Lüttich, Gare de Guiellmine 2012 Foto: H.S.
12.05.2014 - von cc. Hanne Schweitzer
Das Schlimmste war befürchtet worden. Nachdem die Stadt Lüttich ihre Bewerbung um die Expo 2017 beschlossen hatte, sollte "ein weltweites dynamisches Schaufenster für Kultur, Beschäftigung und Unterhaltung" aus der schlunzig-melancholischen Stadt werden, wo die schönsten Häuser den Advokaten gehören, die Hunde hinscheißen, wo sie wollen, und auf Graffiti wohl die Todesstrafe steht, denn es gibt sie so gut wie nicht.
Doch die Bewerbung blieb erfolglos. Ältere LütticherInnen hatten nichts dagegen. Nur mit unguten Gefühlen erinnern sie sich an die letzten Expos in Lüttich. Die von 1930 markiert für viele den Beginn der Weltwirtschaftskrise. Zudem wird sie, da es eine Parallelveranstaltung in Antwerpen gab, in den offiziellen Listen nicht geführt. Und die Expo im Jahr 1939 wurde, wegen des Angriffs der deutschen Wehrmacht auf Polen und der Kriegsgefahr, die Belgien und damit auch Lüttich drohte, vorzeitig geschlossen. Nun wird das "internationale Leuchtfeuer der Umstrukturierung" 2017 in Astana, Kasachstan brennen. Und am Ufer der Maas, im nördlichen Stadtteil Coronmeuse, soll auf den für die Expo vorgesehenen 25 Hektar Land stattdessen ein Ökoviertel entstehen.
Packen Sie bequeme Schuhe ein
Nehmen Sie den Zug und fahren Sie nach Lüttich. Packen Sie bequeme Schuhe ein und die Kamera. Um`s Essen und Trinken brauchen Sie sich nicht zu sorgen. In Liège wird sehr viel besser gekocht, als z.B. in der Partnerstadt Köln, und es wird mindestens genau so viel Bier und Wein getrunken. Die Stadt an der Meuse, was Mööhs gesprochen wird und bei Teenagern zuverlässig zu fröhlichem Gekicher führt, zeichnet sich durch lupenreine Flickschusterei aus. Die normierte Glattheit der aufgemotzten Innenstädte fehlt. Betonfassaden hässlicher Zweckbauten aus den 60igern bröckeln. Entsetzliche Autoschneisen verunstalten das Maas-Ufer. Hochhausriegel versperren die Sicht. Villen befremden oder begeistern in allen nur denkbaren Stilen, während die Immobilienshops im weltweit einheitlichen Corporate Design des Franchise-Unternehmens Engel&Völker daherkommen. Renaissance-Gebäude warten auf ihre Renovierung. Nebendran charmantes Restaurationsbemühen oder Kaufmannshäuser von solcher Wucht, dass man ganz von selbst an die Ausbeutung des Kongos denken muss. Vergammelter Jugendstil, Jazzkneipen, Hinterhöfe, die aussehen wie früher. „Nirgends habe ich einen merkwürdigeren, freudloseren, prächtigeren, architektonischen Komplex gesehen“, schrieb Victor Hugo über den Fürstbischöflichen Palast aus dem 16.Jahrhundert. Den kann man heute noch bestaunen und Hugos Anmerkung nachvollzieben - oder auch nicht.
Fahrradwege: Fehlanzeige
Autoverkehr dominiert die Stadt. Fahrradwege Fehlanzeige. Stattdessen Hafenanlagen für die Containerschifffahrt und ein Yachthafen, wo in der Brasserie "La Capitainerie" Plateau de fruits de mer auf der Karte steht, was den Anblick der ehemals romanischen Kirche St. Bartholomäus (Eglise Saint-Barthélemy), die unbegreiflicherweise komplett barockisiert wurde, leider nicht sehr viel erträglicher macht.
Wer dem städtebaulichen Tohuwabohu Lüttichs entkommen will, einem Tohuwabohu, zu dem deutsche Armeen durch gezielte Zerstörungen im ersten wie im zweiten Weltkrieg erheblich beigetragen haben, steigt eine der Treppenstraßen hinauf, mit deren Hilfe jene Stadtviertel erschlossen werden, die durch die Bebauung der steilen Hügel entstanden sind. Im Viertel am Bauernberg (Montagne de Bueren) möchte man nicht Briefträger sein. Bis oben sind es 373 Stufen. Bequemer ist es, im Viertel Outremeuse auf den Spuren des Erfinders von Kommissar Maigret entlang zu spazieren. Goldfarbene, kreisrunde Markierungen im Pflaster weisen den Weg zu den Orten, an denen es sich der belgische Krimiautor Georges Simenon gut gehen ließ. Zwar auch hier, wie überall in der Innenstadt, wenig Grün und kaum Bäume, aber Vin Blanc oder Bier am Vormittag - c´est normal.
Konstant hohe Arbeitslosigkeit
Lüttich hat nur knapp 200.000 Bewohner. Im Ballungsgebiet Lüttich sollen es 600 000 sein. Seit die produzierende Industrie (Kohle und Stahl) tot ist und die Dienstleistungswirtschaft mit ihren sogenannten Exzellenzpolen (Luftfahrt, Metallurgie, Maschinenbau, Raumfahrt, Biotechnologie, Informationstechnologie) kaum noch ArbeiterInnen braucht, und weil die Bauarbeiten für das neue Lütticher Straßenbahnnetz (!) noch nicht begonnen haben, ist die Arbeitslosigkeit in der Region konstant hoch.
Bei den letzten Kommunalwahlen, im Oktober 2012 schlug sich die ökonomische Misere wie folgt nieder: Die Sozialisten, die in etwa unseren linken Sozialdemokraten entsprechen, bekamen die meisten Stimmen. Die Liberalen verloren drei Mandate, bei den Christdemokraten, blieb alles beim Alten mit 14 Prozent. An vierter Stelle stehen die Grünen mit 12 Prozent, danach die Marxisten (Parti du Travail de Belgique) mit sechs Prozent und zwei neuen Mandaten.
Keine Rechten also. Da ist man froh.
Und kann die Fritten am Büdchen, ein Menü am weiß eingedeckten Tisch, die vielen belgischen Biersorten oder die Gelassenheit der Gäste in den Bistros umso mehr genießen. Auf den besten Plätzen vor den Restaurants sitzen zuverlässig Tag für Tag ältere Belgierinnen in der Abendsonne, die zu Bluse und Jackett mit Vorliebe Rock, Nylonstrümpfe und Pumps tragen. Oft haben ihre sorgfältig ondulierten Haare einen leichten Stich ins Blaue. Sonntags, wenn in Leodicum, wie Liège bei den Römern genannt wurde, zwischen 8 und 14 Uhr Markt ist, geht es in den Eckkneipen deftiger zu, auch wenn die Ladys das gleiche Outfit tragen.
Der schönste Bahnhof der Welt
Nehmen Sie den Zug und fahren Sie nach Lüttich. Die Stadt und der Bahnhof sind es wert. (Über die dort aufgestellten Papierkörbe siehen Sie besser hinweg.) Der Bahnhof Liège-Guillemins ist unglaublich. Wie von einem anderen Stern. Der schönste Bahnhof der Welt, wenn auch zu viel groß für die kleine Stadt. 40 Meter hoch, 200 Meter lang und 160 m breit mißt ein Baldachin aus Glas, der auf- und abschwingend über den Gleisen und dem Bahnhofsvorplatz angebracht ist. Gehalten und getragen wird er von weiß lackierten Stahlstreben, die in milchweißem Beton verankert sind und darum wie alles in diesem Bahnhof, fortdauernder Pflege bedürfen und ständig gewischt oder geweißt werden. Eine klassische Außenfassade gibt es nicht. Innen und Außen fließen ineinander, breite Treppen und jede Menge Rolltreppen stellen die Verbindung zwischen Oben und Unten her. Man denkt, es zieht wie Hechtsuppe, aber es zieht kein bisschen.
Die Transparenz des Gebäudes macht die Orientierung leicht. Zudem spricht der Fahrkartenverkäufer flämisch, französisch, englisch und deutsch, und selbst die gute alte Bahnhofsuhr ist, im Gegensatz z.B. zum Essener Hauptbahnhof, noch vorhanden. Die Bahnhofshalle firmiert zwar unter dem Namen Galerie, wurde aber mit Bedacht nicht als Einkaufszentrum konzipiert. Statt Importramschgeschäften, Hamburgerläden oder Rollmopsketten lädt ein Bahnhofsrestaurant (!) dazu ein, an gedeckten Tischen Platz zu nehmen. Hier werden vom frühen Morgen bis abends spät Speisen von guter Qualität serviert, weshalb das Restaurant schnell zu einem Treffpunkt der Lütticher geworden ist.
Santiago Calatrava, der spanische Architekt des 2009 eingeweihten Meisterwerks Liège-Guillemins, das samt Eisenbahninfrastruktur für die neun Gleise, samt drei Parketagen plus Fußgängerbrücke "nur" 476 Millionen Euro gekostet hat (Gruß nach Stuttgart), wollte eigentlich mehr realisieren, als den Bahnhof.* Zum Glück ist das bisher nicht gelungen. Denn die Entwürfe dessen, was sich vom Bahnhof bis zur Meuse eigentlich erstrecken sollte, erinnern fatal an die Pläne eines gewissen Herrn Speer für Berlin oder auch an den Stadteil Antigone, der von Ricardo Bofill in Montpellier realisiert werden konnte und mit seinen gigantischen dorischen Säulen, den monumentalen Gebäuden im Stil der Renaissance und der perfektionstischen Anlage Albträume verursachen kann.
Bisher haben komplizierte Besitzverhältnisse Calatravas Architektentraum von einer Brutalo-Modernisierung Lüttichs verhindert. Und so kommt es, dass dem drohenden Untergang des alten Liège-Tohuwabohus rund um den Bahnhofsvorplatz noch beharrlich getrotzt wird. Proletarische Kneipen mit geselligen Gästen halten sich in alten Backsteinhäusern. Die Mieten sind (noch) bezahlbar. Nutten sitzen auf Barhockern in Schaufenstern, Wettlokale werben um Zocker, chinesische Imbisse um Glutamatliebhaber. Ein paar Häuser weiter, im kleinen, frisch renovierten Hotel einer spanischen Kette, gibt es Zimmer mit wirklich bodengleichen Duschen und einem Superblick auf den Bahnhof.
Nehmen sie den Thalys, Eurostar, ICE oder TGV und fahren Sie nach Lüttich. Bald, denn man weiß ja nie. Und vergessen Sie die Kamera nicht. Denn Ansichtskarten des Bahnhofs gibt es keine. Die Nationale Gesellschaft der belgischen Eisenbahnen (SNCB) möchte das nicht.
*
Der Bahnhof in Lissabon, anlässlich der Expo gebaut, und auch von Calatrava entworfen, wirkt im Vergleich zu dem in Lüttich wie eine Vorübung: Plumper und insgesamt sehr viel weniger durchdacht. Aber er passt in seiner Größe zur Stadt, während der in Lüttich wirklich viel zu groß ist. Was einem jede/r Lütticher auch sofort sagt.
Erstveröffentlichung: Dezember 2012
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