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20.06.2021 - von Jakob Schäfer
In der allgemeinen Öffentlichkeit ist die multiple Krise zwar nicht wirklich ein Thema, aber dennoch ahnen inzwischen viele Menschen, dass wir es nicht nur mit einer pandemiebedingten Ausnahmesituation zu tun haben. Die strukturelle Krise in der Automobilindustrie wird auch nach der Pandemie genauso wenig verschwunden sein, wie sich der Klimawandel erledigt haben wird. Allein die Frage, wer denn letztlich für die Krisenfolgen aufkommen wird bzw. aufkommen soll, bereitet nicht wenigen Menschen Sorge.
Zu den absehbaren wirtschaftlichen Tendenzen und Risiken
Schon ein Jahr vor Ausbruch der Pandemie war die Wirtschaft in eine Rezession eingetreten, die allerdings im letzten Jahr einen gewaltigen Schub bekam. Inzwischen wächst zwar die Wirtschaft wieder, aber frühestens Mitte 2022 wird sie das Vorkrisenniveau erreichen. Und selbst das kann nur bei einer ruhigen Entwicklung gelingen, denn die strukturellen Probleme sind gravierend:
• Bislang sind viele Betriebe nur wegen der Aufhebung der Insolvenzantragspflicht noch aktiv. Hinzu kommt, dass sie (wie die gesamte Wirtschaft) von den umfangreichen staatlichen Stützungsmaßnahmen profitieren. Mit dem absehbaren Ende dieser Maßnahmen droht eine größere Pleitewelle, weil viele Betriebe auf dem Markt keine langen Überlebenschancen haben werden. Daran wird auch die jetzt angekündigte Verlängerung der Kurzarbeitsperiode bis Ende September nichts Grundlegendes ändern. Wir müssen also mit umfangreichen „Marktbereinigungen“ und vielen Entlassungen rechnen.
• Diese Entwicklung wird dadurch verstärkt werden, dass für eine bestimmte Zeit (ca. ein Jahr lang) die Inflation anzieht und dadurch auch Betriebe in Schwierigkeiten geraten werden, die sich bisher noch einigermaßen halten konnten. Die Inflation wird aus mehreren Gründen anziehen: Es gibt einen Nachfrageschub von Seiten vieler Konsument*innen und auch so mancher Betriebe, die in der Corona-Zeit weniger Geld ausgeben konnten. Außerdem gibt es immer noch Lieferprobleme in der globalen Wertschöpfungskette (nicht nur bei Chips), was bei anziehender Nachfrage zu Preissteigerungen führt. Sollten allerdings in den nächsten ein bis zwei Jahre zusätzliche Anleiheprogramme in vergleichbarer Größenordnung aufgelegt werden, könnte dies ‒ verbunden mit einem tiefgreifenden Vertrauensverlust in den Euro ‒ zu einer länger anhaltenden stärkeren Inflation führen.
• Eine anziehende Inflation wird aber auch so manchen Finanzgesellschaften gewaltige Probleme bereiten. Viele haben nämlich in der Zeit des billigen Geldes viele Kredite aufgenommen (die in der Krise sowieso kaum produktiv anzulegen waren), sodass noch mehr als sonst mit diesen Geldern spekuliert wurde. Nur ein Beispiel: In den USA haben solche Gesellschaften (die sich also für spekulative Zwecke billiges Geld geliehen haben) heute (Stand März 2021) Verpflichtungen in Höhe von 822 Mrd. $ (gegenüber 479 Mrd. $ im März 2020 und 400 Mrd. $ im Jahr 2007, also vor dem Ausbruch der letzten großen Krise). Vor allem die Aktien- und Anleihemärkte könnten in nicht allzu ferner Zukunft einen richtigen Einbruch erleben.
• Bis zu 15 Prozent der mittelgroßen Betriebe haben auch ohne steigende Zinslasten eine „schwache Ertragslage“, was auch in diesem Bereich im Verlauf der nächsten 12 bis 24 Monate zu einer nicht unerheblichen Zahl von Pleiten führen kann.
Der Hintergrund für all diese Entwicklungen darf nicht übersehen werden: Ursache ist die anhaltend niedrige Rate der Profite. Diese werden sich 2021/22 in der Gesamtwirtschaft nur leicht erholen, auf keinem Fall aber längerfristig steigen. Dafür fehlen alle Voraussetzungen: Es gibt keine neuen durchschlagenden Energiequellen, keine technologische Revolution von umwälzender Bedeutung und auch keine Marktausdehnung. Selbst das Drehen an der Mehrwertschraube (Senkung der Löhne) hat inzwischen längst seine Wirksamkeit verloren, denn zu viele Menschen im globalen Maßstab leben am Existenzminimum bzw. darunter.
Die nicht ausreichende kaufkräftige Nachfrage ist die Achillesferse der kapitalistischen Warenproduktion. Letztlich wird gerade manifest, dass unter diesen Bedingungen die ständig steigende organische Zusammensetzung des Kapitals zu einer unaufhaltsam sinkenden Profitrate führt. Nur lebendige Arbeit (der Einsatz der Ware Arbeitskraft) schafft Warenwerte und damit Mehrwert, letztlich also Profit, der sich auf die verschiedenen Kapitalfraktionen verteilt. Wenn einige der eingangs genannten Faktoren zeitlich zusammenfallen, dann ist mit einem erneuten schweren Einbruch der Wirtschaftstätigkeit zu rechnen. Dann werden sogar einige der augenblicklichen Krisengewinner (Amazon und Co.) nicht ungeschoren davonkommen. Insgesamt aber werden GAFAi und Co. sich gut halten und ihr Gewicht zulasten anderer Sektoren steigern können.
Der zweite Sektor, dessen Gewicht heute schon absehbar zu Lasten traditioneller Sektoren (auch der Autoindustrie) zunehmen wird, ist die Pharmaindustrie (einschließlich der Medizintechnik). So wird z. B. Pfizer mehr als 20 Jahre lang von der augenblicklich herrschenden Pandemie profitieren (über viele Jahre hinweg werden Milliarden Menschen jährlich nachgeimpft werden müssen). Kurzfristig schon rechnet allein Pfizer – nach eigenen Angaben – mit einem zusätzlichen Gewinn von 25 Mrd. US-Dollar. Und natürlich will Biontech in diesem Zusammenhang zu den großen Playern (wie Pfizer, Johnson & Johnson) aufsteigen.
Gesellschaftspolitisch stehen sich im Gesundheitssektor zwei Tendenzen gegenüber: Auf der einen Seite der Drang des Kapitals, die Vermarktung des Gesundheitssektors voranzutreiben (um neue Anlagefelder zu erschließen), auf der anderen Seite die Abwehr genau solcher Tendenzen durch die in diesen Bereichen Beschäftigten, aber auch breiterer Bevölkerungsschichten, die sich gegen den Abbau der Daseinsvorsorge wenden oder mit mehr Zuzahlungen zu kämpfen haben.
Die Pandemie ist nicht bewältigt
Ganz aktuell allerdings stehen seit über einem Jahr die Maßnahmen des Staates gegen die Pandemie und ihre Folgen im Mittelpunkt aller Sorgen und Nöte. Zu allem Überfluss wurde eine Orientierung breiterer Schichten im fortschrittlichen Sinne durch das Aufwallen der Querdenker-Bewegung deutlich erschwert. Der Widerstand gegen die Gesundheitspolitik der Herrschenden muss sich an verschiedenen Fronten entwickeln: a.) in den Betrieben bei der Durchsetzung von ausreichenden Arbeitsschutzmaßnahmen, b.) im Kampf gegen die unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen der von Entlassung Betroffenen, der prekär Beschäftigten und der kleinen Selbständigen und Scheinselbständigen, c.) im Bildungs- und Erziehungsbereich, wo bis zu 25% ganzer Jahrgänge betroffen sind (fehlende Unterstützung beim Homeschooling, bei der psychischen Betreuung usw.) d.) im Kulturbereich, wo vielen Menschen die Existenzgrundlage entzogen wurde, usw.
Eine alle Schichten und Regionen erfassende Abwehrfront gegen die Krisenfolgen (bzw. die Pandemiefolgen im engeren Sinne) gibt es nicht und ist bis auf weiteres auch nicht absehbar. Nur ein großer Akteur hätte es im Kreuz so viel Überzeugungs- und Anziehungskraft zu entwickeln, dass sich ein großer Teil der verschiedenen Initiativen dort einreihen würde. Die unterschiedlichen (oft nur lokalen) Ansätze haben größtenteils ihre Berechtigung und werden hoffentlich mit langem Atem fortgeführt, denn ohne die Arbeit vor Ort ist alles andere Schall und Rauch. Es kommt dabei nicht auf die bis ins letzte Detail richtige Erklärung der Pandemie oder der Regierungspolitik an. So kann man ohne Zweifel an ZeroCovid so manches zu Recht kritisieren. Doch wir sollten uns bewusst sein, dass bei all diesen Initiativen (und ZeroCovid gehört ohne Zweifel zu den bedeutendsten und wirksamsten) die meisten Aktiven doch wieder solche Menschen sind, die schon an manch anderen Baustellen engagiert sind und sich nicht ausschließlich auf diese Frage oder eine bestimmte Initiative (etwa ZeroCovid) konzentrieren. Entscheidend ist also nicht so sehr das Etikett, unter dem diese oder jene (lokale oder überregionale) Initiative agiert, sondern wie viele Menschen sie zum Tätigsein motiviert, die vorher nicht aktiv waren.
Wer soll bezahlen?
Noch tiefere wirtschaftliche Einbrüche wurden nur deswegen vermieden, weil der Staat in einer beispiellosen Rettungsaktion gewaltige Summen in die Wirtschaft gepumpt hat und dabei alle angeblich ehernen Grundsätze über Bord warf. (Stand Ende Mai 2021 beträgt der Schuldenstand 2,27 Billionen Euro). Mit etwa 73 % gemessen am BIP steht Deutschland im internationalen Vergleich (vor allem verglichen mit den unmittelbar konkurrierenden Wettbewerbsstaaten) relativ gut da. Dennoch ist klar, dass die Herrschenden die Kosten bei der breiten Bevölkerung eintreiben wollen.
Zwei Dinge gilt es zu klarzuhaben:
a.) Unabhängig von den Entlassungen und den Einschnitten bei den Reallöhnen laufen im Moment schon diverse Angriffe seitens des Staates. So hat beispielsweise die Europäische Kommission mitten in der Pandemie ein „Grünbuch zum Thema Altern“ vorgelegt. Die Zielrichtung ist klar: Erstens eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit bis über 70 Jahre bei gleichzeitig sinkender Nettoersatzquote; zweitens die Stärkung privater, kapitalgedeckter Rentensysteme, zu Lasten der gesetzlichen Rentensysteme.
b.) Speziell für Deutschland aber gilt, dass all das, was wir im Moment erleben, längst nicht die gesamte Agenda der Herrschenden zum Ausdruck bringt. Nach der Bundestagswahl (genauer ab dem kommenden Jahr) werden die Angriffe qualitativ andere Ausmaße annehmen und dann wird sich die Frage für breiteste Bevölkerungsschichten stellen: Wie kann man sich hiergegen wehren?
Hier wirkt sich verheerend aus, dass die Gewerkschaften nicht auf eine Abwehr der sicher zu erwartenden Angriffen orientieren. Wer politisch so blind ist bzw. wegen seiner Konfliktscheu die Augen bewusst vor den zu erwartenden Maßnahmen verschließt (es können sein: Sondersteuern und Abgaben, Einschränkungen der Transferzahlungen und der allgemeinen Daseinsvorsorge usw.) erleichtert den Herrschenden das Geschäft. Deswegen gilt es, in den kommenden Monaten innerhalb der Gewerkschaften eine breite Aufklärungs- und Agitationskampagne zu führen, um die Grundsteine für eine Bewegung im nächsten Jahr zu legen. Denn von nichts kommt nichts!
Eine breite kämpferische und wirkungsvolle Widerstandsbewegung gegen die Krisenlasten wird nach Lage der Dinge ohne die Gewerkschaften schwerlich zu realisieren sein. Das hängt an ihrem Masseneinfluss, aber auch an ihrer immer noch existierenden Organisationskraft. Seit gut einem Jahr sieht es hier allerdings noch düsterer aus als vor der aktuellen Krise. Ein deutlicher Gradmesser für die noch konsequentere Unterordnung unter die Kapitalverwertungsinteressen ist der diesjährige Tarifabschluss der traditionell wichtigsten Gewerkschaft in Deutschland, der IGM: Seit April 2018 und noch bis frühestens Oktober 2022 gibt es keine tabellenwirksame Erhöhung der Entgelte, der Tarifvertrag wurde weiter verkompliziert und ein Teil des Entgelts wird an die „Ertragslage und Renditeziele“ der Unternehmen gekoppelt (ein absoluter Tabubruch). Eine Arbeitszeitverkürzung gibt es nur auf Kosten der Beschäftigten. (Mehr dazu unter: Link
Dramatisch ist die seit Jahren gesteigerte Konfliktscheu der Gewerkschaftsvorstände, vor allem dort, wo ein Kampf gegen Entlassungen so bitter notwendig wäre. In der Metall- und Elektroindustrie sind heute fast 300 000 Arbeitsplätze von Vernichtung bedroht. Besonders in der Automobilzulieferindustrie gibt es durchaus in so manchen Betrieben eine beachtliche Kampfbereitschaft, aber das wird vom Apparat der IGM nicht aufgegriffen und als Chance für eine Verallgemeinerung der Kämpfe genutzt. Somit haben auch Vorschläge für die Konversion der Autoindustrie wenig Chancen, denn ohne die Bildung einer breiten Abwehrfront kann kein richtiger Druck aufgebaut werden, sodass einzelne Belegschaften zwangsweise auf sich allein gestellt und gegenüber den Konzernen machtlos bleiben.
In anderen Gewerkschaften sieht es nur in wenigen Bereichen etwas günstiger aus. Die größten Chancen für eine gewisse Belebung gewerkschaftlicher Kämpfe gibt es bei ver.di, wo zumindest im Krankenhausbereich Druck aufgebaut werden kann, vor allem deswegen, weil der Personalmangel in der Pflege die Krankenhausbetreiber in Nöte versetzt. Möglicherweise kann durch den Tarifkampf der GdL eine neue Situation entstehen, wenn diese Gewerkschaft sich nämlich wirklich nicht an die Vorgabe von Bahnvorstand und Politik hält und trotz Tarifeinheitsgesetz (das schließlich der GdL die Existenzgrundlage entziehen soll) für wirkliche Entgelterhöhungen kämpft und sie durchsetzen sollte. Bislang (Stand Anfang Juni) gibt die Abwanderung von Kolleg*innen aus der EVG hin zur GdL dem Kurs des GDL-Vorstands Recht (auch wenn sie noch lange Zeit die kleinere Gewerkschaft bei der Bahn bleiben wird).ii Wenn es zu einem wirklichen Kampf kommen sollte, muss die Solidarität mit den Kolleg*innen oberste Priorität aller klassenbewussten Kolleg*innen und erst recht aller linken und fortschrittlichen Organisationen sein. Ganz nebenbei hat der Kampf der GdL auch etwas mit Kampf gegen den Klimawandel zu tun (die GdL ist die einzige Gewerkschaft, die sich gegen Stuttgart 21 ausspricht und den Vorrang der Schiene betont).
Nicht minder wichtig wird es natürlich auch sein, bei einer Streikbewegung in den Krankenhäusern (und sei sie am Anfang noch so begrenzt) Solidarität zu organisieren, und zwar in den anderen Gewerkschaften wie auch in der Öffentlichkeit und bei den Patient*innen. Dies sind Ansatzpunkte, um in Solidaritätskampagnen und mit konkreter Hilfe bei tatsächlichen Kämpfen die Gewerkschaften – mittelfristig ‒ zu einer politischen Kraft im Abwehrkampf gegen die Politik der Herrschenden zu machen. Das verlangt einen langen Atem, aber ohne die Gewerkschaften und vor allem ohne eine aktiver werdende und sich vernetzende Basis in den Betrieben wird die Agenda der Herrschenden nicht zu durchkreuzen sein.
Ein Teil des Abwehrkampfs gegen die Politik der Regierungen (ganz gleich welcher Couleur) ist die Mobilisierung gegen die neuen die Polizeigesetze, mit denen schließlich künftige Proteste unter Kontrolle gehalten werden sollen. In NRW wird gerade ein neues Versammlungsgesetz durchgedrückt. Immerhin verbreitert sich hiergegen der Widerstand, der z. B. in Köln auch den DGB einschließt.
Die Gesamtlage im Blick behalten
Angesichts der allgemeinen Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft auch und gerade in der BRD sind wir über jeden gewerkschaftlichen und sonstigen Kampf froh, der sich gegen die Krisenlasten und gegen die Folgen der multiplen Krise richtet. Die Beschränkung der Abwehrkämpfe liegt nur zum Teil an mangelnder Einsicht in die Gesamtbedrohungen, zum anderen Teil liegt es daran, dass es schon länger keine positiven Kampferfahrungen mehr gegeben hat.
Dies darf uns aber nicht dazu verleiten, die Gesamtbedrohungslage aus dem Blick zu verlieren und bei den Zielbestimmungen nur die „kleinen Brötchen“ anzuvisieren. In seinem sehr zu empfehlenden Buch schreibt Christian Zeller: „Die voranschreitende Zerstörung der Lebensgrundlagen lässt sich nur stoppen, wenn wir die Herausforderungen der begrenzten Natur nicht isoliert anpacken, sondern die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen berücksichtigen. Ein Wandel der Lebensformen bedingt eine radikale Umwandlung der Produktionsformen und der Arbeitsweisen. In diesem Sinne ist ein ökologischer Umbau der Produktion, des Transports, der technologischen Entwicklung und des gesamten Alltags einschließlich der Reproduktion zu erkämpfen, um einen tragfähigen gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur einzuleiten.“iii
Auch an anderer Stelle seines Buches ist dem Autor voll zuzustimmen. Im Abschnitt „Das Notwenige möglich machen – ein ökosozialistisches Dringlichkeitsprogramm entwickeln“ schreibt er unter „Gebrauchswerte und Stoffwechsel in den Mittelpunkt rücken“: „Erstens ist es unerlässlich, den naturwissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen über die Erderwärmung konsequent zu folgen. Es wäre fahrlässig, diese Perspektive zu relativieren, nur weil sie gegenwärtig politisch als zu wenig praktikabel erscheint. Es ist unvernünftig, nur das zu verlangen, was im politischen, wirtschaftlichen, sozialen und ideologischen Kontext der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft möglich ist. Das würde die Realität verzerren und wäre somit gänzlich unrealistisch. Zweitens müssen wir darüber nachdenken, wie wir handeln können, um das Notwendige
möglich zu machen.“
Das bedeutet, dass wir uns ‒ konkret helfend und mitorganisierend ‒ in die real stattfindenden Kämpfe einklinken müssen, dass wir dabei aber immer auch den Blick auf die Gesamtperspektive schärfen müssen. Diese Aufgabe stellt sich in zwei Richtungen: gegenüber der Ökologiebewegung und gegenüber den Gewerkschaften.
Mit dem Abflauen der Pandemie wird die Klimabewegung – hoffentlich! – wieder stärker aufleben. Die meisten unter ihren Aktivist*innen messen – mit Recht – dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts keine reale Bedeutung bei. Bestenfalls kann dieses Urteil als Argumentationshilfe dienen, denn die Reaktionen der Regierung der letzten Wochen sind wie immer nur leere Worte, keine wirklichen Maßnahmen.
Die größte Rolle für eine Änderung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses spielt allerdings das, was in den Betrieben und Gewerkschaften passieren wird. Vor allem hier wird es darauf ankommen, dass zumindest mal wieder ein Teilsieg errungen wird, um breiteren Kreisen unter den Kolleg*innen Mut zu machen.
Derzeit wächst in Europa sogar wieder die Kriegsgefahr: Der Streit um Schürfrechte im Mittelmeer (vor allem zwischen Griechenland und der Türkei in Sachen Cyperngas) sollte nicht übersehen werden. Dass Deutschland im libyschen Bürgerkrieg einseitig die Türkeiintervention beschweigt und das Sklavenhändlerregime unterstützt, kann die Konfrontation mit Frankreich, Großbritannien und Russland, die General Haftar unterstützen, verschärfen.
Was Mut macht
Nicht alles ist trüb. Der 1. Mai hat in einer ganzen Reihe von Städten gezeigt, dass man auch unabhängig von gewerkschaftlichen Apparaten Demos ‒ auch und gerade kämpferische Demos – durchführen kann: München, Berlin, Mainz …, zum Teil auch zusammen mit dem DGB (Stuttgart, Frankfurt). Genau daran sollten wir anknüpfen und dabei gleichzeitig offensiv auf den DGB zugehen, indem wir beispielsweise künftig diese Demos eigenständig so früh organisieren, dass dieser wirklich unter Druck gerät. Dort, wo kämpferische Kollektive in den Betrieben aktiv sind, sollten sie dafür gewonnen werden, sich mit der kleinen, aber aktiven Gewerkschaftslinken zu vernetzen (Link.
Die antirassistische Bewegung ist gerade unter jungen Menschen sehr aktiv und kann immer wieder rechte Aufmärsche verhindern. Auch das ist in der Gesamtlage nicht ohne Bedeutung. Der Kampf für einen tatsächlichen Mietendeckel steht an und sollte weit über Berlin hinaus verbreitet werden. Vor allem aber die wichtige Kampagne „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ muss vorangebracht werden.
In diesen Kämpfen ist die Partei DIE LINKE nur ein halbherziger Bündnispartner. Wirklich Verlass ist auf sie nicht, auch nicht in Berlin, wo sie aufgrund der Koalitionsdisziplin z. B. den gegen die Privatisierung der S-Bahn Kämpfenden in den Rücken gefallen ist.
Bleibt die Frage, was denn im allgemeinen Bewusstsein am ehesten im Verlauf des nächsten Jahres zum Knackpunkt werden kann oder wahrscheinlich werden wird und worauf man argumentativ vorbereiten sollte. Welcher Punkt besonders hervorstechen wird, ergibt sich zum Teil aus unvorhersehbaren Zufälligkeiten. Eine Prognose abzugeben ist deswegen von vornherein gewagt. Aber vor dem Hintergrund der Gesamtgemengelage scheint mir die Frage, wer für die Krise bezahlen soll, die absolut zentrale Herausforderung zu sein bzw. in nächster Zeit zu werden. Hier meine ich, dass die Parole der Umverteilung von oben nach unten nicht scharf genug die notwendige Gesamtperspektive – im Sinne eines zu erstellenden Übergangsprogramms – deutlich macht. Umverteilen lässt (nolens volens) der Vermutung Raum, dass ein Zustand einer „gerechten Lastenverteilung“ (zwischen Armen und Reichen) hergestellt werden soll. So und ähnlich drücken es ja traditionell Reformist*innen jeglicher Couleur aus. In ihrem Verständnis impliziert dies allerdings, dass die Umverteilung die Reichen immer noch reich bleiben lässt.
Eine zukunftsweisende Perspektive für die Formulierung eines Gesamtprogramms müsste sich m. E. eher an einer Losung orientieren, die etwa folgendermaßen lautet: Die Reichen sollen zahlen! Und zwar sollen sie so lange für alle Kosten aufkommen, bis sie nicht mehr reich sind. Bei oberflächlicher Betrachtung mag der Unterschied zwischen den beiden Losungen als eine belanglose Differenz erscheinen. Er ist es aber dann nicht mehr, wenn es verbunden wird mit solchen Losungen wie „entschädigungslose Enteignung“ und zwar nicht nur von „Deutsche Wohnen und Co.“ Hier haben wir einiges an Argumentationen zu entwickeln, inhaltlich fundiert, beharrlich entwickelt und begleitet von praktischer Organisierung am Ort. So oder so: Die Ausarbeitung eines zeitgemäßen Übergangsprogramms, das besonders zündende Losungen in den Vordergrund stellt, die Gesamtperspektive aber nicht aus den Augen lässt, bleibt eine zentrale Herausforderung für die klassenbewusste Linke.
Jakob Schäfer
3. Juni 2021
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