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VON MEHRARBEIT, ARZTGESUNDHEIT und TRIAGE von Stefan Streit

Foto: H.S.

09.11.2022 - von Stefan Streit

In den Medien kamen Juristen (1), ärztliche Standesvertreter (2) und leitende Intensivmediziner (3) zu Wort. Der Tenor bei allen: Triage ist im Krankenhaus bereits heute Alltag! Diese Behauptung, Triage sei im Zusammenhang von Indikationstellung, Festlegung des Therapieziels und Therapieevaluation üblich, ist jedoch nicht von der Wirklichkeit gedeckt. Dennoch gibt es Triage im Krankenhaus, jedoch in einem ganz anderen Kontext, aber davon war in der ganzen Triage-Diskussion bisher nie die Rede. In Kürze wird allerdings das Ausmaß dieser bereits üblichen Triage öffentlich, wenn die Arbeitszeiten auch in Krankenhäusern komplett dokumentiert werden müssen, so wie es das Bundesarbeitsgericht in seinem aktuellen Grundsatzurteil fordert.

Krankenhausärzte triagieren seit langem ihre eigene Gesundheit gegen die Gesundheit der Patienten und zwar mit durchschnittlich 6 Stunden Mehrarbeit pro Woche. Manche Ärzte leisten bis zu 19 Stunden Mehrarbeit pro Woche und jeder vierte Arzt völlig ohne jeden Ausgleich in Form von Freizeit oder Geldzahlung. Insofern ist es gegenwärtig für Ärzte in deutschen Krankenhäusern üblich, die eigene Gesundheit gegen die Gesundheit der Patienten abzuwägen. Davon, so offensichtlich die Annahme, sei der Weg die Gesundheit von zwei Patienten gegeneinander abzuwägen, nicht mehr weit. Das Bundesverfassungsgericht begrenzte seinen Auftrag an die Politik auf den Diskriminierungsaspekt während einer Triage. Das ist zu kurz gesprungen!

Gar nicht gesprochen wurde darüber, dass der Arzt bei der Triage einen dramatischen Rollenwechsel erfährt. Dieser ist vergleichbar mit dem des Soldaten, der in den Krieg geht. Deshalb kann ein Triagegesetz nicht ohne die transparente Ausrufung eines Triagezustandes auskommen. Es braucht deshalb eine Regulierung in welcher Situation Triage legitim ist. Statt dessen gibt man sich damit zufrieden, das wie der Triage im Infektionsschutzgesetz zu regeln. Das ist politische Feigheit vor den anderen Katastrophen und der Zumutung der Triage! Nur der Kriegszustand legimiert Waffengewalt durch Soldaten. Nur ein vergleichbarer Ausnahmezustand rechtfertigt die ärztliche Triage.

Intensivmediziner sorgen sich darum, dass sie "mit Fragen des Totschlags konfrontiert werden". (1) Das halte ich für eine optimistische Einschätzung. Es bedarf einer eindeutigen Rechtsgrundlage, damit die Ärzte nach der Triage nicht als Mörder in die Gesellschaft zurückkehren müssen. Sie meinen Mord sei übertrieben? Die Ex-Post-Triage erfüllt beim Abbruch der Therapie gleich zwei Mordmerkmale. Vorsatz ergibt sich, weil die lebensbeendenden Maßnahmen absichtlich und planvoll erfolgen. Heimtücke liegt vor, weil es sich um arglose (bewusstlose) Patienten handelt. Das sind zwei wesentliche juristische Kriterien, die üblicherweise aus einem Totschlag einen Mord machen. Beihilfe und Anstiftung zum Mord stellen ebenfalls strafrechtlich zu verfolgende Delikte da. Nur ein klarer Rechtsrahmen, entsprechend dem des Kriegszustands, hilft uns Ärzten da weiter, wenn es jemals zur pandemiebedingten Triage kommen sollte.

Triage bedeutet Abwägungen über Gesundheit und Krankheit für zwei Menschen bei Ressourcenknappheit. Arztzeit ist ein knappes Gut. Man kann es nennen wie man will, Priorisierung, Allokation oder Triage, für den Arzt stellt sich immer die gleiche Frage: Wie verteile ich die knappe Ressource? Triage soll (nach der Forderung des Bundesverfassungsgerichts) zukünftig diskriminierungsfrei sein, dann sei die Gewaltanwendung bei der Triage legitim. Das im bürgerlichen Zusammenhang darzustellen wird nicht einfach. Zivilgesellschaft bedeutet doch gerade, dass es Menschen - auch Ärzte sind Menschen - möglich sein muss, sowohl auf Diskriminierung als auch auf Gewalt zu verzichten. Triage und Zivilgesellschaft sind deshalb unvereinbar! Knappe Arztzeit begünstigt Gewalt an der Gesundheit von Patienten und von Ärzten.
Herzliche Grüße aus Köln
Stefan Streit

(1) Knackpunkt Ex-Post-Triage von Charlotte Kunz in Deutsches Ärzteblatt Heft 43 vom 28. Oktober 2022 auf Seite A1842
(1) „Wir reden über ein echtes Dilemma“ Michaela Schwinn interviewte die Direktorin am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht Tatja Hörnle für die Süddeutsche Zeitung vom 23.06.2022 auf Seite 6
(2) Feinschliff am Triage-Gesetz sorgt für Streit von (hom) in Ärztezeitung von 3.8.2022
(3) Triage-Gesetz: Ärztliches Selbstverständnis in Gefahr von Marin Bornemeier in Rheinisches Ärzteblatt Heft 9/2022 auf Seite 24



Wie knapp Arztzeit in deutschen Krankenhäusern ist und warum, davon lesen Sie hier in der Streitschrift # 13:
VON MEHRARBEIT, ARZTGESUNDHEIT UND TRIAGE von Stefan Streit

Wie viel kann ein Arzt arbeiten? Wie viel arbeitet ein Assistenzarzt im Krankenhaus? Gibt es heute schon Triage im Krankenhaus? Bisher für die Patienten nicht, aber die Ärzte triagieren ihren Gesundheit gegen die der Patienten in Form von Mehrarbeitsstunden. Dies tun sie nicht freiwillig, sondern weil die Macht des Faktischen es ihnen abverlangt. Das System diskriminiert die Ärzte, weil es ihnen keine Wahl lässt. Die Hoffnung ist der freie Tag. Es bleibt die Frage, kann die Mehrarbeit, wie behauptet überhaupt mit Freizeitausgleich kompensiert werden? Dazu bedarf es eines Blicks auf die Personalplanung.

Für die notwendige Zahl der Pflegekräfte im Krankenhaus gibt es eine gesetzliche Regelung. Seit 1. Februar 2021 dürfen auf einer Intensivstation in der Tagschicht nur zwei Patienten pro Pflegekraft und in der Nachtschicht maximal 3 Patienten pro Pflegekraft versorgt werden. (1) Wird diese Patientenzahl überschritten, muss ein Bett auf der Intensivstation geschlossen werden. Für die verschiedenen Normalstationen ist eine Pflegekräfte am Tag für 3 bis 10 Patienten und in der Nacht von 5 bis 22 Patienten gesetzlich vorgeschrieben. (1)

Für Assistenzärzte gibt es keine gesetzliche Regelungen, was die Zahl der betreuten Patienten angeht. Assistenzärzte im Krankenhaus machen in Deutschland durchschnittlich 6 Stunden Mehrarbeit pro Woche. (2) Bei fast jedem fünfte Arzt bedeutet das zwischen zehn und neunzehn Stunden Mehrarbeit pro Woche. (2) Damit liegt die tatsächliche wöchentliche Regelarbeitszeit bei 46 bis 59 Stunden. (2) Die Hälfte der Krankenhausärzte gibt an, die Mehrarbeit als Freizeit abzufeiern. (2) Aber ist das überhaupt möglich? Denn ein Freizeitausgleich von 6 Stunden pro Woche erfordert ja noch einmal mehr ärztliche Planstellen. Gäbe es genug Ärzte wäre keine Mehrarbeit nötig....

Ausgehend von einer Kernarbeitszeit (incl. der 30-minütigen unbezahlten, aber vorgeschriebenen Pause, nach 5,5 Stunden) arbeitet ein Assistenzarzt von 8:00 Uhr bis 16:30 Uhr an fünf Tagen pro Woche 40 Stunden. (Ja, es sind eigentlich 38,5 Stunden, aber dann wird es doch sehr unübersichtlich, deshalb gehen wir hier von 40 Stunden aus!) Es wird also davon ausgegangen, dass eine ärztliche Wochenarbeitszeit im Krankenhaus von 40 bzw. 38,5 Stunden, auch über viele Jahrzehnte ohne zusätzliche Gesundheitsrisiken bleibt. Wäre das anders, müsste die Arbeitszeit geringer ausfallen. Aus Gründen der Nachvollziehbarkeit berücksichtigen wir im ersten Anlauf auch erst mal noch nicht, dass sich für jeden Assistenzarzt nach einem Nacht- oder Wochenenddienst pro Woche, wegen des
Freizeitausgleichs, seine tatsächliche Anwesenheitszeit in der Tagesroutine von 40 Stunden auf 32 Stunden reduziert. Wir halten wir diesen fehlenden Tag erst mal einfach mal nur im Hinterkopf. Er fließt nicht in die folgenden Berechnung mit ein, ganz einfach, weil das dann gar nicht mehr nachvollziehbar wäre. Unter diesen Annahmen braucht eine Krankenhausabteilung zur Besetzung von vier Stationen mit vier Ärzten an jedem Werktag von 8 bis 16:30 Uhr (wir lassen die Bettenzahl hier einmal außer Acht, das würde an dieser Stelle zu weit führen und ist ein eigenes Thema!) zwischen 9,4 oder 12,3 besetzten Arztvollzeitstellen. Und da sind die Ärzte, die in Funktionsabteilungen und
Ambulanzen arbeiten, die Oberärzte und die Chefärzte noch nicht mit einkalkuliert. Die kämen dann noch mal dazu.

Wie kommt man auf diese Zahlen?
Wir setzen voraus, dass ein Zwischen- und ein Nachtdienst für vier Stationen von nur einem Arzt versehen wird. (Es gibt Abteilungen, da machen zwei oder drei Dienstärzte gleichzeitig
Bereitschaftsdienst. Sie können am Ende des Textes vielleicht erahnen, was das für die Ärzte bedeutet.) Zuerst einmal braucht man die vier Ärzte, die einfach den Tagdienst auf den Stationen versehen. Dann braucht man an 21 Werktagen x 8 Stunden einen Arzt für die Zwischenschicht und einen Arzt für den Nachtdienst und kommt so schon auf 336 Stunden Bereitschaftsdienst pro Monat.

Dazu kommen noch einmal 9 Wochenendtage mit je 3 x 8 Stunden Arztstunden, was weitere 216
Stunden pro Monat für Früh-, Spät- und Nachtschicht an den Wochenenden erfordert. So kommt man für die Bereitschaftsdienste auf insgesamt 552 zusätzliche Stunden pro Monat. Geht man von einer Regelarbeitszeit von 40 Stunden die Woche bzw. 172 Stunden im Monat aus, dann braucht dafür zusätzliche 3,2 Vollzeitarztstellen. Deshalb werden aus den ursprünglichen 4 Planstellen bis hierher schon 7,2 Vollzeitarztstellen. Durch Krankheit fallen Ärzten durchschnittlich 8 Tage pro Jahr aus. (3)

Dazu kommen 30 Tage Regelurlaub (4), sowie zwei Tage zusätzlicher Urlaub für den
Bereitschaftsdienst (5), und 5 Tage Fortbildungsurlaub pro Arzt. Macht zusammen 45 Tage zu
erwartender Abwesenheit pro Jahr und Arzt. Das bedeutet bei 7,2 Ärzten im Idealfall die permanente Abwesenheit nur eines Arztes und mindestens den Bedarf einer weiteren Planstelle und kommen so bereits auf 8,2 Planstellen.

Jetzt zurück zu der Frage, wie viele Stellen vorhanden sein müssten, damit die üblichen 6 Stunden Mehrarbeit pro Woche sauber über Freizeit abgebaut werden können? Gehen wir davon aus, dass die Mehrarbeit der Ärzte tatsächlich durch Freizeitausgleich ausgeglichen wird, dann fallen für 8,2 Ärzte x 6 Stunden pro Woche x 4,3 Wochen = 211 Stunden an, was weitere 1,2 Arztstellen bedeutet. Und so kommt man auf 9,4 Arztplanstellen, wenn eine Abteilung tagsüber 4 Ärzte in der Frühschicht und je einen Arzt an Wochentagen in Spät- und Nachtschicht im Einsatz halten will. Machen die Ärzte jedoch 10 Stunden Mehrarbeit pro Woche und Arzt, dann ergäben sich zusätzlich 352 Stunden pro Monat und einen Mehrbedarf von 2,1 Arztvollzeitstellen, was 10,5 Vollzeitärzte erforderlich machte. Für eine
Abteilung in der 19 Stunden Mehrarbeit pro Arzt und Woche, bzw. 670 Stunden pro Monat, üblich sind, erhöht sich die Zahl der benötigten Ärzte für den Freizeitausgleich um 3,9 Vollzeitärzte auf 12,3 ärztliche Planstellen.

9,4 bzw. 10,5 oder 12,3 ärztliche Planstellen benötigt eine Krankenhausabteilung, wenn ohne
Mehrarbeit und ohne besondere Vorkommnisse in der Personalplanung (unbesetzte Stellen,
gleichzeitige Erkrankung mehrerer Ärzte, Langzeiterkrankung, etc), damit vier Ärzte werktäglich auf vier Stationen arbeiten und die Zwischen-, Nacht- und Wochenenddienste besetzt sind. Unter diesen Annahmen wäre theoretisch eine 40 Stundenwoche umgesetzt.

Sie ahnen es vielleicht schon, denn wenn etwas theoretisch als umgesetzt gilt, dann heißt das nicht, dass es auch tatsächlich praktisch so ist. Zunächst stellt sich da die Frage: Was ist überhaupt Bereitschaftsdienst? Hier lohnt ein Blick ins Kleingedruckte. Bereitschaftsdienst ist Arbeitszeit, so urteilte der Europäische Gerichtshof. (6) Und deshalb gelten auch die Ruhezeitregelungen wie bei Arbeitszeit. (7) Hält man sich an den Tarifvertrag, dann dürfen Ärzte nicht mehr als 4 Bereitschaftsdienste pro Monat und diese auch nur an maximal zwei Wochenenden arbeiten. (8) (Bei der Dauer des Bereitschaftsdienste gehen wir der Einfachheit halber von einem Bereitschaftsdienstzeit von 8 Stunden aus. Diese Annahme entspricht nicht der Realität, sorgt aber auch dafür, dass die folgenden Rechnung nachvollziehbar bleibt.

Eine längere Dienstzeit verkleinert zwar die Planstellenzahl der Abteilung, vergrößert gleichzeitig aber die Belastung des einzelnen Arztes noch zusätzlich.) Die Zahl der zu besetzenden Bereitschaftsdienste errechnet sich aus 21x2 für die Wochentage plus 3x9 für die Wochenende. So kommt unsere Krankenhausabteilung mit vier Stationen auf 68 8-Stundenbereitschaftsdienste. Hätte die Abteilung nur 8 Ärzte, dann müsste jeder Arzt 8
Dienste übernehmen, bestünde sie aus 12 Ärzten, dann bleiben immer noch 5,6 Dienste pro Arzt übrig.

Erst mit 17 Ärzten wäre diese Abteilung im Sinne des Tarifvertrages redlich mit Ärzten versorgt, denn nur dann müsste kein Arzt mehr als 4 Dienste im Monat machen. In der Praxis werden, wie schon gesagt, keine 8 Stundenschichten gemacht, sondern längere Bereitschaftsdienstzeiten geplant. Früher folgten die 16 Stunden Bereitschaftsdienst einfach auf einen normalen Arbeitstag und es wurde stillschweigen erwartet, dass am Folgetag, noch die Tagesroutine erledigte, bevor man nach Hause ging. So kam man dann auf 24+5 = 31 Stunden in einem Rutsch. Gegen 13 Uhr ging man dann in seinen „Freizeitausgleich“ und kam am nächsten Morgen wieder zur Arbeit. Es gab Abteilungen in denen die Ärzte 6, manchmal sogar 8 solcher Dienste pro Monat bewältigten. Irre, aber so etwas gibt es zum Glück heute nicht mehr, oder ?

Das alles könnte den Patienten ja egal sein, Hauptsache es ist ein Arzt da. Eher nicht, denn lange Wachphasen gehen mit Schlafentzug einher und der hat Folgen. 24 Stunden Wachheit erzeugen beim Menschen - ja auch Ärzte sind Menschen - einen Zustand der dem eines Alkoholpegels von 0,5 bis 1,0 Promille entspricht. (5a) Je mehr Kurzschlafnächte auf einander folgen, desto mehr nimmt die Leistungsfähigkeit ab. (5b) Möchten Patienten wirklich von Ärzten behandelt werden, die formal wahrscheinlich nicht mehr fahrtauglich sind? Schlafentzug verursacht zwar keine Fahne und auch kein Signal beim Pustetest auf Alkohol. Nach 24 Stunden ohne Schlaf kommt der Arzt in einem Zustand, in dem nicht sicher ist, ob er noch verantwortungsvoll Entscheidungen für seine Patienten fällen kann. Dürfte der Arbeitgeber diesen Arzt überhaupt noch mit dem eigenen PKW selbst nach Hause fahren lassen?

Ein Assistenzarzt im Krankenhaus arbeitet 40 bzw. 38,5 Stunden in der Regelarbeitszeit (8), dazu kommt üblicherweise noch ein Bereitschaftsdienst pro Woche dazu. Da diese Dienste in der Regel länger als 8 Stunden sind, kommen Ärzte, die sowieso schon regelmäßig Mehrarbeit machen, schnell auf 60 oder 70 Stunden und mehr pro Woche im Krankenhaus.

Ein Viertel aller Ärzte macht Mehrarbeit ohne Bezahlung und ohne Freizeitausgleich und verzichtet damit ständig auf 4 bis 11 Prozent seines Gehalts. (2) Alternativ könnte man auch sagen, diese Ärzte verzichten auf einen relevanten Teil ihrer Lebenszeit. Denn wer regelmäßig 59 Stunden an fünf Tagen die Woche arbeitet, verbringt bereits 12 Stunden pro Werktag auf der Arbeit. Kommt da noch eine halbe Stunde Hin- und Rückweg dazu, nimmt die Arbeit schon 13 Stunden vom Tag ein. Geht man von mindestens 6 Stunden Schlaf aus, bleiben theoretisch noch 5 Stunden Wachzeitzeit übrig. Braucht ein Arzt jedoch 8 Stunden Schlaf, dann muss er mit täglich 3 Stunden Wachfreizeit auskommen, zumindest theoretisch.

Ärztliche Anwesenheitszeiten im Krankenhaus von 60, 70 oder mehr Stunden pro Woche, in denen außerdem Nachtarbeit geleistet wird, sind nicht gesund. (8a) Nachtarbeit steht im Ruf Krebs zu begünstigen (8b). Dazu kommt, dass alle 11 Risikofaktoren zur Entwicklung von psychischer Erkrankung mit dem Arztberuf einhergehen. (8c) Das ist alles nicht gut für den Arzt. Außerdem - und das ist wieder eines dieser kleinen schmutzigen Geheimnisse - findet
wissenschaftliches Arbeiten der Assistenzärzte überwiegend in der Freizeit der statt, also nach Dienstende. Die Welt der Wissenschaft konkurriert in der verbleibenden Wachzeit der Ärzte, also den drei bis fünf Stunden pro Tag, mit dem gesamten Rest des Alltagslebens, also von Zähneputzen bis Feiern gehen. Ob das gut ist für den wissenschaftlichen Fortschritt?
Vielfach bereiten Ärzte in Disziplinen mit geringer Dienstbelastung während des Bereitschaftsdienstes Arztbriefe für anstehende Entlassungen vor. Eigentlich ist das nicht Sinn der Sache, weil so Regelarbeitszeit in die Bereitschaftsdienstzeit verlagert wird und dies dem Wesen des Bereitschaftsdienstes nicht entspricht. In den Fachrichtungen mit hoher Dienstbelastung, verlagert sich das Arztbriefschreiben dann in die „Freizeit“, so kommt es zur Mehrarbeit. Es wird allgemein angenommen, das Ärzte während des Bereitschaftsdienstes im Krankenhaus weniger als 50 % der Zeit arbeiten. Deshalb ist die Bezahlung der Bereitschaftsdienste geringer als die der Regelarbeitszeit. (9)

Bei einer angenommenen Arbeitsbelastung von unter 25 % reduziert sich die Vergütung auf 60 %, bei 25 - 40 % auf 75 % und bei 40 - 49 % auf 90 Prozent des Grundlohns. (9) Beim Freizeitausgleich gilt entsprechend, für eine angenommene Arbeitsbelastung von unter 25 %, ein Ausgleich von 37 Minuten pro Bereitschaftsdienststunde, bei 25 - 40 % ein Ausgleich von 46 Minuten, sowie bei 40 - 49 % Belastung ein Freizeitausgleich von 55 Minuten pro Bereitschaftsdienststunde. Diese Regelung erfordert das Anerkennen von Arbeitgeber und Ärzten, wie viel in der Bereitschaftszeit tatsächlich gearbeitet wird. Wird regelmäßig mehr als 50 Prozent der Bereitschaftsdienstzeit gearbeitet, dann kann es sich eigentlich nicht mehr um Bereitschaftsdienst handeln. Hier klaffen Betriebsvereinbarung und Wirklichkeit sicherlich immer mal wieder auseinander. Da hilft dann auch eine Arbeits- und Dienstzeiterfassung nicht weiter.
Die 6 Stunden, die jeder Arzt im Krankenhaus regelmäßig pro Woche mehr arbeitet, sind Ausdruck der permanenten Abwägung der Arztgesundheit gegen die Patientengesundheit. Es handelt sich dabei gerade nicht um erfasste und angeordnete Überstunden, sondern um stillschweigend akzeptierte Mehrarbeit.

Wenn Ärzte zwischen der Gesundheit von zwei Patienten abwägen müssen, weil Ressourcen fehlen, dann nennen wir das Triage. Wenn davon gesprochen wird, Triage sei erforderlich, weil sonst das Gesundheitswesen zusammenbrechen könnte (10,11,12), dann kann damit nur die oben geschilderte Triage, bei der Ärzte ihre eigene Gesundheit gegen die der Patienten abwägen, gemeint sein. Und nur weil die Ärzte ihre Gesundheit zurückstellen, kommt es nicht schon heute dazu, dass Ärzte die Gesundheit von zwei Patienten gegeneinander abwägen. Wie war doch gleich der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts? Triage muss frei von Diskriminierung sein!

Das Gesundheitssystem diskriminiert die Ärzte bereits in Nichtpandemiezeiten. Käme es in einer Pandemie zur Triage, dann gäbe es für Ärzte derzeit keine Chance der Kriminalisierung bei der geforderten Triage zu entgehen. Hochbezahlte Anwälte werden danach über Gerichtsverfahren prüfen, ob die Gegebenheiten das Unterlassenen oder Beenden der Therapie für einzelne Patienten legitimierte. Bei den aktuell geplanten Gesetzesentwürfen ist keineswegs klar, wie diese Prozesse ausgehen werden. Und was die Diskriminierungsfrage der Patienten angeht, sieht es nicht besser aus.
Wie sollen Ärzte Überlebenschancen von Patienten abwägen, ohne das Kriterium Krankheit?
Krankheit ist der entscheidende Risikofaktor für wahrscheinlichen Tod. Behinderung realisiert sich bei der Triage um Intensivtherapie als Krankheit. Wie Ärzte bei einer Triage ohne Diskriminierung von Krankheit die kurzfristige Überlebenschance eines Menschen abschätzen sollen, bleibt wohl bis auf weiteres ein gut gehütetes Geheimnis.

Warum sollten sich junge Ärzte unter solchen Umständen zur Tätigkeit in der Patientenbehandlung im Krankenhaus bereitfinden?

Wenn Sie eine Streitschrift, auf die verwiesen wurde nicht haben, dann schreiben Sie mir bitte. Ich schicke die Ihnen gerne.
Stefan Streit, Frankfurter-Str.82 51065 Köln

Quellen:
(1) Link
(2) Jeder vierte Klinikarzt will hinwerfen von Christian Geintz, in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 12.08.2022 auf Seite 18
(3) Link
krank-macht_id_9652629.html
(4) Link
(5) Link
(5a) Messung der Leistungsfähigkeit der AGARD-STRES-Battery nach partiellem Schlafentzug im
Vergleich zu Alkohol und Hypoxie (2011), in der Dissertation von G. Ökan aus Aachen ab Seite 117
(5b) Auswirkungen von Schlafentzug auf die diagnostischen Fähigkeiten von Radiologen: eine ROC-Studie, von 2011 in einer Dissertation von K.Schaller aus Freiburg i.B., Seite 39
(6) Link
(7) Link
Bereitschaftsdienst
(8) Link
(Seite 21)
(8a)Link
(8b) Link
(8c) Link
(9) Link
(Seite 9)
(10) Triage-Gesetz: Ärztliches Selbstverständnis in Gefahr von Marin Bornemeier in Rheinisches Ärzteblatt Heft 9/2022 auf Seite 24
(11) „Wir reden über ein echtes Dilemma“ Michaela Schwinn interviewte die Direktorin am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht Tatja Hörnle für die Süddeutsche Zeitung vom 23.06.2022 auf Seite 6
(12) Feinschliff am Triage-Gesetz sorgt für Streit von (hom) in Ärztezeitung von 3.8.2022

Von Mehrarbeit, Arztgesundheit und Triage Stefan Streit, November 2022

Quelle: Büro gegen Altersdiskriminierung, Stefan Streit