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EuGH: Zwangspensionierung ungarischer Richter altersdiskriminierend

06.11.2012

Die starke Absenkung des Rentenalters ungarischer Richter stellt eine nicht gerechtfertigte Diskriminierung aufgrund des Alters dar. Diese Maßnahme steht außer Verhältnis zu den vom ungarischen Gesetzgeber verfolgten Zielen der Vereinheitlichung des Rentenalters im öffentlichen Dienst und der Herstellung einer ausgewogeneren Altersstruktur in der Justiz.

In Ungarn konnten bis zum 31. Dezember 2011 Richter, Staatsanwälte und Notare bis zum Alter von 70 Jahren im Dienst bleiben. Im Jahr 2011 wurden die ungarischen Rechtsvorschriften jedoch dahin gehend geändert, dass ab 1. Januar 2012 Richter und Staatsanwälte, die das allgemeine Ruhestandsalter von 62 Jahren erreicht haben, aus dem Amt ausscheiden müssen. Für die Richter und Staatsanwälte, die dieses Alter vor dem 1. Januar 2012 erreicht haben, sehen die ungarischen Rechtsvorschriften vor, dass ihr Dienst am 30. Juni 2012 endet. Erreichen sie dieses Alter zwischen dem 1. Januar 2012 und dem 31. Dezember 2012, müssen sie am 31. Dezember 2012 aus dem Amt ausscheiden. Ab 1. Januar 2014 müssen auch die Notare an dem Tag, an dem sie das allgemeine Ruhestandsalter erreichen, aus dem Amt ausscheiden.

Da die Kommission der Ansicht war, dass eine so schnelle und radikale Senkung der zwingenden Altersgrenze für den Eintritt in den Ruhestand eine nach der Richtlinie über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf1 verbotene Diskriminierung aufgrund des Alters zulasten der Richter, Staatsanwälte und Notare, die dieses Alter erreicht hätten, im Verhältnis zu denen, die im Dienst bleiben könnten, darstelle, hat sie eine Vertragsverletzungsklage gegen Ungarn erhoben.

Der Gerichtshof hat dem Antrag der Kommission stattgegeben, über diese Rechtssache im beschleunigten Verfahren zu entscheiden; dadurch konnte die Verfahrensdauer auf fünf Monate verkürzt werden. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass sich die Richter,Staatsanwälte und Notare, die das Alter von 62 Jahren erreicht haben, in einer vergleichbaren Situation wie die jüngeren Personen befinden, die dieselben Berufe ausüben. Die Erstgenannten sind jedoch wegen ihres Alters gezwungen, aus dem Dienst auszuscheiden, so dass ihnen eine weniger günstige Behandlung zuteil wird als den im Dienst bleibenden Erwerbstätigen. Diese Situation stellt daher eine unmittelbar auf dem Alter beruhende Ungleichbehandlung dar.

Allerdings können sozialpolitische Ziele, etwa aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt oder berufliche Bildung, eine Ausnahme vom Grundsatz des Verbots von Diskriminierungen aus Gründen des Alters rechtfertigen. Hierzu stellt der Gerichtshof fest, dass die von Ungarn angeführten Ziele – das Erfordernis der Vereinheitlichung des Rentenalters im öffentlichen Dienst und die Herstellung einer ausgewogeneren Altersstruktur, die den Zugang junger Juristen zu den betreffenden Berufen erleichtert – sozialpolitischer Art sind.

Zum Ziel der Vereinheitlichung hebt der Gerichtshof hervor, dass die von den fraglichen Rechtsvorschriften betroffenen Personen vor dem 1. Januar 2012 bis zum Alter von 70 Jahren im Dienst bleiben konnten, was bei ihnen die berechtigte Erwartung weckte, bis zu diesem Alter
1 Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. L 303, S. 16).
im Dienst bleiben zu können. Durch die fraglichen Rechtsvorschriften wurde aber eine plötzliche und erhebliche Senkung der Altersgrenze für das zwingende Ausscheiden aus dem Dienst vorgenommen, ohne Übergangsmaßnahmen vorzusehen, die geeignet gewesen wären, das berechtigte Vertrauen der Betroffenen zu schützen. Sie müssen daher automatisch und endgültig den Arbeitsmarkt verlassen, ohne Zeit gehabt zu haben, die durch eine solche Situation erforderlich werdenden Maßnahmen insbesondere wirtschaftlicher und finanzieller Art zu ergreifen. Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass zum einen das Ruhegehalt dieser Personen um mindestens 30 % niedriger als ihre Dienstbezüge ist und dass zum anderen die Einstellung der Tätigkeit nicht den Beitragszeiten Rechnung trägt, so dass kein Anspruch auf ein Ruhegehalt zum vollen Satz gewährleistet ist.

Der Gerichtshof führt weiter aus, dass ein Widerspruch zwischen der Senkung des Ruhestandsalters um acht Jahre ohne zeitliche Staffelung dieser Änderung und der Erhöhung des allgemeinen Ruhestandsalters um drei Jahre (von 62 auf 65 Jahre) besteht, die vom Jahr 2014 an über acht Jahre hinweg vorgenommen werden soll. Dieser Widerspruch deutet darauf hin, dass die Interessen derjenigen, die von der Absenkung der Altersgrenze betroffen sind, nicht in gleicher Weise berücksichtigt wurden wie die Interessen der übrigen Beschäftigten im öffentlichen Dienst, bei denen die Altersgrenze angehoben worden ist.

Unter diesen Umständen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die starke Senkung des Eintrittsalters in den Ruhestand um acht Jahre bei den betreffenden Berufen keine zur Erreichung des Ziels der Vereinheitlichung des Rentenalters im öffentlichen Dienst erforderliche Maßnahme ist.

Schließlich prüft der Gerichtshof das von Ungarn angeführte Ziel der Herstellung einer ausgewogeneren Altersstruktur. Dabei erkennt er zwar an, dass die nationale Regelung kurzfristig den Zugang junger Juristen zu den betreffenden Berufen erleichtern kann, hebt aber hervor, dass die erwarteten, kurzfristig offenkundig positiven Wirkungen die Möglichkeit in Frage stellen können, mittel- und langfristig zu einer wirklich ausgeglichenen „Altersstruktur“ zu gelangen. Zwar wird nämlich im Lauf des Jahres 2012 die Erneuerung des Personals der betreffenden Berufe ganz erheblich dadurch beschleunigt, dass acht Altersstufen durch eine einzige (die von 2012) ersetzt werden, doch wird dieser Rotationsrhythmus im Jahr 2013 ebenso radikal gebremst, wenn nur eine Altersstufe ersetzt werden muss. Zudem wird dieser Rhythmus nach und nach in dem Maße langsamer, in dem die Altersgrenze für das zwingende Ausscheiden aus dem Dienst stufenweise von 62 auf 65 Jahre angehoben wird, was sogar zu einer Verschlechterung der Möglichkeiten des Zugangs junger Juristen zu den Justizberufen führen wird. Somit ist die fragliche Regelung nicht zur Verfolgung des Ziels der Herstellung einer ausgeglicheneren „Altersstruktur“ geeignet.

Da die nationale Regelung eine Ungleichbehandlung herbeiführt, die zur Erreichung der verfolgten Ziele weder geeignet noch erforderlich ist und somit nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt, hat Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie verstoßen.
HINWEIS: Eine Vertragsverletzungsklage, die sich gegen einen Mitgliedstaat richtet, der gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat, kann von der Kommission oder einem anderen Mitgliedstaat erhoben werden. Stellt der Gerichtshof die Vertragsverletzung fest, hat der betreffende Mitgliedstaat dem Urteil unverzüglich nachzukommen.

Ist die Kommission der Auffassung, dass der Mitgliedstaat dem Urteil nicht nachgekommen ist, kann sie erneut klagen und finanzielle Sanktionen beantragen. Hat ein Mitgliedstaat der Kommission die Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie nicht mitgeteilt, kann der Gerichtshof auf Vorschlag der Kommission jedoch bereits mit dem ersten Urteil Sanktionen verhängen.

Urteil in der Rechtssache C-286/12

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union PM, Nr. 139/12