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Bundessozialgericht: Höhere Erwerbsminderungsrente für Bestandsrentner?

10.11.2022 - von BSG Bund

1,8 Millionen EM-Rentner warten auf eine positive Entscheidung
Diese Frage betrifft circa 1,8 Millionen Rentner, deren Erwerbsminderungsrente vor dem 1. Januar 2018 beziehungsweise vor dem 1. Januar 2019 begann. Sie profitieren bei der Berechnung ihrer Rente nicht von gesetzlichen Verbesserungen, die zu diesen Zeitpunkten in Kraft getreten sind.

Der 5. Senat des Bundessozialgerichts wird hierzu am Donnerstag, den 10. November 2022, ab 13.45 Uhr im Weißenstein-Saal mündlich verhandeln und entscheiden (Aktenzeichen B 5 R 29/21 R und B 5 R 31/21 R).

Die durchschnittliche Höhe von Erwerbsminderungsrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung ist ab dem Jahr 2001 kontinuierlich gesunken. Der Gesetzgeber hat deshalb zum 1. Juli 2014 die Berechnungsgrundlagen für eine Erwerbsminderungsrente verändert und dabei unter anderem das Ende der sogenannten Zurechnungszeit von der Vollendung des 60. auf die Vollendung des 62. Lebensjahres verschoben. Zum 1. Januar 2018 erfolgte eine weitere Verlängerung um zunächst drei Monate. Ab dem 1. Januar 2019 wurde das Ende der Zurechnungszeit um weitere drei Jahre und fünf Monate hinausgeschoben. Diese Verbesserungen kommen nur denjenigen zugute, deren Rente ab den genannten Stichtagen neu beginnt. Für die Bestandsrentner verbleibt es bei den bisherigen Berechnungen. Ein mittlerweile in Kraft getretenes Gesetz sieht ab dem 1. Juli 2024 für diese Bestandsrentner pauschale Zuschläge zu ihrer Erwerbsminderungsrente vor.

Im ersten zu entscheidenden Revisionsverfahren (B 5 R 29/21 R) verlangt der Kläger, der seit 2004 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bezieht, ab 2019 deren Neuberechnung unter Anwendung der ab dann für Neurentner maßgeblichen längeren Zurechnungszeit. Im zweiten Verfahren (B 5 R 31/21 R) fordert die Klägerin, die seit August 2014 Erwerbsminderungsrente erhält, ab dem 1. Januar 2018 und 1. Januar 2019 eine höhere Rente unter Zugrundelegung der jeweils längeren Zurechnungszeiten. Beide Kläger sehen einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz darin, dass der Gesetzgeber die Verbesserungen bei der Berechnung der Erwerbsminderungsrenten nur für Neurentner vorgesehen und die Bestandsrentner davon ausgeschlossen hat. Ihre Klagen hatten in den Vorinstanzen keinen Erfolg.

Hinweise zur Rechtslage:
Art 3 Abs. 1 GG
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

§ 59 Abs. 1 und 2 SGB VI
(1) Zurechnungszeit ist die Zeit, die bei einer Rente wegen Erwerbsminderung oder einer Rente wegen Todes hinzugerechnet wird, wenn die versicherte Person das 67. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.
(2) Die Zurechnungszeit beginnt
1. bei einer Rente wegen Erwerbsminderung mit dem Eintritt der hierfür maßgebenden Erwerbsminderung,
2. bei einer Rente wegen voller Erwerbsminderung, auf die erst nach Erfüllung einer Wartezeit von 20 Jahren ein Anspruch besteht, mit Beginn dieser Rente,
3. bei einer Witwenrente, Witwerrente oder Waisenrente mit dem Tod der versicherten Person und
4. bei einer Erziehungsrente mit Beginn dieser Rente.
Die Zurechnungszeit endet mit Vollendung des 67. Lebensjahres.

§ 253a Abs. 1 bis 4 SGB VI
(1) Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder eine Erziehungsrente im Jahr 2018 oder ist bei einer Hinterbliebenenrente die versicherte Person im Jahr 2018 verstorben, endet die Zurechnungszeit mit Vollendung des 62. Lebensjahres und drei Monaten.
(2) Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder eine Erziehungsrente im Jahr 2019 oder ist bei einer Hinterbliebenenrente die versicherte Person im Jahr 2019 verstorben, endet die Zurechnungszeit mit Vollendung des 65. Lebensjahres und acht Monaten.
(3) Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder eine Erziehungsrente nach dem 31. Dezember 2019 und vor dem 1. Januar 2031 oder ist bei einer Hinterbliebenenrente die versicherte Person nach dem 31. Dezember 2019 und vor dem 1. Januar 2031 verstorben, wird das Ende der Zurechnungszeit wie folgt angehoben:

Bei Beginn der Rente
oder bei Tod der Versicherten im Jahr
Anhebung um Monate
auf Alter
Jahre
auf Alter
Monate

2020
1 65 9
2021
2 65 10
2022
3 65 11
2023
4 66 0
2024
5 66 1
2025
6 66 2
2026
7 6 63
2027
8 66 4
2028
10 66 6
2029
12 66 8
2030
14 66 10

(4) Die Zurechnungszeit endet spätestens mit dem Erreichen der Regelaltersgrenze nach § 235 Absatz 2 Satz 2 und 3.

§ 307i Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten bei Renten wegen Erwerbsminderung und bei Renten wegen Todes (gültig ab 01.07.2024)
(1) Ein Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten wird ab dem 1. Juli 2024 berücksichtigt, wenn am 30. Juni 2024 ein Anspruch bestand auf
1. eine Rente wegen Erwerbsminderung oder eine Erziehungsrente, die jeweils nach dem 31. Dezember 2000 und vor dem 1. Januar 2019 begonnen hat,
2. eine Hinterbliebenenrente, die nach dem 31. Dezember 2000 und vor dem 1. Januar 2019 begonnen hat und der kein Rentenbezug der verstorbenen versicherten Person unmittelbar vorausging,
3. eine Rente wegen Alters, die unmittelbar an eine Rente wegen Erwerbsminderung oder an eine Erziehungsrente nach Nummer 1 anschließt oder
4. eine Hinterbliebenenrente, die unmittelbar an eine Rente wegen Erwerbsminderung nach Nummer 1 oder an eine Rente wegen Alters nach Nummer 3 anschließt.
(2) Der Zuschlag wird ermittelt, indem die persönlichen Entgeltpunkte, die der Rente nach Absatz 1 am 30. Juni 2024 zugrunde liegen, mit dem Faktor nach Absatz 3 vervielfältigt werden.
(3) 1Der Faktor zur Berechnung des Zuschlags beträgt
1. 0,0750, wenn die Rente wegen Erwerbsminderung, die Erziehungsrente oder die Hinterbliebenenrente nach dem 31. Dezember 2000 und vor dem 1. Juli 2014 begonnen hat, oder
2. 0,0450, wenn die Rente wegen Erwerbsminderung, die Erziehungsrente oder die Hinterbliebenenrente nach dem 30. Juni 2014 und vor dem 1. Januar 2019 begonnen hat.
2Der Faktor nach Satz 1 bestimmt sich in den Fällen des Absatzes 1 Nummer 3 nach dem Beginn der Rente wegen Erwerbsminderung oder nach dem Beginn der Erziehungsrente. 3In den Fällen des Absatzes 1 Nummer 4 bestimmt sich der Faktor nach dem Beginn der Hinterbliebenenrente, wenn diese vor dem 1. Januar 2019 begonnen hat, andernfalls nach dem Beginn der Rente wegen Erwerbsminderung.
(4) Ein Zuschlag nach Absatz 1 Nummer 2 wird zu einer Hinterbliebenenrente nicht ermittelt, wenn die versicherte Person nach Vollendung des 65. Lebensjahres und acht Monaten verstorben ist.
(5) Der Zuschlag ist weiterhin zu berücksichtigen, wenn auf eine Rente mit einem solchen Zuschlag
1. eine Rente wegen Alters folgt oder
2. eine Hinterbliebenenrente folgt, bei der keine Zurechnungszeit oder nach § 253a Absatz 5 nur eine Zurechnungszeit in begrenztem Umfang zu berücksichtigen ist.

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Verhandlung B 5 R 31/21 R

Rentenversicherung - Erwerbsminderungsrente - Bestandsrentner - Zurechnungszeit

Verhandlungstermin 10.11.2022 13:45 Uhr
Terminvorschau

C. S. ./. DRV Bund
Auch in diesem Verfahren streiten die Beteiligten darüber, ob Bestandsrentner verlangen können, dass ihnen Verbesserungen bei den Zurechnungszeiten, die der Gesetzgeber erst nach Beginn ihrer Erwerbsminderungsrente eingeführt hat, zugutekommen.

Die im Jahr 1957 geborene Klägerin bezieht seit August 2014 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Bei deren Berechnung legte der beklagte Rentenversicherungsträger für den Zeitraum vom Eintritt der Erwerbsminderung im Oktober 2013 bis zur Vollendung des 62. Lebensjahrs eine Zurechnungszeit von 64 Monaten zugrunde. Es ergaben sich insgesamt ca 38,2 persönliche Entgeltpunkte sowie 2,4 persönliche Entgeltpunkte (Ost); ca. 6,5 persönliche Entgeltpunkte entfielen auf die Zurechnungszeiten. Daraus wurde eine monatliche Rente in Höhe von damals ca 1155 Euro berechnet. Der Widerspruch gegen den Rentenbescheid blieb ohne Erfolg. Das SG hat die Klage abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin die Berücksichtigung verlängerter Zurechnungszeiten entsprechend § 253a SGB VI in den ab dem 1.1.2018 bzw ab dem 1.1.2019 geltenden Fassungen verlangt. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen und ausgeführt, dass für die Rentenhöhe die Rechtslage zum Zeitpunkt der erstmaligen Festsetzung der Rente maßgeblich sei. Der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG werde durch die unterbliebene Einbeziehung der Bestandsrentner in die Vergünstigung einer verlängerten Zurechnungszeit nicht verletzt. Der Gesetzgeber dürfe bei der Neuregelung von Lebenssachverhalten Stichtagsregelungen vorsehen, sofern hierfür nachvollziehbare sachliche Gründe vorlägen. Das sei hier der Fall, zumal die Ausweitung der Zurechnungszeiten auch einen Ausgleich für die Anhebung der gesetzlichen Altersgrenzen darstelle.

Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Schleswig - S 21 R 213/16, 27.08.2018
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht - L 1 R 160/18, 21.01.2021

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 42/22.
Verhandlung B 5 R 29/21 R

Rentenversicherung - Erwerbsminderungsrente - Bestandsrentner - Zurechnungszeit

Verhandlungstermin 10.11.2022 13:45 Uhr
Terminvorschau

H. M. ./. DRV Bund
Der Kläger begehrt eine höhere Rente wegen Erwerbsminderung. Streit besteht darüber, ob er als sog. Bestandsrentner eine Neuberechnung der Rente nach den Regelungen verlangen kann, die ab dem 1.1.2019 für Neurentner galten.

Der im Jahr 1956 geborene Kläger bezog seit März 2004 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Bei deren Berechnung legte der beklagte Rentenversicherungsträger für den Zeitraum vom Eintritt der Erwerbsminderung im August 2003 bis zur Vollendung des 60. Lebensjahrs eine Zurechnungszeit von 154 Monaten zugrunde. Es ergaben sich insgesamt ca 47,6 persönliche Entgeltpunkte, von denen ca 14,3 persönliche Entgeltpunkte auf die Zurechnungszeiten entfielen. Daraus wurde eine monatliche Rente in Höhe von damals ca 1240 Euro berechnet. Im Januar 2019 verlangte der Kläger eine Neuberechnung seiner Erwerbsminderungsrente unter Berücksichtigung einer Zurechnungszeit, die erst mit Vollendung des 65. Lebensjahrs und acht Monaten endet, dh von zusätzlichen 68 Monaten. Dass die ab dem 1.1.2019 vorgesehene verbesserte Anrechnung von Zurechnungszeiten nur Erwerbsminderungsrentnern zugutekomme, deren Rente ab diesem Stichtag beginne, sei eine ungerechtfertigte Benachteiligung der Bestandsrentner. Die Beklagte lehnte eine Neuberechnung der Rente ab und wies auch den Widerspruch des Klägers zurück. Das Klage- und Berufungsverfahren ist ebenfalls ohne Erfolg geblieben. SG und LSG haben ausgeführt, der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG werde durch die unterbliebene Einbeziehung der Bestandsrentner in die Vergünstigung einer verlängerten Zurechnungszeit nicht verletzt. Der Gesetzgeber habe bei der Ausgestaltung der nicht auf eigenen Beiträgen beruhenden Zurechnungszeiten einen weiten Gestaltungsspielraum.

Mit seiner vom BSG zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Duisburg - S 53 R 507/19, 22.10.2019
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen L 14 R 883/19, 13.03.2020

Quelle: BSG Bund