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Altersarmut im reichsten Land Europas nimmt zu

Los Angeles, 2012 Foto: H.S.

04.11.2013 - von H.S.

Armut und Altersarmut nehmen im reichsten Land Europas zu. Egal ob Mann oder Frau: wer arm ist, stirbt früher, wird häufiger krank, hat keine Lobby, und kann am Leben jenseits der Wohnung selten teilnehmen. Ohne Moos nix los. Schwimmbad, Turnverein, Kneipe, Volkshochschule, Kaffekränzchen, Orchester, Massage, Fußpflege, Kino, Friseur - alles kostet Geld.

15,8 Prozent der hiesigen EinwohnerInnen galten 2010 offiziell als arm. 2011 waren es bereits 16,1 Prozent der Bevölkerung, teilte das Statistische Bundesamt auf Basis einer EU-weiten Statistik mit.

Frauen besonders von Altersarmut betroffen
Der Frauenanteil unter den Armen ist hoch. Dabei spielt das Alter kaum eine Rolle. Mädchen unter 18 sind zu 15,7 Prozent von Armut bedroht, bei den Jungs unter 18 sind es "nur" 14,8 Prozent. Größer ist der Unterschied bei den über 65Jährigen. Denn besonders im Alter wirken sich die schlechtere Bezahlung und die häufigere Teilzeitarbeit der Frauen auf die Höhe ihrer Renten aus. Von den älteren Ladys gelten 16,6 Prozent als armutsgefährdet, bei den älteren Herren sind es "nur" 13,3 Prozent. Am schlimmsten sind alleinerziehende Mütter (und die wenigen alleinerziehenden Väter) von Armut betroffen. 38,8 Prozent (!) der Alleinerziehenden gelten als arm oder armutsgefährdet. An ihre Renten wagt man gar nicht zu denken. Das gilt genauso für die immerhin 4,3 Millionen Frauen, die 2011 mit weniger als 20 Wochenstunden Teilzeit gearbeitet haben. 2012 wurden von allen Neueinstellungen mit sozialversicherungspflichtigen Teilzeitstellen 78 Prozent von Frauen mit Frauen besetzt. Ihre Rentenaussichten sind alles andere als rosig. Immerhin wurde das reale Rentenniveau im reichsten Land Europas zwischen den Jahren 2000 und 2011 um 25 Prozent gesenkt.

Unanständig niedrige Renten
Bundeskanzlerin Merkel, die seit 2005 die Richtlinien der Politik bestimmt, ist nicht an der Verbesserung der Situation der Armen im reichsten Land Europas interessiert. Zwar stand im Koalitionsvertrag mit der FDP die Forderung nach "anständigen Renten", doch die Renten sind für zu viele unanständig niedrig geblieben. Zitat von der Leyen: „ ... bis 2030 ergeben 40 Jahre Beiträge aus 2.200 Euro monatlich eine Rente von 688 Euro.“ Das betrifft etwa 20 Millionen Pflichtversicherte!

2003 wurde die Grundsicherung eingeführt
"Zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums" hat rot/grün im Januar 2003 die Grundsicherung eingeführt. Ende 2012 erhielt fast eine halbe Million (465.000) der über 65jährigen BundesbürgerInnen diese antragspflichtige Leistung. Zwei Drittel davon waren Frauen. Ihre Renten reichen für den Lebensunterhalt nicht aus. Durch Grundsicherung wird das Einkommen von Alleinstehenden auf derzeit 374 € pro Monat aufgestockt. Dazu kommen die Bezahlung von Unterkunft, Heizung und den Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung. 374,00 Euro im Monat! Davon müssen Strom und Telefon, Essen und Trinken, Schuster, Reparaturen, Fahrtkosten und Waschmittel bezahlt werden.

Tatsächliches Ausmaß der Altersarmut nicht erfasst
Wer 2007 Grundsicherung im Alter bezog, hatte im Schnitt ein gesetzliches Alterseinkommen von 549 Euro brutto im Monat. Das stellte die Verteilungsforscherin Irene Becker fest. Ihre Daten beruhen auf den Ergebnissen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) für das Jahr 2007. Aus den Zahlen der repräsentativen Befragung ergibt sich: Von gut einer Million Menschen ab 65 Jahren, denen damals Grundsicherung zustand, bezogen nur 340.000 tatsächlich Leistungen. Die "Quote der Nichtinanspruchnahme", so der technische Begriff für die Dunkelziffer der Armut, betrug 68 Prozent!

Becker ist sicher, dass dieses Ergebnis die Realität gut widerspiegelt. Schließlich steht die mit demselben Datensatz ermittelte "bekämpfte Armut" in Übereinstimmung mit den amtlichen Statistiken - was für die Repräsentativität der Stichprobe spricht. Und wenn es Verzerrungen gäbe, dann würde die verdeckte Armut eher unterschätzt, betont die Forscherin. Möglich wäre nämlich, dass Menschen, die den Gang zum Sozialamt scheuen, auch überdurchschnittlich häufig vor der Teilnahme an Befragungen zurückschrecken. Personen mit Sparguthaben oder nur geringen Grundsicherungsansprüchen von unter 30 Euro im Monat hat sie bei ihrer Rechnung gar nicht berücksichtigt. Bedürftigkeit im Alter ist laut Becker meist keine Folge gänzlich fehlender Rentenansprüche. Die Rente reicht aber nicht, um die Bezieher auf das sozio-kulturelle Existenzminimum zu heben. Wer Grundsicherung im Alter bezieht, hatte 2007 im Schnitt ein gesetzliches Alterseinkommen von 549 Euro brutto im Monat.

Armut im Alter wird zunehmen
Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Den AutorInnen des 5. Altenberichts der Bundesregierung verdanken wir eine differenzierte Analyse der Benachteiligungsmechanismen der Rentenpolitik. Aus ihrem Bericht geht hervor, dass die Alterseinkommen derjenigen, die heute um die 50 sind, in den nächsten Jahren noch sehr viel ungleicher verteilt sein werden, als das bereits heute der Fall ist. Holger Balodis + Dagmar Hühne, Autoren des Buches „Die Vorsorgelüge“, gehen davon aus, dass von den heute rund 42 Millionen Beschäftigten 15 bis 20 Millionen im Alter arm sein werden.

Beispiel Berlin
Mit den Angaben im statistischen Jahrbuch von Berlin läßt sich die Entwicklung der letzten Jahre gut belegen. 2004 hatten 13.000 über 65Jährige in Berlin Grundsicherung beantragt.
2005: 23.000.
2006: 29.543
2007: 28.548
2008: 31.118
2009: 30.818
2010: 31.647
2011: 33.1953 (darunter 19.368 Frauen)
Das entspricht im Vergleich mit 2004 einer Steigerung von 155,3 Prozent!

Das Institut für Menschenrechte in Berlin empfiehlt dem neuen Bundestag und der neuen Bundesregierung, in der nächsten Legislaturperiode wirksam gegen Altersarmut vorzugehen und dabei auch die universellen Menschenrechte als Maßstab für ihr Handeln zu nehmen. Eines dieser Menschenrechte ist das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe.

Risiko Altersarmut – Aktuelle Aufgabe für die Politik: PDF
http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/index.php?id=198

Link: Lebensalter und Menschenrechte
Quelle: diverse