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Pflegebedürftigkeit hängt von der sozialen Stellung ab - Geringes Einkommen, hohes Pflegerisiko

Foto: H.S.

05.11.2021 - von Peter Haan, Johannes Geyer, Hannes Kröger, Maximilian Schaller

Höheres Pflegerisiko für Personen mit geringen Einkommen – Armutsgefährdete Männer knapp sechs Jahre früher pflegebedürftig als Besserverdienende, Frauen rund dreieinhalb Jahre – Unterschiede im Pflegebedarf auch nach Stellung und Belastung im Beruf.

Ärmere Personen haben ein höheres Risiko, pflegebedürftig zu werden und sind früher auf Pflege angewiesen als Menschen mit hohen Einkommen. Gleiches gilt für Arbeiter und Arbeiterinnen im Vergleich zu Beamten und Beamtinnen sowie für Menschen mit hohen Arbeitsbelastungen im Vergleich zu Personen mit niedrigen beruflichen Belastungen. Das sind die Ergebnisse einer neuen Studie am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).

Frühere Untersuchungen hatten gezeigt, dass Menschen mit niedrigen Einkommen zudem eine deutlich geringere Lebenserwartung als Besserverdienende haben. „Nicht nur Einkommen und Lebenserwartung sind in Deutschland sozial ungleich verteilt, sondern auch das Pflegerisiko“, stellt Peter Haan, Leiter der Abteilung Staat am DIW Berlin, fest. Für die aktuelle Analyse hat er mit seinen DIW-Kollegen Johannes Geyer, Hannes Kröger und Maximilian Schaller Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) ausgewertet.

Armutsgefährdete Menschen werden deutlich früher pflegebedürftig als wohlhabende

Ende des Jahres 2020 wurden knapp 3,5 Millionen Menschen ambulant gepflegt. Dabei sind Männer, die direkt vor dem Renteneintritt weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient haben, etwa sechs Jahre früher auf die häusliche Pflege angewiesen als Männer mit mehr als 150 Prozent des mittleren Einkommens. Bei Frauen beträgt die Differenz rund dreieinhalb Jahre. Auch nach der beruflichen Stellung zeigen sich Unterschiede: Arbeiterinnen und Arbeiter werden durchschnittlich etwa vier Jahre früher pflegebedürftig als Beamtinnen und Beamte. Um den Einfluss von physischen und psychosozialen Arbeitsbelastungen zu untersuchen, wurde der zuletzt ausgeübten Tätigkeit ein Indexwert von eins (geringe Belastungen) bis zehn (hohe Belastungen) zugeordnet. Es zeigt sich: Männer und Frauen mit hohen beruflichen Belastungen haben durchschnittlich 4,7 beziehungsweise 2,7 weniger Lebensjahre, in denen sie nicht auf die Pflege durch andere angewiesen sind, als Personen mit niedrigen Belastungen.

„Pflegebedürftigkeit hängt also nicht nur vom Alter ab und tritt auch nicht zufällig auf. Im Gegenteil: Die Pflegebedürftigkeit wird durch Gesellschaft, Einkommen und Arbeitswelt beeinflusst“, erklärt Johannes Geyer.

Sozialpolitische Reformen sind notwendig, um Ungleichheit im Pflegerisiko auszugleichen

Die Kosten für die Pflege werden in Deutschland nur teilweise durch die gesetzliche Pflegeversicherung abgedeckt – der Rest muss privat getragen werden. Zudem werden bei der informellen Pflege Angehörige häufig zeitlich, physisch und psychisch belastet. Da Menschen mit geringen Einkommen oder einer hohen beruflichen Belastung ein höheres Pflegerisiko haben, treten die Kosten für sie häufiger auf und reduzieren die ohnehin geringeren verfügbaren Einkommen. „Um diese Ungleichheit zu bekämpfen, brauchen wir sozialpolitische Maßnahmen, die das ausgleichen. Wir brauchen dabei sowohl Konzepte, die sofort greifen, als auch solche, die langfristig angelegt sind“, fordert Peter Haan.

Eine nachhaltige Politik sollte bereits in der Erwerbsphase ansetzen und dort beispielsweise die Arbeitsbelastungen verringern, um das Pflegerisiko präventiv zu reduzieren. Kurzfristig sollten die Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung ausgebaut und die Qualität und das Angebot in der Pflege erhöht werden. Alternativ können auch private Zuzahlungen stärker vom Einkommen abhängig gemacht werden. Auch eine Bürgerversicherung, in der private und gesetzliche Pflegeversicherung zusammengebracht werden, könnte die Ungleichheit reduzieren, da das Pflegerisiko von Menschen mit privater Pflegeversicherung deutlich geringer ist als bei Menschen mit gesetzlicher Versicherung.

DIW Wochenbericht, 44/2021 unter: Link

Infografik in hoher Auflösung (PNG, 0.61 MB): Link

Interview mit Peter Haan unter: Link

Quelle: PM 3.11.2021, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin