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Ich fordere das Recht auf Arbeit

22.12.2006 - von Wolfgang Neisser

Auch wenn ich als Selbständiger die letzten 10 Jahre gearbeitet habe, betrifft mich die Altersdiskriminierung um so mehr, da wir Selbständigen keinerlei Arbeitslosenversicherung haben, die ist erst letztes Jahr per Gesetz eingeführt worden.

Ich habe mich nach einem dramatischen Einbruch in meine ohnehin kleine Kundenstruktur wieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt mit dem Fazit, dass ich versteckt oder direkt wegen meines Alters von 57 Jahren nicht genehm war.

Deshalb engagiere ich mich immer mehr im Thema "demographische Herausforderung" und habe dazu den folgenden Text geschrieben.

Recht auf Arbeit im Sinne des Artikel 2 des Grundgesetzes

Angeblich kennen die meisten aktiven Politiker die Artikel des Grundgesetzes, evident ist aber, dass alle Artikel des Grundgesetzes für jeden Bürger dieses Landes verbindlich sind.

Angefangen mit Artikel 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt", können wir in der Auslegung dieses Artikels angesichts der tatsächlichen Lage in ein schwerwiegendes Mißverständnis geraten.

Allein die beiden Sätze des Artikel 1 würden schon ausreichen, diesem Staat Gesetzesbruch vorwerfen zu können, wenn man nur täglich die Nachrichten sorgfältig verfolgt und Zeitungen liest. Auch die Lektüre der Bildzeitung wimmelt nur so von groben Verstößen des Grundgesetzes.

Aber es reicht nicht, einen Grundgesetz-Artikel zu zitieren, zu viele Interpretationsmöglichkeiten werden offen gelassen. Deshalb zitiere ich Artikel 2, der für mich und mein Leben besonderen Wert und besondere Aussagekraft besitzt und nach meiner Auffassung und aufgrund meiner Erfahrungen seit Jahren gebrochen wird:

"Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt."

Ich habe mich ein Leben lang mehr oder minder in meiner Arbeit entfalten können. Seit ich über 55 bin, wird mir die freie Entfaltung meiner Persönlichkeit verwehrt. Ein "unheimliches" Bündnis aus Politik, Arbeitsvermittlungsinstitutionen und Wirtschaftsunternehmen verweigert mir das Recht, meine über 30 Jahre gesammelten wertvollen Erfahrungen, meine fachliche Kompetenz und meine Berufsauffassung als innovativ denkender und handelnder Kreativer verweigert. Das betrifft alle Unternehmen und alle staatlichen Einrichtungen im gesamten Kommunikationsbereich.

... Ich schreibe seit über zwei Jahren Bewerbungen online und auch als postalische Vorstellung und bekomme nur Absagen, lediglich die Form der Absage differiert, manche bedauern es, einige lassen keinen Zweifel daran, dass ich mit meinen 57 Jahren zu alt bin, auch wenn es nicht so direkt ausgedrückt wird. Wenn ich die Zahl der Bewerbungen überblicke, werden es inzwischen weit über 500 sein, gleichgültig ob ich mich für eine feste Anstellung oder für eine Freelance-Arbeit beworben habe.

... Ich klage mein durch das Grundgesetz verbriefte Recht auf freie Entfaltung meiner Persönlichkeit ein. Ich fordere es ein, denn inzwischen geht es an meine Würde und inzwischen gelange ich gefährlich in die Nähe des von der Politik im Jahre 2006 entdeckten Prekariats, der so genannten Unterschicht.

... Kein anderes hoch industrialisiertes Land der Welt leistet es sich, gerade die erfahrenen, die kompetenten und handlungsfähigen Köpfe jenseits der 50-Jahre-Schallmauer so auszugrenzen. Kaum ein anderes Land versagt dermaßen in der Lohnpolitik, kaum ein anderes Land, das sich zudem stolz Exportweltmeister nennt, verheizt in unverantwortlicher Weise die jungen, intelligenten Menschen, die unsere Universitäten erfolgreich verlassen. Das Stichwort "Generation Praktikum" spricht Bände.

Es ist eine Schande, dass in all den Talkshowscharmützeln und Expertenrunden in den Medien wie im Bundestag nicht diejenigen zu Wort kommen, die tatsächlich betroffen sind, sondern immer nur diejenigen, die plötzlich Betroffenheit heucheln, wohl wissend, dass sie jahrelang den Kopf in den Sand gesteckt haben.
Berthold Brecht sagt, wer die Wahrheit nicht kennt, ist ein Dummkopf, wer die Wahrheit kennt und sie leugnet, ist ein Verbrecher. Das stimmte zu Lebzeiten Brechts wie jetzt und in Zukunft.

Wäre es nicht eine sinnvolle Idee, das Recht auf Arbeit für über 50jährige gesetzlich zu verankern, so dass bei all den hunderttausenden Stellenausschreibungen zumindest eine verbriefte Chance besteht, einen Arbeitsplatz zu bekommen.

Ich fordere im Rahmen des Artikel 2 des Grundgesetzes mein Recht auf freie Entfaltung ein. Und das Recht auf Arbeit als Funktion der freien Persönlichkeitsentfaltung, damit alle Betroffenen ihren Lebensunterhalt verdienen können und ihre Kinder so großziehen können, damit sie für die Zukunft keinerlei Angst haben zu brauchen.

Jeder Mensch sollte das tatsächliche Recht auf Arbeit verbrieft bekommen, denn in einer Demokratie wie der unsrigen und noch mehr in der viel beschworenen "Freien Marktwirtschaft", ist dies nicht nur Teil einer Lösung der anstehenden Zukunftsprobleme, sondern auch im Hinblick auf Artikel 2 sein gutes Recht auf Leben in einer demokratischen Ordnung.

Würde irgendjemand anzweifeln, dass Ulla Schmidt, Horst Seehofer, Wolfgang Schäuble, Kurt Beck, Franz Müntefering oder Brigitte Zypries wegen ihres Lebensalters nicht mehr fähig seien, Ihren Job gut und gewissenhaft auszuüben? Ganz zu schweigen von all den Vorstandsvorsitzenden und Unternehmensmanagern, die die wahre Macht innerhalb unserer Gesellschaftsordnung darstellen.
Sie alle werden auch nach ihrer Zeit als Diener des Staates oder als Lenker der Wirtschaft weiterhin aktiv in unserer Gesellschaft tätig sein, denn dafür sorgen sie schon selbst.

Heide Simonis ist nach dem Schiffbruch in Kiel bei Unicef eingestiegen, Gerhard Schröder mischt in der Wirtschaft kräftig und viele andere sitzen in den Gremien der unterschiedlichsten Wirtschaftsunternehmen. Viele andere sind in ihre Rechtsanwalts-kanzleien zurückgekehrt oder sie erfreuen sich einer gut alimentierten Pension, wovon der vielbeschworene "Otto Normalverbraucher" weit entfernt ist.

Wolfgang Neisser
Creative Director
Fotokünstler

Quelle: Mail an das Büro gg. Altersdiskriminierung

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