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Lesenswerte Rede von Volker Lösch über 10 Jahre DIE LINKE

Foto: H.S.

11.09.2017 - von Volker Lösch

Es war eine andere Zeit, damals vor 10 Jahren, als die LINKE gegründet wurde, eine Zeit politischen Stillstands. Sarkozy gewann die Wahl in Frankreich, Horst Köhler war Bundespräsident, George W.Bush war leider auch Präsident, Angela Merkel Bundeskanzlerin. Es fühlte sich so an, als sei der Neoliberalismus unaufhaltsam, und somit eine hinzunehmende Naturerscheinung.

Ich habe ein Jahr davor am Staatstheater Stuttgart anlässlich meiner Inszenierung von Brechts „Johanna der Schlachthöfe“ eine Befragung zum Thema Armut und Reichtum durchgeführt. Es war damals schon erkennbar, dass Ungerechtigkeiten zunehmend den Alltag vieler bestimmen. Aber eine weit verbreitete Zukunftsangst war 2007 noch nicht zu spüren.

Da ich meine Theaterarbeiten – die in vielen Städten in Deutschland, Österreich und der Schweiz stattfinden – meistens mit journalistischen Recherchen bei den unterschiedlichsten sozialen Gruppen thematisch auflade, kann ich die sich verändernde Stimmung der letzten 10 Jahren ganz gut beschreiben.

Meine Dramturg*innen nennen unsere Arbeiten ja auch „soziologische Tiefenbohrungen“, „theatrale Feldforschungen“ oder „seismographische Bestandsaufnahmen“. 40 Inzenierungen später, nach der Stuttgarter „Johanna“ 2006, kann man ohne Übertreibung sagen, dass die Verschiebungen und Verwerfungen in der Gesellschaft dramatische Ausmaße angenommen haben.

Permanente Unsicherheit und Angst sind fast unmerklich so etwas wie Bindemittel zwischen Generationen und Gesellschaftsschichten geworden. Die Unlust am Politischen hat deutlich zugenommen, das Vertrauen in Politik und Demokratie ist vielerorts nicht nur weg, sondern großem Unmut und Hass auf Politiker*innen gewichen.

Aber gleichzeitig ist spüren, dass das Bewusstsein, dass es so nicht weitergehen kann, wächst. Das liegt auch daran, dass Armut sichtbarer wird, die obszöne Differenz zwischen den zahlreicher werdenden Armen, und denen, die extrem reich sind, immer mehr ins Auge springt. Dass sich unsere Städte durch Privatisierungen zum Schlechten verändern, wird plötzlich am eigenen Leib erfahren. Jeder kennt inzwischen jemanden, der seine Miete nicht mehr zahlen kann, der mal wieder aus einem schlecht bezahlten Job rausgefallen ist – oder man ist gar selbst davon betroffen.

Die Empörung darüber wächst, und anders als 2007 spüre ich in vielen Gesprächen, dass die Sehnsucht nach Veränderung zunimmt. Die Frage nach dem „WIE“ wird häufiger gestellt. Die Zeit scheint reif dafür, grundlegende Dinge in Frage zu stellen und zu debattieren. Das Bedürfnis wächst, über andere Lebensformen und Lebensmodelle zu diskutieren.

Es herrscht eine merkwürdige Stimmung: Politik wird einerseits abgelehnt und verteufelt, und gleichzeitig politisiert sich die Gesellschaft. Die Situation ist seit vielen Jahren wieder offen, es bewegt sich etwas, und eine diffuse Sehnsucht nach einer anderen Form des Zusammenlebens ist mit Händen zu greifen.

Mit dem beruflichen Privileg ausgestattet, in verschiedenste Milieus reinhören zu können, mache ich in den letzten Jahren gerne folgendes Experiment: in den Interviews – ob mit Recht-auf-Stadt-AktivistInnen in Bonn, mit sogenannten Abgehängten im Ruhrgebiet, mit Rechten in Dresden, mit Flüchtlingshelfer*innen in Mannheim oder mit jungen Muslima und Moslems – kommen wir immer irgendwann darauf, dass man konkret etwas tun müsste, um unser Leben zum Besseren zu verändern.

Ich schlage dann zum Beispiel die Erhöhung des Mindestlohns vor, rede von der Wiedereinführung der Vermögenssteuer, der Erhöhung der Erbschaftssteuer, argumentiere, dass man man von oben nach unten umverteilen muss, nachdem man das ja 40 Jahre lang konsequent anders herum gemacht hat. Ich schildere machbare politische Szenarien, gehe manchmal, wenn ich ganz übermütig werde, auch so weit, den Kapitalismus grundsätzlich in Frage zu stellen. Ich vermittle in diesen Gesprächen also die Inhalte eures Programms. Linke Programmatik, die nachvollziehbar die Welt zum Besseren verändern kann. Breite Zustimmung bis dahin! Dann deute ich an, dass es bereits einen Ort gibt, an dem diese Programmpunkte gesammelt, durchdacht und formuliert werden, und dann spreche ich es aus: bei der LINKEN. Und das war’s dann meistens.

Das Gespräch versandet, und mündet in den immergleichen Monolog: „Erstens ist die LINKE die ehemalige, überaltete SED-Partei, voll von Betonköpfen und Kommunisten, die nur mein Leben wieder gleichschalten wollen“. Zugegeben, da habt ihr kleines Imageproblem.
Zweitens, und jetzt wird’s spannend: „Wir glauben nicht daran, dass diese Punkte von dieser Partei auch umgesetzt werden. Lass‘ sie an die Macht kommen, und die machen dann – so wie alle anderen – genau das Gegenteil dessen, weswegen wir sie gewählt haben.“
Ende des Gesprächs. Fazit: – und das erlebe ich wirklich oft! – „Euren Inhalten folge ich zu hundert Prozent, allein mir fehlt der Glaube, dass ihr sie auch umsetzen werdet“.

Und das ist ein sehr interessantes Paradoxon! Das Potential für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen ist also da, man vertraut denen aber nicht, die sich am sich am meisten dafür anbieten, diese auch anzugehen. Dabei sehnen sich sehr viele danach, politisch links vertreten zu werden. In den USA hätten die Demokraten mit Sanders Trump wahrscheinlich verhindert. In Spanien gibt es eine massenhafte Zustimmung für linke Ideen, PODEMOS verpasst es aber gerade, diese in konkrete Politik umzusetzen. In Griechenland war eine deutliche Bevölkerungsmehrheit für einen radikalen Gesellschaftsumbau, – da gab es sogar die vielbeschworene Massenbewegung! – Tsipras und Co. haben es spektakulär vermasselt. In Frankreich sind die LINKEN mit fast 20 Prozent beinahe in die Stichwahl zur Präsidentschaft gekommen, und in England hat Corbyn an die 40 Prozent mit einem teilweise radikalen linken Programm eingefahren.

All diese Vorgänge beweisen es doch: die Zeit ist längst reif für eine populäre und breit aufgestellte linke Politik ! Und ich behaupte, dass auch in Deutschland das Potential für die Zustimmung eures Programms größer ist als 20 Prozent.

Wie die Realität dagegen aussieht, wisst ihr. Die LINKE agiert weit unter ihren Möglichkeiten. Was also hakt da, wieso stagniert die Partei bei ungefähr 10 Prozent, was bremst, warum stockt es, was fliegt da nicht? Was ist uncool an der LINKEN? Wieso erreicht ihr so viele nicht, die ihr meint, die aber ihrerseits meinen, dass ihr sie nicht meint?

Ich glaube, dass drei Gründe dabei eine entscheidende Rolle spielen. Um das zu beschreiben, möchte einen kurzen Blick nach Frankreich werfen, denn der französische Schriftsteller und Soziologe Didier Eribon hat dazu ein beeindruckendes Buch geschrieben. In seiner Autobiografie „Rückkehr nach Reims“ schildert er seine Kindheit im Arbeitermilieu und den Aufstieg des rechtsextremen Front National. Er widmet sich der Frage, warum Fabrikarbeiter, die immer linke Parteien gewählt haben, in den 80er-Jahren anfingen, rechts zu wählen.

Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt für Eribon im Klasssenbegriff. Der Begriff Klasse gilt ja als altmodisch und marxistisch. Klassen gibt es gar nicht mehr, heißt es. Seit den 80ern wird die Existenz einer Sozialstruktur nach Klassen verleugnet. Stattdessen spricht man von der „Selbstbestimmtheit des Individuums und dessen Verantwortung für sich selbst“. Wir haben uns jahrzehntelang einreden lassen: „Wenn du arbeitslos bist, keinen Schulabschluss hast oder wenn du arm bist, dann ist das deine Schuld“. Das neoliberale Mantra ist massenhaft verinnerlicht
worden. Damit ist aber allen Arbeiterinnen und Arbeitern ihre Identität genommen worden! Und obwohl soziale Klassen mehr denn je existieren, möchte niemand darüber sprechen.

Und in dieses Vakuum stoßen die Rechten. Sie behaupten, dass sie diejenigen sind, die für die Arbeiterklasse kämpfen. Die Arbeiterklasse im herkömmlichen Sinn gibt es aber gar nicht mehr! „Arbeiter“meint heute nicht nur die, die in Fabriken und Betrieben angestellt sind.

Die alte Arbeiterklasse in ihrer ursprünglichen Homogenität ist längst zu einem anderen, viel heterogeneren sozialen Gebilde transformiert. Sie müsste umbenannt werden in „Prekär-Klasse“. Oder in „Klasse der ausgebeutet Abhängigen“. In „Niedriglohnklasse“. Oder in „Leidtragende des Neoliberalismus-Klasse“.

Egal, wie man sie nennt: es geht darum zu verstehen, dass Niedriglohnjobber, Arbeitslose, prekär Beschäftigte, Asylbewerber*innen, Zeitarbeiter*innen, Taxifahrer*innen, Fabrikarbeiter*innen, Paketfahrer*innen, dass Pflegepersonal, Kassenpersonal, Kita-Personal, dass die meisten Dienstleister*innen, Erzieher*innen, Putzkräfte, auch die am Existenzminimum arbeitenden Freiberufler*innen und viele andere, dass all diese Millionen von Menschen einer Klasse angehören, der „Klasse der prekär Arbeitenden“, der „Klasse der Lohnabhängigen und sozial Benachteiligten“, der „Klasse der um ihre Existenz Kämpfenden“.

Das Problem dabei ist nur, dass diese Klasse nicht weiss, dass sie eine ist! Diese neu zusammengesetzte Klasse muss erst ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass diese vielen unterschiedlichen Lebensentwürfe zusammengehören!Es gibt bisher kein gesellschaftliches Bewusstsein dafür, dass all diese Menschen dasselbe Schicksal teilen. Wenn der Fahrradkurier nicht weiss, dass es derselben Klasse angehört wie der Arbeiter bei Amazon, dann kann der Arbeiter bei Amazon auch nicht solidarisch mit dem Fahrradkurier sein!

Der solidarische Gedanke aber ist entscheidend für die Mobilisierung der Vielen: „Wenn mich dein Leben etwas angeht, weil ich genauso ungerecht behandelt, genauso ausgebeutet werde, durch sozialen Abstieg dasselbe Schicksal teile wie du – wenn deine Geschichte auch meine ist, dann können und dann wollen wir vielleicht auch etwas gemeinsam tun! Und wir sind so viele, das wir jede Forderung durchsetzen können.

Und jetzt seid ihr dran, liebe LINKE.

Genau da müsst ihr ansetzen ! Die LINKE kann die Solidarität dieser Vielen füreinander wecken, indem sie vermittelt, wer alles zu dieser Klasse der Ausgebeuteten gehört. Erst wenn ihr den Klassenbegriff erweitert, wenn ihr beschreibt, dass es diese neue Klasse in dieser Vielfalt überhaupt gibt, dann könnt ihr auch mit ihr rechnen und sie vertreten!

Und nur ihr könnt für diese heterogene Gruppe sprechen. Die Mitte hat kein Angebot für sie, und von rechts kann sie nicht vereinnahmt werden, da sie zu unterschiedlich, zu vielfältig, zu bunt ist. Die Sehnsucht nach Solidarität ist in diesem riesigen sozialen Gebilde größer, als die Bereitschaft, ausgrenzen. Eine aus vielen Unterschiedlichen usammengesetzte Arbeiteridentität kann die nationale Identität ersetzten, die die Rechten so geschickt platziert haben! Man kann auch da von Eribon lernen, der darüber schreibt, dass der „Rasissmus der Arbeiter“ dann verschwindet, sobald die Vielen in gemeinsame soziale Kämpfe eingebunden werden.

Und dann muss sich auch niemand mehr mit sozialnationalen Ressentiments bei angeblich rechten Wähler*innen anbiedern, denn eine viel breiter aufgestellte Arbeiterklasse braucht keine Sündenböcke, und sie braucht auch keinen falschen Heimatbegriff!

Was sie aber braucht, ist eine soziale Alternative. Und deshalb, liebe LINKE, stellt die soziale Frage in den Mittelpunkt, erweitert den Klassenbegriff, und stellt die Klassenfrage neu! Holt euch damit die Nicht-Wähler*innen aus schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen zurück! Dramatisiert die soziale Gerechtigkeit und adressiert sie an alle! Ihr seid die einzigen, die das glaubhaft machen können.Nehmt den Rechten ihre Verzweiflungswähler*innen und ihr verlogenes nationales Identitätsprojekt, indem ihr die Vielen neu zusammendenkt! Die prekär Beschäftigten, die unterbezahlten Arbeiter*innen und Arbeitslosen, diese neue, wachsende und jetzt schon riesige Klasse: gebt ihr einen linken Bedeutungshorizont!

Der zweite Grund für das Verharren der LINKE im unbefriedigenden Mittelfeld scheint mir ein praktischer zu sein. Die LINKE ist im Leben der links engagierten Nicht-Parteigänger*innen zu wenig vorhanden. Sie muss im Alltag einfach präsenter sein. Im Theater würde man sagen, sie muss „rampensäuiger“auftreten. Der Wille, sich konkret vor Ort in die politischen Konflikte einzubringen und einzumischen, sich für lokale Streitthemen zu engagieren, ist zu wenig und nur punktuell spürbar. In der Summe machen diese Aktivitäten aber eure Ausstrahlung aus!

Als Anti-Stuttgart21-Aktivist weiss ich, wie wichtig die Unterstützung der außerparlamentarischen Kräfte ist. Unser Kampf in Stuttgart findet seit 2010 mit inzwischen über 370 Montagsdemos konstant auf der Straße statt, die entscheidenden Punkte werden in der direkten Konfrontation vor Ort gemacht. Die Wut, die Empörung gegen Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen artikuliert sich in erster Linie öffentlich. Auf der Straße kann ich andere treffen, spontane Kontakte knüpfen, die Aktionen machen Spaß und sind konkret. Als wir in Stuttgart 2011 kurzzeitig 120.000 Menschen auf der Straße hatten, waren es die Demonstrationen, die Besetzungen, die Redemarathons, die Debatten und die Feste, die unter anderem dazu geführt haben, dass die 50-Jahre-CDU-Regentschaft ihr Ende fand – und die nebenbei unsere Bewegung auch radikal verjüngt haben.

Und diese bewegungsorientierte Praxis gibt es ja auch bei der LINKEN: der erfolgreiche Berliner Kampf für mehr Krankenhauspersonal zum Beispiel ist ein Mutmacher in ganz Deutschland! Davon und in dieser Dimension bitte mehr! Unterstützt die betrieblichen Kämpfe noch mehr, arbeitet mehr in den Stadtteilen und an den Haustüren, stürzt euch noch mehr in die gewerkschaftlichen Schlachten, stärkt intensiver die Streikbewegungen und engagiert euch noch breiter für die vielen außerparlamentarischen Bewegungen, die vor Ort eine beachtliche Widerstandsarbeit leisten!

Werdet dadurch sichtbarer, spürbarer und ansprechbarer. Schafft und ermöglicht mehr gemeinschaftliche Erfahrungen, die man allein und zuhause, auf einer Wahlveranstaltung oder im Parlament nicht machen kann. Tut euch konsequenter mit all denen zusammen, die an derselben sozialen Front kämpfen! Ein beiläufiger Effekt dieser Aktionen wird dann auch eine breitere Vernetzung sein. Viele neue Mitstreiter*innen können in neue, linke Netzwerke aufgenommen werden, und Zusammenarbeiten mit Gewerkschaften und NGOs, mit lokalen Aktivist*innen und Betrieben werden dann als Bezugspunkt eine Partei haben, die im Zentrum einer großen, linken Bewegung dynamische Netzwerke bildet.

Rechte Parteien sind in Europa erschreckend gut miteinander vernetzt. Eine gut vernetzte, linke und europäische Gegenöffentlichkeit hätte aber viel mehr Potential, sobald sie sich auch über Ländergrenzen hinweg besser organisieren würde. Linke müssen einfach mehr auf Vernetzung setzen, und zwar in alle Gesellschaftsbereiche hinein. Damit lassen sich schnell, unaufwendig und spontan Veranstaltungen, Debatten und Kundgebungen ins Leben rufen, öffentliche Ereignisse schaffen, an denen das linke Projekt weiterbetrieben, an denen ausgesprochen und praktiziert werden kann: „Wir wollen uns nach links bewegen!“ Nehmt also den Rechten die Straße wieder weg, und vernetzt euch mit allen sozialen Bewegungen!

Der dritte und vielleicht wichtigste Punkt, um von den realen 10 auf die gefühlt möglichen 20 Prozent zu kommen, heißt Glaubwürdigkeit. Es ist so einfach wie klar: eine glaubwürdige Linke muss links sein. Nicht halblinks, und auch nicht ein bißchen links. Nicht heute sehr links und morgen nicht mehr ganz so links. Einfach und konsequent links! Und links sein heißt nicht nur nicht rechts sein, sondern links sein heißt vor allem – anders sein! Um anders zu sein als die anderen, muss man aber klar formulieren, was man nicht will – und was man unbedingt will. Um daraus dann Handlungen abzuleiten.

Und wenn man anders sein möchte als die anderen, sollte man eines niemals tun, nämlich das, was all die anderen tun: Versprechen abgeben, die dann nicht eingelöst werden. Und jetzt bin ich wieder bei den Vielen unterschiedlichster sozialer Herkunft, mit denen ich in meinen Projeten arbeite, die nicht daran glauben, dass ihr eure Inhalte umsetzen werdet, die nicht daran glauben, dass ihr wirklich anders seid als die anderen. Und deshalb wählen sie, wenn sie überhaupt wählen, das immergleiche kleine Übel, das frustrierende „weiter so“, mag es noch so merkelöde oder schulzfad langweilig daherkommen.

Und das liegt schlicht und einfach an mangelnder Glaubwürdigkeit! Die LINKE muss aber glaubwürdig sein! Und zwar nicht ein bißchen glaubwürdig, oder manchmal glaubwürdig, sondern glaubwürdig glaubwürdig! Glaubwürdigkeit wäre ein Alleinstellungsmerkmal in Deutschland, denn die anderen sind ja nicht glaubwürdig! Sie reiben sich in Kompromissen auf, machen erbärmliche Zugeständnisse an das Establishment und huldigen ausschließlich dem Ökonomischen.

Die SPD ist programmatisch so schwach wie nie. Die könnten auch nicht mehr zulegen, selbst wenn sie Ronaldo oder Jesus als Kanzlerkandidaten hätten. Mit denen wird kein Politikwechsel kommen, die kriegen ja noch nicht mal einen langfristigen Stimmungswechsel hin!

Und den GRÜNEN sind die relevanten Themen ausgegangen. Wenn man sich ihre schwammige und opportunistische Regierungspolitik zum Beispiel in Baden-Württemberg anschaut, dann macht das – eingedenk einstiger Kraft und Prägnanz – einfach nur noch traurig.

Und das alles beschreibt den entscheidenden Punkt: Linke Politik wäre sehr vielen zu vermitteln, wenn sie klar und prägnant, wenn sie radikal ehrlich, und vor allem, wenn sie konsequent glaubhaft wäre. Eure Debatte über die Frage der Regierungsbeteiligung – ja oder nein – ist bekannt.

Angeblich ist eine Mehrheit der LINKEN- Wähler*innen dafür. Ich behaupte: bei den unentschlossenen LINKE-Sympathisant*innen ist das Gegenteil der Fall. Draußen nehme ich das völlig anders wahr: ob ich mit Rechten oder Apolitischen, mit Alten oder Jungen spreche: das Vertrauen in eine Partei, die sich zu oft in Widersprüchen verzettelt, ist wirklich überschaubar.

Ein aktuelles Beispiel dafür ist die inspirierende Rede von Sarah Wagenknecht im Bundestag vom 1.Juni über die Grundgesetzänderung zur Ermöglichung der Autobahnprivatisierung. Ich habe diese Rede mit den vielen Zwischenkommentaren abschreiben lassen und mit meinen Schauspieler*innen am Theater Bonn in wechselnden Rollen gelesen. Und dabei offenbarte sich zweierlei: die glasklare, fachlich fundierte und souverän vorgetragene Beschreibung des Desasters der Privatisierung des öffentlichen Raums, und die dümmlichen Kommentare der Zwischenrufer, die aber deswegen gut dazu passten, da sie ob ihrer Ignoranz und Dreistigkeit den Beitrag aufgewertet haben. Eine klare Position, eine gute Analyse, eine kämpferische Ansage, mit der sich sehr viele, auch nicht Politik-Interessierte, angefreundet haben – und ganz nebenher wurde auch noch beste politische Aufklärung betrieben.

Dann das Desaster am nächsten Tag: die Landesregierungen, in denen die LINKE mitregiert, stimmten der Möglichkeit der Autobahnprivatisierung im Bundesrat zu. Und das kapiert draußen nun wirklich niemand mehr! Da kann es dann noch so viele Absichtserklärungen des Vorstands gegen Privatisierung geben, das nimmt keine und keiner mehr wahr. Was hängen bleibt ist: „Die wissen nicht, was sie wollen. Die arbeiten nicht geschlossen. Die sind sich uneins“. Und da ist er wieder, der immergleiche Vorbehalt: „Die sind ja genauso wie die anderen“.

Ich würde diese Irritationen nicht unterschätzen. Dieser Vorgang hat wieder Tausende desinteressiert, die gerade neu interessiert wurden! Schade um die schöne Rede. Oder anders formuliert: so fühlt sich unglaubwürdige Politik an.

In England hat sich das in den letzten Wochen ganz anders dargestellt: Corbyn will den maroden Zustand des Nationalen Gesundheitsdienstes beheben, Bildungswesen und Sozialdienste finanziell besser ausstatten, Nullstundenverträge unterbinden, Post und Eisenbahn verstaatlichen und eine Million Sozialwohnungen bauen. Finanziert werden soll das alles durch eine radikale Erhöhung der Steuern für Unternehmen und Superreiche. Punkt. Und Volltreffer! Das hat gesessen. Und es hat vor allem funktioniert! Politische Identitäten sind nämlich immer gemeinsame Identitäten. Und es ist fast unmöglich, Gemeinschaft herzustellen, ohne zu definieren, was man nicht will, was man ablehnt – und was man bevorzugt. Nur so kann ein Angebot gemacht werden.

Mit einer klaren Position kann ich eine nachvollziehbare Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner führen, die dann wiederum mein Profil schärft und diejenigen politisiert, die darauf warten, glaubwürdig vertreten zu werden. Und es braucht eine glaubwürdige Alternative zur Politik der inspirationslosen Mitte! Und nicht das Heranschmeißen an diejenigen, die die neoliberale Globalisierung ein bisschen menschlicher machen, die ein bisschen mehr Verteilungsgerechtigkeit herstellen wollen, aber kein schlüssiges Gegenprogramm zu bieten haben.

Ein glaubwürdiges, linkes Projekt muss eine klare Grenze zu all denjenigen ziehen, die das neoliberale Projekt weiterbetreiben wollen. Und damit all diejenigen ansprechen, die den marktkonformen Kräften schutzlos ausgeliefert sind. Und das ist die überwiegende Mehrheit ! Und daher kann es zur Zeit kein Bündnis mit den Parteien geben, die den neoliberalen Irrsinn weiter befördern. Das Bemühen um einen Konsens bedeutet in dem Fall: das Ende von Politik.

Kompromissfähigkeit, Kompromissbereitschaft, Kompromisse, ja, natürlich, aber man muss auch ein Gespür dafür haben, wann die Zeit dafür da ist. Mir scheint – und ich meine das überall auch so aufzunehmen – dass jetzt eher die Zeit für klug argumentierte Grenzziehungen ist. Kompromisse sollten aus einer starken Position heraus gemacht werden. Und die Zeit war noch nie so günstig wie jetzt, diese starke Position zu erlangen, denn die anderen werden gerade ganz von alleine schwächer !

Schärft also erst einmal euer Profil, spitzt eure Positionen zu, tretet geschlossener auf, werdet glaubwürdiger – und geht Kompromisse erst dann ein, wenn ihr euer eigenes Potential entwickelt und entfaltet habt!

Liebe LINKE, ich würde als Theatermensch mit dir noch gerne über deine Ästhetik streiten, über die Redekunst und Wortwahl einiger deiner Akteure, über deine gelegentlichen Ausflüge ins Nationalistische, über dein beredtes Schweigen, wenns um russische Diktatoren geht, über Zustimmungen zu Abschiebungen – und auch zu der Inszenierung deiner Parteitage gäbe es aus professioneller Theater-Perspektive einiges zu sagen. Aber viel lieber würde ich dir zum Geburtstag Mut machen! Mut dafür, mit einem klaren Profil deine linke Identität auszubauen. Denn du musst daran glauben, liebe LINKE, dass noch nie so viel möglich war wie heute! Dass sich noch nie so viele für dich interessiert haben! Dass viele auf dich setzen! Die Stimmung für einen Politikwechsel ist da – und nur du hast die Möglichkeiten, die Inhalte, das Personal und das Herz dafür, diesen Wechsel zu vollziehen.

Ich wünsche dir, dass du dich nicht in sinnlosen Versuchen aufreibst, diejenigen nach links zu ziehen, die schon lange auf dem Weg nach rechts sind. Ich wünsche dir, liebe LINKE, dass du groß und stark wirst, und dass du verdammt nochmal die Nerven behältst und es noch 4 Jahre in der Opposition aushältst, damit du Zeit zum Wachsen hast!

Denn wenn du erst einmal groß geworden bist, dann wirst du ansagen, wo’s langgeht, und dann kannst du die Welt mal wirklich verändern, und nicht nur darüber reden. Denn im Grunde bist du wirklich anders als die anderen, und ich wünsche dir, dass du das auch zu schätzen weisst, und dass du dich nicht unter Wert verkaufst.

Ich wünsche dir, dass du eine durch und durch progressive, solidarische, egalitäre und undogmatische LINKE wirst, die für soziale Gerechtigkeit, für Emanzipation und Vielfalt kämpft. Und dass du dir in diesen visionslosen Zeiten die Zeit dafür nimmst, der rechten Erzählung des Nationalismus, der Abschottung und der Waffengewalt eine große, eine linke, eine humanistische Erzählung entgegen zu setzen!

Und wenn all diese Wünsche in Erfüllung gehen, dann bin ich mir sicher, liebe LINKE, dass du mächtig und stolz, und ja, vielleicht sogar attraktiv und schön sein wirst, dass du auch von innen strahlst und somit ausstrahlst, und dass du dann die Zustimmung bekommst, die du schon lange verdienst.

Und ich wünsche mir für uns beide, dass ich in 10 Jahren mit dir darüber debattieren darf, wie man die 30-Prozent-Marke knacken kann. Und dass dann viele Liebhaber aus der Mitte bei dir Schlange stehen, die darum betteln, von dir – an dein großes Herz – ganz weit nach links gezogen zu werden!

Liebe LINKE, wenn du schon die Welt verändern willst, -und nichts weniger erwarten wir von dir- dann musst du auch bereit sein, dich zu verändern. Das Leben beginnt ungerecht, und es endet ungerecht. Dafür, dass es dazwischen gerechter zugeht, bist du zuständig. Und es ist machbarer, als du es dir gerade zutraust! Hau rein, LINKE, und ab dafür!
Feliz cumpleanos – y venceremos!

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Die Antikapitalistische Linke (AKL) ist eine politische Strömung in der Partei DIE LINKE. Sie
besteht aus bewegungsorientierten Mitgliedern der Partei DIE LINKE, aber auch aus Parteilosen. Sie sieht sich als Brückenglied zwischen der Partei DIE LINKE und den außerparlamentarischen Bewegungen. Die AKL setzt sich für die weitere Stärkung des antikapitalistischen Profils der Partei DIE LINKE ein.

Quelle: Rede von Volker Lösch in der Volksbühne: 10 Jahre DIE LINKE am 16.6.17