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Gewalt gegen alte Menschen: Null Toleranz

15.06.2012 - von Prof. Dr. Hirsch

Auf Initiative des „International Network for the Prevention of Elder Abuse“(INPEA) finden am 15.6.2012 weltweit zum 7. Mal Aktionen statt. Diese sollen auf das noch oft vernachlässigte Problem der Diskriminierung und Misshandlung von alten Menschen eindringlich aufmerksam machen und Lösungsstrategien aufzeigen. Dies geschieht in Bonn u.a. durch einen Info-Stand am Friedensplatz – Ecke Sternstrasse von 14.oo – 17.oo Uhr.

Die Krisen- und Notrufberatungsstelle HsM überblickt 15 Jahre und wurde in dieser Zeit mit vielfältigen z.T. sehr schwierigen Situationen im häuslichen und stationären Bereich konfrontiert.
Sie möchte an diesem Tag Betroffenen und interessierten Bonner Bürgern Hilfen und mögliche Anlaufstellen in Bonn aufzeigen bzw. vermitteln, wie wir sie im „Bonner Ratgeber für ältere Menschen“ zusammengestellt haben. Immerhin zeigt dieser Ratgeber mit über 700 Adressen Informationen an, die für alte Menschen, deren Angehörige und Bonner Institutionen und Einrichtungen hilfreich sein können. Zudem stehen wir mit Rat und Tat an diesem Tag Betroffenen und deren Angehörigen zur Verfügung bzw. vereinbaren einen weiteren Termin in unserer Krisenberatungsstelle. Die Beratungen + Hilfsangebote finden von ausgewiesenen ehrenamtlichen Experten (Sozialarbeiter, Altenpfleger, Krankenpfleger, Fachärzte u.a.) statt.

Gewalthandlungen und Straftaten gegen alte Menschen sind keine Seltenheit. Über 51% der über 60-Jährigen werden Opfer von Vermögens-, Gewalt- oder Sexualstraftaten, aber nur wenige
Gewaltsituationen werden „aktenkundig“.

Alten Menschen in krisenhaften Situationen Unterstützung, Beratung und Hilfe anbieten zu können ist nicht weniger wichtig als für jüngere Menschen. Mit Schuldzuweisungen kommen wir nicht
weiter. Sucht ein alter Mensch, der Opfer einer Gewalthandlung wurde, in Deutschland Hilfe, so findet er diese nach unseren Erfahrungen nur schwer. Zu einer Anzeige kann er sich selten
durchringen. Notruftelefone oder Krisenberatungsstellen für alte Menschen gibt es nur wenige.

Zudem sind viele alte Menschen beschämt, dass sie Opfer wurden und trauen sich nicht, um Hilfe zu bitten oder stehen in großer Abhängigkeit zu denen, die Gewalt anwenden.

In Deutschland leben aktuell 2,34 Millionen pflegebedürftige Menschen. Dabei werden von der Statistik derzeit nur die Personen erfasst, für die eine Pflegestufe festgelegt wurde und die damit Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten. Alte Menschen, die ihren Alltag ebenfalls nicht ohne Unterstützung bewältigen können, die unterhalb der bisherigen Festlegungen der
Pflegeversicherung liegen, tauchen in den Statistiken nicht auf und erhalten keine Leistungen aus der Pflegeversicherung. Ihre Zahl wird auf mindestens 3,5 - 4 Millionen geschätzt.

Pflegende Familien stellt die bisherige Begutachtungspraxis der Pflegeversicherung vor enorme Herausforderungen.Auch wenn Gewalt innerhalb einer Pflegebeziehung in der Familie nicht selten eine lange Vorgeschichte hat, beobachten wir viel häufiger, dass trotz guter Absichten Grenzen in der häuslichen und familiären Pflege erreicht werden. Unwissenheit, Zeitmangel, Erschöpfung und Überforderung tragen dazu bei, dass die eigene Häuslichkeit, große Risiken mit sich bringt. Über 53% der Angehörigen berichten, dass sie innerhalb eines Jahres selber gegenüber Pflegebedürftigen gewalttätig wurden.

Die Belastungen der Pflegenden sind extrem hoch. Sie münden oft in körperlicher und seelischer Überforderung bis hin zu eigenen Erkrankungen. Über 50% der pflegenden Personen haben körperliche Beschwerden. Erschöpfung, Gliederschmerzen, Magen- und Herzbeschwerden treten im Vergleich zu nicht pflegenden Personen überdurchschnittlich oft auf.

In der professionellen Pflege erleben wir ein hohes Maß an Arbeitsverdichtung und Überforderung. Gleichzeitig beobachten wir eine drohende Entprofessionalisierung in der Pflege. Durch die starken Reglementierungen und Dokumentationsverpflichtungen übernehmen nach unserer Einschätzung zunehmend weniger Menschen in der Pflege die Verantwortung für das eigene Handeln und das Handeln der Teams.

In vielen stationären Einrichtungen ist die Situation trotz vielfältiger Bemühungen besorgniserregend. Es wird immer noch fixiert, festgebunden oder eingesperrt, Türen werden verschlossen, Gurte und Bettgitter hochgezogen und zu viele Medikamente gegeben. Wir wissen auch, dass Fixierungen häufig genau das Gegenteil dessen bewirken, was bezweckt wurde. Die Sturzrate nach Fixierungen steigt sogar deutlich an und die körperliche Unruhe wächst. Die Angst der Einrichtungen vor späteren Regressansprüchen von Krankenkassen für Behandlungskosten bei Nichtfixierung ist allgegenwärtig und verhindert einen angemessenen Umgang mit schwierigen Pflegesituationen. Um diese für alle schwierigen und sehr belastenden Situationen auch in Bonn zu verringern, ist die Zusammenarbeit aller notwendig.

Nicht nur die alten Menschen brauchen bei Gewalterfahrungen Ansprechpartner, Unterstützung und Hilfe. Auch pflegende Angehörige und Pflegemitarbeiter/innen, die aus eigener Überforderung, Hilflosigkeit und fehlendem Wissen um Alternativen Gewalt anwenden, müssen mit gezielt zugehenden Angeboten möglichst frühzeitig aus einer sonst eskalierenden Gewaltspirale herausgeholt werden. Gewalt in pflegenden / familiären Beziehungen ist der zerstörerische Versuch,schwierige und belastendende Situationen zu bewältigen.

HsM unterstützt die Forderungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Krisen- Beratungs- und Beschwerdestellen für alte Menschen in Deutschland, die anlässlich des 7. „World Elder Abuse Awareness Day“ formuliert wurden:

1.
Keine Toleranz von Gewalt gegen alte Menschen in keiner Situation und zu keiner Zeit!
2.
Schaffung von Krisen- und Notrufberatungsstellen für alte Menschen, Angehörige und Pflegekräfte in jeder Region!
3.
Deeskalationstraining und Wissensvermittlung über die Gewalt gegen alte Menschen in die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Pflegekräften und Ärzten einbeziehen!
4.
Keine Fixierungen (Fesselungen) in Pflegeheimen und Kliniken!
5.
Einrichtung von rechtlichen Betreuungen nur nach dem Erforderlichkeitsprinzip und unter Achtung des Willens des Betreuten!
6.
Beachtung der UN-Konvention für Rechte von Menschen mit Behinderungen!
7.
Verbreitung und Einhaltung der Charta der Rechte für hilfe- und pflegebedürftige Menschen!
8.
Schaffung einer Lehr-, Forschungs- und Dokumentationseinrichtung zur Problematik von Gewalt gegen alte Menschen für Deutschland!

Helfen Sie mit, dass Respekt, Anstand und Würde auch alten Menschen in unserer Gesellschaft zuteil werden! Das ist keine primäre Frage des Geldes, sondern der Einstellung zum Menschenbild, welches keine Altersgrenzen kennt!

Für den Vorstand von HsM
Prof. Dr. Dr. R. D. Hirsch

Quelle: PM, HSM Bonn