21.12.2015 - von T.M.
Ich bin 40 Jahre alt mit einem Promotionsthema zu dem es fast weltweit so gut wie keine Forschung gibt und einem "sehr guten" Uniabschluss. In D ist es unmöglich eine Förderung zu erhalten. Entweder wird die Altersdiskriminierung unverfroren auf der jeweiligen Homepage zur Schau gestellt (was mir mittlerweile die sympathischere weil ehrlichere Variante ist) – oder es wird so getan als ob, aber wenn man dann anfragt, erhält man immer die gleiche Antwort: "Wir haben keine offiziellen Altersgrenzen, aber …"
Besonders ekelhaft ist die Doppelmoral vieler "linker" Stiftungen. Ein schönes Beispiel ist die Friedrich Ebert-Stiftung. Der Abgrund zwischen Selbstbild und Verhalten ist faszinierend:
Das Selbstbild: "Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist den Grundwerten der Sozialen Demokratie - Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität - verpflichtet. Der gerechte Zugang zu Bildungschancen ist deshalb ein wichtiges Anliegen unserer Studienförderung."
Dieses Bollwerk der Demokratie und Bildungsgerechtigkeit widerspricht sich selbst gleich im nächsten Satz: "Ohne Unterstützung fällt es vielen jungen Menschen schwer, sich an einer Hochschule zu behaupten, obwohl sie Talent dafür haben. Hier leisten wir einen Beitrag."
Alterdiskriminierung ist so normal für die FES, dass sie es nicht einmal wahrnimmt. Oder nicht wahrnehmen will, denn meine diesbezüglichen Anfragen wurden in den Wind geschlagen.
Das Verhalten: "Gibt es generell eine Altersgrenze für Bewerber_innen? Bewerben kann sich jede_r. Anhand der Unterlagen wird dann entschieden, ob eine Förderung infrage kommt. Bei der FES gibt es keine festgelegte Altersobergrenze. Unter den FES-Stipendiat_innen finden sich auch Personen, die älter als 30 Jahre sind (auch in der Grundförderung). Allerdings ist die FES-Studienförderung laut Richtlinien auf die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ausgerichtet. Es handelt sich deshalb um Einzelfallentscheidungen unsererseits."
Man beachte die unverfroren diskriminierende Formulierung "auch Personen, die älter als 30 Jahre sind" – so als ob es ein Makel wäre, wenn man seine wissenschaftliche Arbeit mit Lebens- und Berufserfahrung bereichert und lebendig gestaltet. Und man stelle sich den Aufschrei vor, wenn die FES schreiben würde: "auch Personen, die Frauen sind", etc. Link
Ich frage mich auch, wie offen die FES wirklich für beispielsweise zugewanderte Studierende ist, wenn dort jegliche Bereitschaft fehlt, sich mit den eigenen altersdiskriminierenden Haltungen auseinanderzusetzen. Es ist selten so, dass Leute ignorant bei einer Diskriminierungsform sind und superreflektiert bei einer anderen. Sich mit der erschütternden Tatsache, dass jeder Mensch (also auch man selbst) Vorurteile hat auseinanderzusetzen, erfordert eine gewisse innere Bereitschaft und die hat man oder hat nicht. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass bei Leuten, die offen altersdiskriminieren, es mit der Toleranz gegenüber anderen Gruppen auch oft nicht weit her ist.
Wie dem auch sei, ich habe in England und Deutschland studiert und mich immer gewundert, warum der Diskurs an deutschen Universitäten vergleichsweise zahm, langweilig und lebensfern ist. Beispiel: Im Ausland macht man sich gerne über die abgehobene und unverständliche Sprache vieler deutscher wissenschaftlichen Publikationen lustig. Die tollste Erkenntnis ist wenig wert, wenn sie nur ein kleiner Club von Eingeweihten versteht. Diese Weltfremdheit ist kein Wunder, wenn der deutsche Universitätsbetrieb nur von Leuten beherrscht wird, die nichts anderes als die Schule und Universität kennen. (Und natürlich "lückenlose". glattgebügelte Lebensläufe haben.) Natürlich gibt es Ausnahmen, aber es geht hier nicht um Einzelfälle, die zudem oft nur zu gerne als (immer verzweifelter klingende) Entschuldigung hervorgeholt werden, um einen generellen Mißstand zu entschuldigen.
Zum Vergleich die University of Exeter:"We recognise that mature students may offer different qualifications and experience, which will be taken into account when we assess your application, it is obviously important that you have adequate experience and/or qualifications to allow you to cope with academic demands of your course. It is normally recommended that you should have undertaken some recognised systematic course of study (eg, Access, Open University credits, or GCE A levels) within the last three years." Link
Es macht sehr viel Sinn, sich nach mehren Jahren oder Jahrzehnten wieder auf die Uni vorzubereiten. Die Open University steht jedem Menschen mit Internetanschluss und englischen Sprachkenntnissen zur Verfügung: https://de.wikipedia.org/wiki/The_Open_University
Erfahrungsbericht von Exeter:
"I went back to education by taking an Access course after my first child started school. Having been out of the system for ten years I felt apprehensive about taking on the commitment of a degree, especially with a family to look after. I actually found the whole experience amazing. There is so much support and understanding for mature students in terms of practical issues like finance and general, pastoral care. I graduated this year with First Class Honours and feel such a huge sense of pride in my achievement. As a result of my studies I have more than a degree; I have more confidence and the sense that I know I can do anything I set my mind to. My youngest child starts school soon and I can not wait to begin my career!
Sanchia Hylton-Smith, BA English graduate"
Nicht zuletzt ist die deutsche Engstirnigkeit eine Tragödie. All das verlorene Wissen, die veschwendeten Doktorarbeiten, die überflüssig geglaubte Erkenntnisse sind ein Verlust für die deutsche Gesellschaft und die Welt: Man stelle sich vor, eine alleinerziehende Mutter, die jahrelang von ALG II gelebt hat und weiß wovon sic redet, würde ihre Innenperspektiven nun wissenschaftlich erforschen. Nicht nur hätte sie einen ganz andere Zugang zu den Betroffenen, beispielsweise via Interviews, als jemand, der oder die noch nie einen Jobcenter von innen gesehen hat. Was hätte so eine Professorin den Studierenden zu geben. Wie spannend wäre es wenn jemand mit realen Erinnerung an die Kriegszeit seine Doktorarbeit darüber schreibt. Mit 80 Jahren. In Deutschland wird dies nicht einmal für möglich gehalten.
Siehe da: "80-Year-Old Graduates From College With Honors Alongside Two Of Her Grandchildren: … She had some personal setbacks and she beat them all and she is here graduating,” Sarah Bulnes, Salgados English teacher, told the Herald. “I am very proud of her.”
Salgado also received praise from her family.
"For me and my family, for her to take this one step graduating, it fills my heart," David Salgado, one of the 81-year-olds grandsons who graduated with her, told NBC 6.
The future is looking bright for the octogenarian, and now, with a fresh diploma, Salgado is thinking about a new career.
“I am going to think about creating poems about children because I like poems. I am going to illustrate some stories for children,” said Salgado, according to CBS Miami. “I love art and education and anything to do with children.”
Link
Wovor haben FES, der DAAD und die deutschen Universitäten so viel Angst? Vor dem wahren Leben? Dass sie nicht mithalten können, wenn Salgado + Co. die Universitäten die Universitäten erobern? Fragen über Fragen.
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