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Koalitionsprognosen im Kölner Stadt-Anzeiger und in der NZZ

Foto: H.S.

26.09.2021 - von Hanne Schweitzer

Mit ihren Aussagen über mögliche künftige Entwicklungen haben die Auguren bis zur Regierungsbildung Hochkonjunktur. Erstes Beispiel: Marc Felix Serrao. Er ist seit 2021 Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung Deutschland. Sein Artikel auf der Seite 1 der Printausgabe am Samstag vor der Bundestagswahl hat die Überschrift: "Träges Land, träge Regierung". Den angehäuften Explosionsstoff, die schwelende Unruhe im Land nimmt er nicht zur Kenntnis. Serrao ist 1978 geboren, im ersten Jahr der Kohlschen Kanzlerschaft, die 16 lange Jahre währte, kurz von sieben Jahren Schröder unterbrochen wurde, bevor 16 lange Jahre Merkel folgten. Drei Kanzler in 43 Jahren!
Er begründet seine Spekulationen über mögliche Folgen des Wahlausgangs so:

Serrao über Deutschland: "Deutschland ist in den vergangenen 16 Jahren nicht besser geworden, ... Es ist so umständlich und träge geworden, so müde und satt wie jene beiden Parteien, die es so lange schon prägen."

Serrao über die CDU/CSU: es "hat vor allem die CDU unter der Führung von Angela Merkel ihr Profil verloren und ihre bürgerlichen Stammwähler vergessen. ... das sind vor allem jene rund 15 Millionen wertschöpferisch tätigen, also nicht im Staatsdienst arbeitenden Nettosteuerzahler, die das Land finanzieren. Diese tatsächlich bedrohte Minderheit muss so hohe Steuern und Sozialabgaben bezahlen wie in keinem anderen Land der Welt. Und das verdankt sie nicht einer linken, sondern einer unionsgeführten Regierung. ... beim Thema innere Sicherheit leiden CDU und CSU unter kognitiver Dissonanz. «Der Staat ist da», heisst es in ihrem Wahlprogramm. Und mit Ausrufezeichen: «Hier kann niemand machen, was er will!» Das Sicherheitsempfinden vieler Bürger ist ein anderes, vor allem mit Blick auf die ungeregelte Migration. ..."

Serrao über eine Koalition aus SPD, Grünen und Linken: "Das Worst-Case-Szenario, man kann es nicht freundlicher formulieren, ... Die Republik würde in der Folge ein wahres Festival an Steuererhöhungen, planwirtschaftlicher Regulierung und autoritärer Gesellschaftspolitik erleben, mit grosszügigen Zuwendungen an staatsnahe linke Vereine und Gruppierungen und Kampfansagen an alle, die unter liberaler oder konservativer Flagge segeln."

Serrao über eine große Koalition aus SPD und CDU/CSU: "... hätte in der Partei von Olaf Scholz trotz Übernahme des Kanzleramts starke Gegner."

Serrao über eine Koalition unter Laschets Führung trotz Stimmenmehrheit der SPD:
dann "wird es Proteste geben: ganz sicher von der CSU und vermutlich auch von Vereinigungen wie der 25 000 Mitglieder starken Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT). «Nur mit der Union als stärkster Kraft hat Armin Laschet ein eindeutiges Mandat, um die nächste Regierung zu führen», heisst es in einem Wahlaufruf der MIT, der in dieser Woche verschickt wurde."

Serrao über eine sogenannte Deutschland-Koalition aus SPD, CDU/CSU und FDP: da müssten "sich die Sozialdemokraten außer mit der Union auch noch mit der FDP arrangieren".

Serrao über eine Jamaika- und/oder Deutschland-Koalition: zu befürchten sei, "dass das ohnehin blasse Profil der Union in einer Jamaica-Koalition mit Grünen und FDP oder in einer Deutschland-Koalition mit SPD und FDP zur Unkenntlichkeit verwässern würde, weil die starken linken Partner, also Grüne oder SPD, in beiden Fällen maximale Zugeständnisse verlangen würden. Nach vier Jahren, so die Sorge, könnte die Union dann endgültig einpacken."

Serrao über eine Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP: "Die FDP hat versprochen, dass es mit ihr keine Steuererhöhungen geben wird. Und SPD und Grüne wollen diejenigen, die heute schon die größte Steuerlast tragen, noch stärker zur Kasse bitten als bisher schon, gerne auch mithilfe einer Vermögenssteuer. Wie das zusammengehen soll, ist bis auf weiteres ein Rätsel."

Serrao über Armin Laschet, CDU: "Das Land sei besser geworden, behauptet Armin Laschet, ... Aber das stimmt nicht. ... Der Kanzlerkandidat der Union versucht sich ... an der Quadratur des Kreises. ... Man kann nicht einerseits ein staatliches «Entfesselungspaket», eine echte Steuerreform, einen Abbau der Bürokratie, mehr Freiraum für Gründer, schnellere steuerliche Betriebsprüfungen, die Halbierung von Bauvorschriften und einen «Digital-TÜV» für Gesetze versprechen und andererseits behaupten, das Land sei besser geworden."

Serrao über Kevin Kühnert, SPD: "Hat der heimliche SPD-Chef Kevin Kühnert nicht recht, wenn er sagt: «Die Union ist leer und entkernt, sie gehört in die Reha»? Es gibt auch in der CDU viele, die so denken, vor allem aus wirtschaftsnahen und konservativen Kreisen."

Serraos Fazit: "Mit Kevin Kühnert gesprochen: Die einen gehören eigentlich in die Reha, und die anderen haben mitunter politische Vorstellungen aus der Klapsmühle."


Koalitionsprognosen im Kölner Stadt-Anzeiger
Was Serrao immerhin noch mit abwägenden oder wertenden Worten macht, ersetzt die Tageszeitung aus Köln - zweites Beispiel - durch bunte Grafiken mit Zahlen aus den Wahlumfragen des Forsa-Instituts. Demnach könnten fünf Parteien drei Koalitionen bilden, deren Abgeordnetenzahl exakt vorhergesagt und in Diagrammform dargestellt wird. Als ob die Spatzen nicht längst von den Dächern getschilpt hätten, dass nach der Wahl mehr VolksvertreterInnen in Berlin ein Büro und eine Wohnung brauchen werden als die 709, die zur Zeit ihr Geld im Reichstag verdienen. Vom größten Parlament der Welt war da die Rede, sieht man vom Chinesischen Volkskongress ab.
Verwunderlich an den Diagrammen ist auch, dass die Prognosen so lückenhaft sind. Viele Sitze bleiben leer, werden keiner Partei zugeordnet. Hat Forsa keine weiteren Zahlen vorliegen? Und warum hat der Stadt-Anzeiger keine Grafik gekauft, in der z.B. Behauptungen über die Dauer der künftigen Koalitionsverhandlungen auf- und dargestellt werden? Darüber ließe sich doch auch trefflich spekulieren, das braucht man nicht den Wettbüros überlassen!

Das Angebot der Auguren:

Deutschlandkoalition:
CDU/CSU = 185
SPD = 206
FDP = 99
macht zusammen 490 Sitze. Die restlichen 219 Sitze werden nicht vorhergesagt.

Ampelkoalition:
SPD = 206
Grüne = 140
FDP = 99
macht zusammen 445. Die restlichen 264 Sitze werden nicht vorhergesagt.

Rot/Rot/Grüne Koalition:
SPD = 206
Grüne = 140
Linke= 49
macht zusammen 395. Die restlichen 314 Sitze werden nicht vorhergesagt.

Entfallen die von Forsa nicht benannten Sitze auf die AfD, das Team Todenhöfer, die Partei, die Tierschutzpartei, ÖDP, DKP, Vegan, Urban und Sonstige? Oder rechnet Forsa mit so vielen ungültigen Stimmen?

Link: Wahlaufruf der Kommunarden aus Paris zur Wahl 1871
Quelle: NZZ und Kölner Stadt-Anzeiger, 25.9.21