Gera, April 2008 Foto:Hanne Schweitzer
17.02.2010 - von Hanne Schweitzer
„Mit Mitteln im Umfang von einer dreiviertel Mitarbeiterstelle“, hat das Gerontologische Institut der Universität Heidelberg „Altersbilder in anderen Kulturen“ untersucht. Für die Mittelvergabe (knapp, aber immerhin) waren die Robert Bosch Stiftung in Stuttgart zuständig und das Bundesfamilienministerium in einer Zeit, als dort noch eine Frau mit gelebter Auslandserfahrung auf dem Chefsessel saß.
Die Altersbilder in Brasilien, USA, Japan, Frankreich, Norwegen, Kanada und Großbritannien wurden untersucht. Diese Staaten sind schwer auf einen Nenner zu bringen. Welchen Zugang hat die politische Klasse (wenn sie denn überhaupt einen hat), zum demografischen Wandel?
Wer wenig Neigung zur Literatur hat, aber trotzdem wissen möchte, wie woanders über das Altwerden und Altsein gedacht wird, und wer dabei im Hinterkopf behält, dass keines der ausgesuchten Länder ein vormals sozialistisches war, dem sei die Lektüre und der damit verbundene Blick über die eigene Kirchturmspitze hinaus wärmstens empfohlen. Brasilien bildete den Schwerpunkt der Untersuchung bzw. war das „primäre Zielland“.
Ausgangspunkt der Untersuchung: Alter ist immer auch Ergebnis sozialer Konstruktionen. Kultur umfasst explizite wie implizite Verhaltens- Erlebens- und Deutungsmuster, die durch soziale Interaktion erworben, erhalten und weitergegeben werden und die Errungenschaften, Besonderheiten, Chancen und Benachteiligungen von Personengruppen im Vergleich zu anderen definieren und begründen. Die Interpretation des Alters hängt von der Schichtzugehörigkeit ab. Bei geringen finanziellen Ressourcen und geringem Bildungsstand wird Alter häufiger mit negativen Attributen belegt.
Methode:
Literaturanalyse, Experteninterviews, ethnologische Feldforschung, biografische Interviews.
Älterwerden in Brasilien:
Seit 40 Jahren steigt das Durchschnittsalter. Wachsender Wohlstand/Zunehmende Armut. Soziale Ungleichheit bei Bildungschancen, sozialer Teilhabe, Mobilität, Lebenserwartung. In einem Zeitraum von 40 Jahren kann kein Staat der nur ein vergleichsweise geringeres Bruttosozialprodukt aufweist, kein umfassende Versorgungsstruktur für ältere Menschen aufbauen. (Soll man das glauben?) Das Erreichen des vierten Lebensalters (85 und älter) ist nur Angehörigen der mittleren und
sozialen Oberschicht möglich. Stark ausgepägter Jugendwahn, verbunden mit Ablehnung der Merkmale, die Altern und Alter konstituieren. Viele SchönheitsOps. Großer Einfluss der Schichtzugehörigkeit auf die Altersbilder. 1963 hat sich die erste Gruppe älterer Menschen in Sao Paulo gegründet. 1989 werden dem Sozialministerium erste Vorschläge für eine altenfreundliche Gesetzgebung vorgelegt. 1994 wird das erste Gesetz verabschiedet, um damit die Politk für ältere Menschen zu regeln. 1998 ein Gesetz zur Rentenreform, zur Altenhilfe und zur Sozialhilfe. 2004 Ergänzung des 94er Gesetzes.
Die Rentenversicherung zahlt, wenn jemand Invalide wird, oder nach einer 30jährigen Berufstätigkeit von Frauen und einer 35jährigen Berufstätigkeit von Männern. Das gesetzliche Rentenalter der Männer liegt bei 65 Jahren, Frauen gehen mit 60 in Rente. Landarbeiter und Landarbeiterinnen je fünf Jahre eher. Das hört sich viel an, ist aber nur noch der Hauch jener Achtung schwerer körperlicher Arbeit, die das brasilianische Rentensystem einst dadurch honorierte, dass Landarbeiterinnen mit 48 Jahren, und Landarbeiter mit 53 in Rente gehen konnten.
Von den über 60jährigen Männern gehen heute in Brasilien 65 Prozent einer Arbeit nach, bei den über 70jährigen Männern sind es 35 Prozent.
USA Annahme
Im politischen und gesellschaftlichen Bereich hoch effektive Organisationen älterer Menschen. Angenommen wurden große Unterschiede in den Altersbildern weil heterogen bei sozialer Sicherung und materieller Ressourcen. Individuum und Familie tragen Verantwortung für das Alter. Ambivalenz beim Blick auf Alter(n). Einerseits Preisen der Vorzüge des Alter(n)s, andererseits viel Geld für Schönheitsops und AntiAgeing.
Kanada Annahme:
Keine Herausforderung durch demografischen Wandel. Angenommen wurden unterschiedliche Lebensstile.
Japan Annahme:
Seit Jahren demografischer Wandel, Annahme: Positive Einstellung zu älteren Menschen. Individuum und Familie tragen Verantwortung für das Alter. Hochdifferenzierte Auseinandersetzung mit Möglichkeiten der kommunal und individuell getragenen Verbesserung der Versorgungsinfrastruktur für Menschen mit Pflegebedarf.
Gewaltphänome in der privaten Pflege werden breit diskutiert. Ambivalenz beim Blick auf Alter(n). Einerseits Preisen der Vorzüge des Alter(n)s, andererseits viel Geld für Schönheitsops und AntiAgeing.
Großbritannien Annahme:
Stärkung der Rechte Älterer haben lange Tradition. Betonung der gesellschaftlichen Mitverantwortung für Bewältigung der Grenzen im vierten Lebensalter. Kommune und Staat stehen in der Verantwortung. Kaum Ambivalenz beim Blick auf Alter(n). Wenig Preisen der Vorzüge des Alter(n)s, wenig Geld für Schönheitsops und AntiAgeing.
Norwegen Annahme:
Hohes Wohlstandsniveau. Modelle sozialer Teilhabe. Vorbild für Altenarbeit. Betonung der gesellschaftlichen Mitverantwortung für Bewältigung der Grenzen im vierten Lebensalter. Kommune und Staat stehen in der Verantwortung.
Kaum Ambivalenz beim Blick auf Alter(n). Wenig Preisen der Vorzüge des Alter(n)s, wenig Geld für Schönheitsops und AntiAgeing.
Frankreich Annahme:
Kulturelle Teilhabe älterer Menschen, Ansätze zur Versorgung demenzkranker Menschen. Betonung der gesellschaftlichen Mitverantwortung für Bewältigung der Grenzen im vierten Lebensalter. Kommune und Staat stehen in der Verantwortung. Kaum Ambivalenz beim Blick auf Alter(n). Wenig Preisen der Vorzüge des Alter(n)s, wenig Geld für Schönheitsops und AntiAgeing.
Bundesrepublik Annahme:
These: stärker ausgeprägte kulturelle Reserviertheit gegenüber Altern und Alter. Kein empirischer Beleg dafür wurde gefunden. Anti-Ageing bestimmt den Diskurs nicht mehr als in anderen Ländern. Kaum Ambivalenz beim Blick auf Alter(n). Wenig Preisen der Vorzüge des Alter(n)s, wenig Geld für Schönheitsops und AntiAgeing.
Fazit:
In allen Ländern wurden mit Alter sowohl Gewinne als auch Verluste, sowohl Stärken als auch Schwächen, sowohl Potentiale als auch Belastungen für die Gesellschaft assoziiert. Die These, es gäbe unter diesen sieben Ländern eines, in dem mit Alter primär Weisheit und Lebenserfahrung verbunden würden, und eine durchweg positive Sicht des Alters vorherrsche, ist falsch, ist ein Stereotyp.
Nachzulesen en detail: Studie des Instituts für Gerontologie der Universitä Heidelberg im Auftrag der Robert Bosch Stiftung und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Herausgegeben von der Robert Bosch Stiftung. Text: Prof. Dr. Andreas Kruse. Copyright 2009 ISBN 978-3-939574-19-4
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