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20.12.2023 - von Wilhelm Neurohr
Sehr geehrter Herr Merz, sehr geehrter Herr Lindner,
hiermit wende ich mich als derzeitige Bürgergeld-Bezieherin und künftige Armutsrentnerin aus der heruntergekommenen Armutsstadt Gelsenkirchen in aller Offenheit an Sie als unsere gewählten Volksvertreter.
Ich schreibe diesen offenen Brief deshalb an Sie beide, weil Sie wegen der aktuellen Haushaltsprobleme vorrangig für eine Kürzung von Sozialleistungen „für die da unten“ lauthals eintreten – insbesondere beim Bürgergeld und bei den Renten – obwohl Sie beide selber gut versorgte Spitzenverdiener im Land auf Steuerzahlerkosten sind (zuzüglich weiterer Zusatzeinkommen).
Ihrer abgehobenen Sicht von da oben möchte ich hiermit meine Sicht von ganz unten als Betroffene entgegenstellen. Deshalb hoffe ich, dass Sie meinen Brief in voller Länge lesen und daraus evtl. politische Konsequenzen ziehen.
„Kennen Sie überhaupt die Lebenswirklichkeit in meiner sozialen Schicht?“
Kennen Sie beide überhaupt die Lebenswirklichkeit in meiner sozialen Schicht? Sie, Herr Merz, gehören ja mit einem Jahreseinkommen von rund einer Mio. Euro zu den obersten 5% der Vermögenden im Lande, wie ich gelesen habe, mit Privatjet und Ferienhaus am Tegernsee. Dazu haben sicher auch ein Dutzend gut dotierte Aufsichtsratsmandate in zurückliegenden Jahren beigetragen. („Leistung wird belohnt“). Gegen deren transparente Offenlegung hatten Sie ja vor Gericht geklagt, aber verloren.
Auch Sie, Herr Lindner, gehören nicht zu den Durchschnittsverdienern, wie man an Ihrer Millionen-Immobilie, dem Porsche und der Rolex-Uhr unschwer erkennen kann, aber auch an Ihrer pompösen Luxushochzeit auf Sylt im vorigen Jahr, nicht zuletzt auch an Ihrem stattlichen Ministergehalt einschließlich Zulagen von über 20.000 € im Monat plus jährlicher Diätenerhöhung als Abgeordneter – also das fünf- bis sechsfache des Durchschnittsgehalts der fleißigen deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit 4.000 € Monatslohn oder 49.260 € im ganzen Jahr.
„Sie leben in einer abgehobenen Subkultur – und die AfD profitiert“
Sie leben also beide in einer vom einfachen Volk abgehobenen Subkultur und können sich als Nichtbetroffene wohl kaum in die Lebenswirklichkeit von uns „kleinen Leuten draußen im Lande“ empathisch hineinversetzen. Wen vertreten Sie eigentlich als Volksvertreter? Schlägt Ihr Herz trotzdem für die sozial Bedürftigen und die vielen Rentner an der Armutsgrenze, als die sozialen Verlierer der anhaltenden Umverteilung von unten nach oben – die derzeit unser Land sozial spaltet und politisch nach rechts abdriften lässt? Bei uns in Gelsenkirchen hat bei der letzten Bundestagswahl die AfD fast 23% der Stimmen erreicht. Nehmen Sie das achselzuckend hin?
„Haben Sie überhaupt die Wähler hinter sich?“
Sie beide haben ja als Finanzminister bzw. Oppositionsführer großen Einfluss auf die Politik, obwohl Ihre Partei, Herr Merz, bei der letzten Bundestagswahl 2021 von 81% der Bevölkerung nicht gewählt wurde, und Ihre Partei, Herr Lindner, sogar von rund 90% der Bevölkerung nicht gewählt und gewollt wurde – und deren Wiedereinzug in den Bundestag erneut auf der Kippe steht. (Dabei müsste man eigentlich die 23% Nichtwähler noch abziehen, die Ihre schwachen Zustimmungswerte nochmals um ein Viertel absenken).
Haben Sie überhaupt die Wähler hinter sich? Bei uns in Nordrhein-Westfalen ging bei der letzten Landtagswahl nur noch die Hälfte der Wähler zur Wahl, in meiner Heimatstadt Gelsenkirchen sogar nur 43%, in manchen Statteilen unter 30%. Für Sie, Herr Merz, wird der momentane Höhenflug Ihrer Partei in Umfragen wohl wieder deutlich sinken infolge Ihres aktuellen Angriffs auf Bürgergeld- und Rentenempfänger. Dennoch würde ich mich über eine öffentliche Beantwortung dieses offenen Briefes von Ihnen beiden freuen, da auch Ihre Minderheitenmeinung von Interesse ist.
„Warum Ihr Frontalangriff auf die Ärmsten und Bedürftigsten im Lande?“
Mich macht es als Betroffene von drohenden Sozialkürzungen fassungslos, warum ausgerechnet Sie beide (mit einem privaten Millionenvermögen ohne Vermögenssteuer) beim Angriff auf die Ärmsten und Bedürftigsten im Land voranmarschieren. Sie schüren von oben geradezu eine Art Neidkampagne gegen unterste Einkommensschichten, die angeblich überversorgt seien und deshalb „nicht arbeiten wollen“.
Warum denunzieren und diskriminieren Sie uns mit wahrheitswidrigen Behauptungen? Warum diffamieren sie die vier Millionen Bürgergeld-Bezieher in Deutschland? Und widerspricht nicht sogar der eigene Sozialflügel Ihrer Partei, Herr Merz, energisch den von Ihnen geforderten Kürzungen beim Bürgergeld und der Rente sowie sonstigen Sozialleistungen? Warum jetzt Ihr Frontalangriff auf die Ärmsten und Bedürftigsten im Lande unter dem willkommenen Vorwand des von Ihnen erstrittenen Verfassungsgerichtsurteils zum Haushalt?
„Warum ich trotz Arbeit arm wurde und damit zur Bürgergeld-Empfängerin“
Ich darf Sie hier einmal aufklären, Herr Merz und Herr Lindner, wie man ohne eigenes Verschulden und trotz Arbeit ins Bürgergeld „abrutscht“: Ich gehöre zu denen, die als Alleinerziehende Jahrzehnte gearbeitet haben, zumeist auf mehreren prekären Jobs gleichzeitig – zu Hungerlöhnen im Niedriglohnsektor, weil Sie, Herr Merz und Herr Lindner, sich allzu lange gegen die Einführung des Mindestlohnes gesperrt hatten. Wissen Sie überhaupt, dass 4,5 Mio.Menschen in unserem Land, also jeder Zehnte, neben der regulären Arbeit noch einer weiteren Beschäftigung nachgeht, um sein Leben finanzieren zu können, und der Prozentsatz immer weiter ansteigt?
Nun ist demnächst mein Bezug von „Armutsrente“ absehbar, also „Arm trotz Arbeit“. Und wenn es nach Ihnen ginge, noch ärmer in Zeiten der Inflation und Kostenexplosion sowie der Wohnungsnot. Die erschwerenden Umstände, unter denen ich als Mutter von 2 Töchtern die Berufstätigkeit ausgeübt habe – wie fehlende Kita-Plätze und nicht funktionierende ÖPNV-Verbindungen für Berufspendler sowie nicht finanzierbarer Erholungsurlaub, außerdem Erkrankungen und prekäre Wohnverhältnisse – schildere ich noch im Anschluss.
„Warum ist Ihre Diätenerhöhung fünfmal so hoch wie die Bürgergeld-Erhöhung?“
Warum ist Ihnen die Erhöhung des Bürgergeldes um lediglich 61 Euro im Monat (für Alleinstehende) als verfassungsrechtlich gebotener Inflationsausgleich ein Dorn im Auge? Haben Sie nicht in diesem Jahr als Bundestagsabgeordnete gerade eine erneute Diätenerhöhung in Höhe von 268 € erhalten, also um das vier- bis Fünffache des missgönnten Inflationsausgleichs für Bürgergeldbezieher? (Im nächsten Jahr fällt sie noch deutlich höher für Sie als Volksvertreter aus).
Und bekommen Sie nicht diese jährlichen Erhöhungen automatisch in Anpassung an die Lohnentwicklung – und klammheimlich ohne Beratung, Beschlussfassung und ohne öffentliche Debatte? Trotzdem sagen Sie „Nein“ zu 61 € Bürgergeld-Erhöhung, aber „Ja“ zu 268 € Diätenerhöhung für überversorgte Abgeordnete?
Freiwilliger Verzicht – oder „Wasser predigen und Wein trinken?“
Herr Merz und Herr Lindner, Hand aufs Herz: Könnten Sie und Ihre Kollegen nicht bei monatlichen Diäten von ca. 11.000 Euro (plus 4.700 Euro Aufwandspauschale) angesichts der Haushaltsprobleme auf die Anpassung in diesem und nächsten Jahr verzichten? Denn Sie können ja nicht gegenüber dem Wahlvolk „Wasser predigen und zugleich Wein trinken“, wie ein treffendes Sprichwort sagt. Die automatische Inflationsanpassung Ihrer Diäten wurde ja ausnahmsweise im Jahr 2020 einmalig ausgesetzt –daran könnte Sie doch anknüpfen? Gehen Sie mit gutem Beispiel, voran, dann nehmen wir uns die Politiker auch gerne als Vorbild!
„Wie raffgierig sind unsere Volksvertreter?“- „Wohlstandsverlust nur unten?“
Rund 40% der Bundestagsabgeordneten haben noch Zusatz- und Nebeneinkünfte von zusammen gerechnet 25 Mio. Euro, wie ich 2020 im Spiegel gelesen habe. Nach der Bundestagswahl 2021 beziehen ganz viele Abgeordnete ein monatliches Zweiteinkommen, indem sie neben ihrem Mandat beispielsweise mehrere Geschäftsführungsposten ausüben, hohe Summen von Konzernen erhalten haben oder hunderttausende Euro aus der Beteiligung an Unternehmen kassierten.
Übrigens, Herr Lindner, Ihr Parteifreund Wolfgang Kubicki steht mit jährlich 144.000 Nebeneinkünften mit an der Spitze der raffgierigen Volksvertreter. Und vorneweg sind auch viele Ihrer Parteifreunde, Herr Merz, weil sie diese als Oppositionspolitiker nicht mit Ministerposten versorgen konnten? Der Einkommensverlust muss ja kompensiert werden? Sicherlich sind Sie alle besser qualifiziert als wir Bürgergeld-Empfänger, obwohl ich eine qualifizierte Ausbildung habe.
Ich frage mich und Sie: Wie raffgierig sind eigentlich unsere gewählten Volksvertreter als unsere Delegierten im Bundestag – die uns zugleich einstimmen auf ein „Gürtel enger schnallen“, weil die Zeit der „sozialen Wohltaten“ vorbei sei. Wohlstandverlust ist immer nur ganz unten in Kauf zu nehmen – insbesondere bei denen, die kaum daran teilhatten in ihrem Leben, umgeben von Reichtum?
„Ein krasses Missverhältnis zwischen Nehmen und Geben“
Ihre halbe Monatsdiät als Volksvertreter entspricht übrigens dem Jahreseinkommen einer Bürgergeld-Bezieherin. Ist Ihnen das bewusst, Herr Merz und Herr Lindner? Ist das nicht irgendwie ein krasses Missverhältnis zwischen Geben und Nehmen? Und Sie Herr Merz, erhalten ja als Fraktionsvorsitzender nochmals einen Aufschlag in vierstelliger Größenordnung, oder?
Und finden Sie das gerecht, Herr Merz und Herr Lindner, dass Ihre Parteifreunde, die als Minister oder als Staatssekretäre oder leitende Beamten in Bund und Ländern eingesetzt sind – mit Spitzengehältern zwischen 15.000 und 20.000 € im Monat – eine Inflations-Ausgleichsprämie in Höhe von 3.000 € steuerfrei in 2024 erhalten? (Das gilt für die auch als Ruheständler). Zudem erhielten sie im Juni 2023 eine Einmalzahlung in Höhe von 1.240 € und bekommen eine im Durchschnitt 11,5%-ige Gehaltserhöhung in Anpassung an die Tarifbeschäftigten. Damit kann man gut leben.
„Rentnerinnen und Rentner gehen quasi leer aus“
Davon können die Rentnerinnen und Rentner mit 1.692 €uro monatlicher Durchschnittsrente nur träumen, die leer ausgehen, ebenso wie die 600.000 Grundrenten beziehenden Armutsrentner, die mit 934 € bis max. 1250 € im Monat auskommen müssen. Die im nächsten Jahr anstehende Rentenerhöhung um magere 3,5% bleibt unter der Inflationsrate – also ein Rentenminus ohne Inflationsausgleich. Manche Rentner wühlen abends in Mülltonnen nach brauchbaren Resten, während Sie sich auf Empfängen reichlich bewirten lassen. Vielleicht landen Ihre Reste in genau diesen Mülltonnen oder bei der Tafel? Haben Sie dabei kein schlechtes Gewissen?
„Fürstliche Altersversorgung der privilegierten Bundestagsabgeordneten“
Demgegenüber können Sie, Herr Merz und Herr Lindner, als Volksvertreter beruhigt auf eine fürstliche Altersversorgung blicken, ohne solidarisch in die gesetzliche Rentenkasse einzahlen zu müssen. Anders als die rentenversicherten Arbeitnehmer nach über 40 Jahren Berufstätigkeit erhalten Sie bereits nach 26 Jahren Parlamentszugehörigkeit die Höchstpension, und zwar bis 6.750 Euro monatlich auf Kosten der Steuerzahler.
Das ist das Vierfache der Durchschnittsrente eines Arbeitnehmers nach vielleicht 40 und mehr Berufsjahren, von der viel niedrigeren Rente der Frauen erst gar nicht zu reden. Lange Zeit konnten Sie als Abgeordnete bereits mit 61 und 63 Jahren die hohe Abgeordnetenpension bereits in Anspruch nehmen. Erst auf öffentlichen Druck haben Sie dann die stufenweise Anhebung auf 67 Jahre, wie beim einfachen Wahlvolk da unten, widerstrebend eingeführt. Deshalb sind solche Briefe wie dieser wichtig.
„Armutsrenten für den Rest des Volkes“
Was sagen Sie eigentlich hierzu, Herr Merz und Herr Lindner: Jeder vierte bis fünfte Rentner ist demgegenüber armutsgefährdet, insbesondere Rentnerinnen. Über 5 Millionen Rentnerinnen und Rentner leben an der Armutsgrenze. 28% der Rentenbezieher haben ein Nettoeinkommen von unter 1.000 Euro. Im europäischen Vergleich oder runter den OECD-Ländern liegt das Rentenniveau in Deutschland am unteren Ende. Das ist politisch von Ihnen so gewollt? Zugleich macht man den Rentnern ein schlechtes Gewissen, weil sie wegen der demografischen Entwicklung angeblich die jüngere Generation belasten und deshalb auf höhere Renten verzichten müssen – die jedoch in anderen Ländern üblich sind durch bessere Rentenmodelle.
Den Abgeordneten und Beamten, die nicht in die Rentenkasse einzahlen, macht niemand ein schlechtes Gewissen, weil für sie die Steuerzahler alle Zeit das hohe Renten- oder Pensionsniveau der Bessergestellten gefälligst zu gewährleisten haben. Niemand dreht den Abgeordneten stattdessen eine unsichere „Aktienrente“ als Alternative an, wie man es den normalen Rentenbeziehern aufzwingt. Es geht doch nichts über Privilegien, nicht wahr, Herr Lindner und Herr Merz?
Wenn Sie, Herr Merz, am 22. November 2021 anlässlich Ihrer Kandidatur für den Parteivorsitz (als Multimillionär) beteuerten. „Ich stehe jeden Morgen gerne auf“, so trifft das auf viele Rentner und Sozialhilfeempfänger nicht zu. Denn die hatten nicht Gelegenheit, ihren Lebensunterhalt jahrelang mit einem Dutzend Aufsichtsratsmandaten aufzubessern, wofür man nicht mal früh aufstehen muss.
„Wollen Sie das Sozialstaatsgebot und die Menschenrechte aushebeln?“
Deshalb frage ich Sie beide: Wollen Sie das Sozialstaatsgebot im Grundgesetz aushebeln? Hat nicht das Bundesverfassungsgericht die Sicherung des Existenzminimums verfassungsrechtlich gesichert? Sie legen doch aktuell beim Haushaltsrecht gerade so großen Wert auf Beachtung von Verfassungsgerichtsurteilen. Das Recht auf angemessenen Lebensstandard gehört zu den verbrieften sozialen Menschenrechten.
Anspruch und Wirklichkeit klaffen in der deutschen Realität weit auseinander, weil Sie, Herr Merz und Herr Lindner, sogar die turnusmäßigen „Armutsberichte“ der Bundesregierung ignorieren – und Deutschland deshalb von der UNO-Menschenrechtskommission Jahr für Jahr angemahnt wird. (In 4 Tagen ist wieder der „Tag der Menschenrechte“ mit Ihren Sonntagsreden). Zeigt sich hier nicht über 30 Jahre lang ein Totalversagen von seither neun Regierungskoalitionen mit 4 beteiligten Parteien, zumeist unter Führung Ihrer Partei, Herr Merz?
„Kinderarmut als Dauerzustand dank der Partei der sozialen Kälte?“
Haben Sie nicht mitbekommen, Herr Merz, dass in der langjährigen Regierungsära Ihrer „Partei der sozialen Kälte“, unterstützt von Herrn Lindners Kleinpartei, die Kinderarmut von 18% auf 22% in den letzten 20 Jahren ungebremst angestiegen ist, begleitet von der Bildungsbenachteiligung der Betroffenen. Jedes fünfte Kind in Deutschland, insgesamt drei Millionen Kinder und Jugendliche, müssen die Schande der Kinderarmut als Dauerzustand als „verlorene Generation“ erleiden, mit fehlender Zukunftsperspektive. Mit weiteren Sozialkürzungen wird deren Schicksal nicht besser. Die Mütter der Kinder sind oft Bürgergeld-Bezieherinnen, die Sie nun noch schlechterstellen wollen. Das trifft am Ende auch die Kinder.
„Familien mit Kindern suchen verzweifelt bezahlbare Wohnungen“
Sie, Herr Lindner, haben selber keine Kinder, sondern haben in diesem Sommer (nach Ihrer Luxushochzeit auf Sylt) für Schlagzeilen gesorgt mit dem günstigen Kredit-finanzierten Kauf eines millionennonenschweren Anwesens für eine geräumige Luxus-Immobilie in Berlin für Ihren 2-Pesonen-Haushalt. Familien mit Kindern in Berlin suchen vergeblich eine bezahlbare Wohnung. Und Herr Merz, ihr Parteifreund Jens Spahn, der als Nachwuchspolitiker für künftige Führungsaufgaben gefördert wurde, hat mit seinem Mann eine 5,3-Millionen-Villa in Berlin für seinen kinderlosen 2-Personen-Haushalt erworben – aber nach öffentlichen Schlagzeilen (vermutlich mit Gewinn) wieder verkauft. (Herr Spahn hatte übrigens schon im jahr 2015 in einem „BILD-Talk“ gefordert, die Rüstungsausgaben zu erhöhen und die Sozialausgaben zu senken – da war weder vom Ukraine-Krieg noch von der Haushaltsmisere etwas zu sehen.)
Vielleicht haben jetzt in seiner verkauften Villa mehrere Wohnung suchende Familien mit Kindern Platz? Denn die Wohnungsnot in Berlin und überall ist groß und die Mietpreise samt Nebenkosten explodieren ungebremst? Deshalb sind Sozialkürzungen aus Ihrer Sicht der richtige Schritt?
„Wo bleiben Ihre guten Vorsätze für eine soziale Politik-Orientierung?“
Sind Sie nicht, Herr Merz, in 2012 mit dem erklärten Anspruch als Kandidat für den Parteivorsitz angetreten, die CDU nach ihren eigenen Worten „wieder zur Volkspartei zu machen“ und damit vor allem zur politischen Vertretung der vielen „kleinen Leute und „hart arbeitenden Normalverdiener“? Stand Ihnen dafür nicht ein Vertreter des Arbeitnehmerflügels aus den Sozialausschüssen anfangs als Generalsekretär zu Seite, den Sie inzwischen ausgetauscht haben?
Jetzt plötzlich weht wieder ein anderer Wind bei der einstigen Volksparte CDU, die unter Ludwig Erhard noch die „soziale“ Marktwirtschaft hochgehalten hat. Bei Ihnen, Herr Lindner, mit ihrer neoliberal gewandelten Partei, kennt man die Abkehr vom Sozialen nicht anders, denn Sie verstehen sich wohl eher als Lobbyist für die Besserverdienenden? Haben Sie sich nicht in Ihrem Amtseid dem Wohl des ganzen Volkes verpflichtet?
„Abgeordnete ohne Berufsausbildung oder Studium tönen am lautesten“
Geben Sie es doch zu, Herr Merz und Herr Lindner: Eine Vielzahl Ihrer Abgeordneten-Kollegen haben weder eine ordentliche Berufsausbildung und längere Berufstätigkeit nachzuweisen noch ein abgeschlossenes Studium. Die Zahl der Studienabbrecher unter den Spitzenpolitikern und den daraufhin lebenslänglichen „Berufspolitikern“ – die eigentlich nur ein befristetes Mandat auf Zeit ausüben sollten – ist nicht gering. Der Spruch „vom Kreißsaal in den Hörsaal in den Plenarsaal“ trifft für viele auch junge Abgeordnete zu, die als Assistenten in Bundestagsbüros anschließend sogleich in die lebenslängliche „Politikerlaufbahn“ einschwenken und dann „große Töne spucken“.
Trotzdem orientiert sich deren Diätenhöhe generell an dem Gehalt der obersten Bundesrichter, die ein Studium mit zwei Staatsexamen und zumeist mit Promotion und Bestnoten abgeschlossen haben. Doch es gibt den bequemeren „Dritten Bildungsweg“ über ein erheischtes Bundestagsmandat (als eine Art „Lottogewinn“), um ohne Berufsaus- und -fortbildung oder Berufspraxis alsbald zur Elite zu gehören – um dann über die Arbeitsunwilligkeit der Bürgergeld-Empfänger von oben herab zu schwadronieren. Was glauben Sie, Herr Lindner und Herr Merz, wie das beim „einfachen Volk“ da unten ankommt – und wie das die Menschen zu Populisten hintreibt?
„Herr Lindner, können wir Ihnen als Finanzminister vertrauen?“
Sie Herr Lindner, waren immerhin nach 11-semestrigem Magister-Studium und später nachgeholtem Militärdienst von Ihrem 18. bis 25. Lebensjahr eine kurze Zeit als freiberuflicher „Unternehmensberater“ und „Stromhändler“ tätig, sowie ein Jahr lang als Geschäftsführer einer gescheiterten Internet-Firma, die nach Millionenverlust pleite ging. Das hat Sie sicherlich für das spätere Amt eines Bundesfinanzministers prädestiniert? Allerdings haben Sie ja nicht Betriebs- oder Volkswirtschaft studiert, sondern Politologie im Hauptfach sowie Öffentliches Recht und Philosophie – wie Wirtschaftminister Robert Habeck – im Nebenfach. (Zwei Philosophen im täglichen Clinch?)
Aber vielleicht kann Ihnen der Staatssekretär und Wirtschaftsberater aus dem Kanzleramt, Jörg Kukies, beratend zur Seite stehen, der zuvor in führenden Positionen bei der Investmentbank Goldman Sachs Erfahrungen sammelte – auch wenn die Bank bei der großen Finanzkrise ihren Glanz verlor…
„Hat Rüstung in schwindelerregendem Umfang absoluten Vorrang vor Sozialausgaben?“
Hoffen wir, dass unser Staat in der Haushaltskrise nicht pleite geht, weil er dreistellige Milliardensumme bevorzugt in Rüstung versenkt, statt sich prioritär um das soziale Wohl seiner Bevölkerung sozial gerecht zu kümmern. Vor allem Sie Herr Merz – als ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzender beim weltweit größten Finanzkonzern BlackRock, der Aktienanteile auch in allen großen Rüstungskonzernen hat und eine Beraterin im Wirtschaftsministerium unterbrachte – sind das sicherlich ihrem früheren Geldgeber schuldig, (sowie ihren Freunden aus der Rüstungslobby in der „Atlantik-Brücke“, deren Vorsitzender Sie bis 2019 waren)? Hat Rüstung in schwindelerregendem Umfang absoluten Vorrang vor Sozialausgaben? Kann es Sicherheit ohne soziale Sicherheit geben?
„Lieber falsch regieren als gar nicht regieren?“
Wie war das noch, Herr Lindner: „Lieber falsch regieren statt gar nicht regieren“ – oder lautete der Spruch umgekehrt? Aus meiner Wahrnehmung bestand Ihr bisheriger Regierungsbeitrag (als mit Abstand kleinster Ampel-Partner) fast ausschließlich im Nein-Sagen und Abblocken aller Vorhaben der Ampelpartner, insbesondere im Sozialen. Auch Ihr Umgang untereinander mit den Ampelpartnern beweist Ihre nicht gerade ausgeprägte Sozialkompetenz.
Kommt bald mal was Konstruktives für die Bevölkerungsmehrheit und nicht nur für Ihre überschaubare Klientel? Eine Regierungspartei sollte über einen bloßen Lobbyverein hinausreichen, der die Umverteilung von unten nach oben fortsetzen will – oder gefällt Ihnen die soziale Spaltung im Lande mit dem dadurch zu befürchtenden politischen Rechtsruck? Sind Sie vielleicht eine Spielernatur, die das Risiko liebt?
„Bleiben Sie Ihrer marktradikalen Linie treu, Herr Merz?“
Auch Sie, Herr Merz, waren ja wie Herr Lindner eine Zeitlang als „Unternehmensberater“ tätig, außerdem als Wirtschaftsanwalt sowie in 12 Aufsichtsräten, nach Ihrem vorübergehenden Ausstieg aus der Politik in 2004. Die Nähe zwischen Wirtschaft und Politik hat Ihnen gut getan? Fortan hatten Sie sich bis heute vehement gegen Vermögensabgaben und Vermögenssteuern sowie Erbschaftssteuern gewehrt – weil Sie selber davon betroffen wären? Schon damals wollten Sie tiefgreifende Veränderungen am Sozialsystem: Sämtliche staatlichen Sozial- und Transferleistungen von Bund, Ländern und Gemeinden wollten Sie auf den Prüfstand stellen und Sozialleistungen kürzen, wie ich nachgelesen habe. Denn bei zunehmendem Wohlstand der Reichen würde schon automatisch auch etwas für die Armen abfallen, so ihre Theorie.
Die inzwischen eingeführte Grundrente betrachteten Sie als Verstoß gegen das Beitrags- und leistungsorientierte Rentensystem. Sie wollten eine volle Rentenbesteuerung und einen möglichst niedrigen Mindestlohn. Den Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer wollten Sie lockern. Sie sorgten sich während der Corona-Pandemie, dass die Menschen sich „zu sehr an ein Leben ohne Arbeit gewöhnen“ und deshalb schnell wieder zurück an den Arbeitsplatz müssten. Gehört alles das noch zu Ihrem Programm, Herr Merz, falls Sie die Ampelregierung ablösen wollen? Bleiben Sie also Ihrer marktradikalen Linie treu, zum Nachteil der Bevölkerungsmehrheit?
„Arbeit trotz widriger Umstände und mit Niedrigstlöhnen“
Lassen Sie mich abschließend noch kurz ergänzen, wie sich mein eingangs geschildertes langjähriges Arbeitsleben als prekär Beschäftigte Alleinerziehende zu Niedrigstlöhnen bis zum Bezug von Bürgergeld gestaltete – mit Blick auf die Rahmenbedingungen: Erwähnt sei hierzu am Rande, dass ich dabei viele Stunden meines Lebens als Berufspendlerin mit der viel zu teuren und unzuverlässigen Bahn wartend und frierend auf heruntergekommenen Bahnhöfen im Ruhrgebiet verbracht habe, während die Töchter zu Hause auf die Mutter warteten. (Vielleicht testen Sie mal das alltägliche Bahnchaos im Kreise Ihrer geplagten Mitbürger vor Ort, Herr Merz, anstatt bequem über unsere Köpfe hinweg ihren klimaschädigenden Privatjet zu benutzen für die Anreise nach Sylt, z. B. zur Luxushochzeit ihres Gesinnungsfreundes Christian Lindner).
Waren es nicht Ihre Parteifreunde Roland Profalla, Otto Wiesheu und Johannes Ludwig, die sich für Millionengehälter plus Bonizahlungen laienhaft als Manager im Bahnvorstand betätigten, um den Wunsch Ihrer Partei nach Privatisierung und Börsengang der Bahn stümperhaft und vergeblich umzusetzen versuchten, mit dem heutigen desaströsen Ergebnis?
„Auch ich war und bin Tafelbesucherin in der Reihe mit Obdachlosen“
In all den Jahren war ich immer mal wieder auf den Besuch der Tafel zur Lebensmittelversorgung angewiesen, manchmal in einer Reihe mit den Wohnungs- und Obdachlosen (deren Zahl in Deutschland auf über 600.000 hochgeschnellt ist). Nehmen Sie als hochbezahlte Spitzenpolitiker nicht die zwei Millionen Tafelbesucher bei der Armenspeisung im reichen Deutschland zur Kenntnis – das sind 50% mehr als im Vorjahr – während Sie in Gouermet-Lokalen und auf Buffets (oder auf Sylt und am Tegernsee) fürstlich speisen oder mit dem Privatjet oder Porsche unterwegs sind?
Die halbe Millionen Wohnungs- und Obdachlosen in Deutschland und die sozialen Brennpunkte bekommen Sie dabei kaum zu Gesicht, fernab Ihrer Luxuswohnlage oder in Ihrem Ferienhaus am Tegernsee, Herr Merz. Als Geringverdienerin und jetzige Bürgergeld-Empfängerin konnte ich mir mit meinen Kindern zeitlebens nicht mal einen Urlaub in Brilon oder Arnsberg im Sauerland leisten, und jetzt schließen an vielen Orten auch noch die städtischen Freibäder als Urlaubsersatz, weil die unterfinanzierten Städte mit ihrer Infrastruktur verarmen. Deswegen bekam ich trotz Rechtsanspruch lange Zeit auch keinen Kita-Platz für meine Kinder als Alleinerziehende.
Und meine winzig kleine Wohnung mit den 2 Kindern an einer lauten Durchgangsstraße habe ich zeitweilig mit einer Freundin geteilt, die ihre Wohnung verloren hatte – derweil der Bundesdurchschnitt bei fast 50 qm Wohnfläche pro Person liegt. Sie liegen sicher weit darüber, Herr Merz und Herr Lindner?
„Soziale Kälte fürs Volk – soziale Hängematte für die politische Elite?“
Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, Herr Merz und Herr Lindner aber Sie müssen Ihre Sichtweise vom Kopf auf die Füße stellen oder umgekehrt: Nicht unten sitzen die „Sozialschmarotzer“ und oben die „Leistungsträger“ – oft durch leistungslose Erbschaften oder Immobiliengewinne reich geworden – sondern umgekehrt: Ganz oben sitzen nicht wenige Sozialschmarotzer, die Ihren Reichtum auf dem Rücken der Ärmeren ganz unten unverdient erworben haben.
Das ist meine Sichtweise, die ich im Laufe vieler Jahre als unverschuldete soziale Verliererin im ungerechten Sozialgefüge erworben habe. Also ich erkenne in meinem sozialen Umfeld überwiegend kein individuelles Verschulden der Betroffenen, sondern politisches Versagen derer, die soziale, Kälte für das Volk verbreiten, aber selber oben in der sozialen Hängematte dem Steuerzahler zur Last fallen., ohne ihren politischen Job richtig und erfolgreich zu machen. Denn unser Land geht immer mehr „den Bach herunter“ – vor allem auch wegen der „Verkommenheit unserer Eliten“.
„Vielleicht werde ich zum ersten Mal auch Nichtwählerin?“
Um dagegen anzukämpfen, ist unsere Demokratie gedacht und eingerichtet worden- und dafür ist auch dieser Brief gedacht, der vielleicht etwas bewirken wird – oder auch nicht? Auf jeden Fall weiß, ich nicht, wem ich demnächst als Wählerin meine Stimme geben soll, nachdem ich diese jahrelang an unsere „etablierten“ Parteien verschenkt hatte, ohne etwas zurückzubekommen. Vielleicht werde ich auch zum ersten mal Nichtwählerin.
Gelsenkirchen, den 06. Dezember 2013
Mit nachdenklichen Grüßen
Elfriede J. *
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