach Weltmacht und Weltherrschaft der kapitalistischen Staaten geboren hat. Seit fast 4 Monaten dauert nun der Waffengang zwischen dem Zweibund und dem Dreibund, und immer neue Völker, immer mehr Teile der Erde werden in seinen blutigen Strudel gerissen.
Der Krieg hat die besten physischen, geistigen und moralischen Kräfte der Völker in seinen Dienst genommen, die Reichtümer ihrer Wirtschaft, die vollkommenste Organisation des Zusammenwirkens zu einem Zweck, wertvolle Errungenschaften der Wissenschaft und Wunderwerke der Technik.
Er türmt Ruinenhaufen und Berge Getöteter und Verstümmelter, wie sie die Geschichte noch nie gesehen hat, so große Blut- und Tränenströme auch durch sie ziehen.
Er tritt die Wohlfahrt und das Glück von Millionen unter seinen Fuß, zerreißt völkerrechtliche Verträge, philosophiert mit dem Schwert über ehrwürdig gewordene Vorstellungen und Einrichtungen und befiehlt den Völkern anzubeten, was sie gestern verbrannten, und zu verbrennen, was sie bisher anbeteten.
Er befleckt alle Ideale, die ungezählte Geschlechter aller Nationen und Rassen unter Qualen und Freuden der Menschheit auf ihrem Entwicklungsgang von der Tierheit zum Reiche wahrer menschlicher Freiheit geschaffen haben.
Was ist mit den Geboten des christlichen Gottes: “Du sollst nicht töten!” und “Liebe deine Feinde!”? Was mit der weltbürgerlichen Gesinnung und Gesittung, die von den größten und edelsten Geistern aller modernen Kulturnationen auf den Schild erhoben worden ist? Was mit der internationalen, der sozialistischen Brüderlichkeit der Proletarier aller Länder, von der wir stolz träumten und sagten?
Je länger dieser Krieg währt, um so mehr verblassen und zerschleißen die schimmernden Redensarten und Gedankengänge, die sein kapitalistisches Wesen vor den Augen der Völker bemänteln sollten. Es fallen die Masken, die schön beblümten Hüllen, die so viele getäuscht haben. In nackter Hässlichkeit, als kapitalistischer Eroberungs- und Weltmachtskrieg, steht er da…
Uns sozialistischen Frauen ist der Weltfriede als Frucht und Unterpfand der internationalen Brüderlichkeit der Proletarier aller Länder stets besonders heilig gewesen, jener Brüderlichkeit, die allein das Tor zur sozialistischen Zukunftsordnung zu sprengen vermag, die wir Frauen mit der Seele suchen. Weil dem so ist, so steht auch der Weltkrieg mit seinen Schrecken nicht trennend zwischen uns. Unbeirrt durch Schlachtendonner, klirrende Reden und kritiklose Massenstimmungen tragen wir in allen Ländern unversehrt die alten sozialistischen Ideale durch diese Zeit. Von überallher reichen wir uns über Blutströme und Trümmerhaufen hinweg die Schwesternhände, einig in der einen alten Erkenntnis und dem einen unerschütterlichen Willen: Durch zum Sozialismus!
Unsere letzte große gemeinsame Arbeit, die geplante Konferenz in Wien, sollte im Zeichen unseres Friedenswillens stehen. Die eiserne Faust des Weltkrieges hat sie vereitelt. Nun muss dieser Friedenswille uns die erste große gemeinsame Aufgabe diktieren.
Wir Sozialistinnen müssen in allen Ländern die Frauen rufen und sammeln, damit sie sich dem weiteren Wahnwitz des Völkerringens entgegenstemmen. Millionenstimmig, unwiderstehlich muss unser Schrei ertönen: Genug des Würgens, genug der Verheerung! Kein Ringen bis zur Erschöpfung, bis zum Verbluten der Völker! Friede! Dauernder Friede!
Darum kein Antasten der Unabhängigkeit und Würde irgendeiner Nation! Keine Annexionen, für kein Land demütigende Friedensbedingungen, die nicht Bürgschaft der Sicherheit für die Nachbarn sind, sondern Anreize zum erdrückenden Wettrüsten und zu neuen gräuelvollen Welthändeln! Raum für die friedliche Arbeit! Die Bahn frei für die Verbrüderung der Völker und ihr Zusammenwirken zur Blüte der internationalen Kultur!
Wohl sind wir Frauen fast in allen Ländern nur geringen politischen Rechtes, doch nicht ohne soziale Macht. Nützen wir jedes Fünkchen dieser Macht, von der Geltung unseres Wortes und unseres Wirkens im vertrauten Kreise der Angehörigen und Freunde bis zu unserem Einfluss in der Öffentlichkeit, den diese waffenstarrende Zeit gesteigert hat.
Nützen wir alle Mittel der Rede und Schrift, der Betätigung einzelner und des Zusammenwirkens vieler, die uns in den verschiedenen Ländern zu Gebote stehen. Uns kann dabei das Tosen der chauvinistischen Strömung nicht verwirren oder schrecken, auf der geschäftskundige Prozentpatrioten, machtgierige Eroberungspolitiker und gewissenlose Demagogen sich treiben lassen.
Gerade angesichts dieser Strömung reden wir laut von den Kulturwerten, die alle Nationen zum Menschheitserbe beigesteuert haben, von der Notwendigkeit einer großen internationalen Gemeinschaft der Völker.
Entrollen wir mit Stolz das Banner der sozialistischen Friedensforderungen, das Banner des Sozialismus. In allen Ländern wird uns Einsichtslosigkeit und Eigennutz als Vaterlandslose schmähen und verfolgen. Seis drum! Wir wissen, dass wir mit unserem Friedenswerk unser Heimatland mehr fördern als durch Beschimpfung und Herabwürdigung fremder Nationen und durch säbelrasselnde Kriegstreibereien. Wenn die Männer töten, so ist es an uns Frauen, für die Erhaltung des Lebens zu kämpfen. Wenn die Männer schweigen, so ist es unsere Pflicht, erfüllt von unseren Idealen die Stimme zu erheben.
Genossinnen, Schwestern! Löst das Versprechen ein, das eure Vertreterin auf dem denkwürdigen Friedenskongress zu Basel der Sozialistischen Internationale gegeben hat: “Deshalb werden wir auch im Kriege gegen den Krieg zu den Vorwärtsdrängenden, zu den Stürmenden gehören!”
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